Sarg, auseinandergeschrieben

„Jeder Garten ist ein Grab“, sagt Emerson. Verstehst du, was er meint? Heute der volle Duft des Grüns beim Rasenmähen (eigentlich ja ein Grasmähen, um Rasen zu erzeugen) – und in dem kleinen Schuppen wächst durch die Ritzen überall der Giersch, ganz blassgelb, fast farblos, so lange war die Türe zu (der Sarg) und fiel kein Licht hinein. Wie im Treppenhaus (Sarg, durch den wir steigen) das struppige, bläulich-grün ausgebleichte (verblichene) Spanische Gras in seinen Friedhofstöpfen.

Schattenbanken und Luftreich

„Die Rückkehr der Schattenbanken“, hieß es im Radio, und ich fühlte mich bemüßigt – hatte die Muße –, anzuhalten, innezuhalten, auszusteigen und zurückzugehen zum Park. Ein Schattenbankangestellter wollte ich sein.

Wie das Gras, auf das die Mai-Juni-Vormittagssonne fällt, so grüne Augen hat das Tier und blickt unverwandt aus dem Fenster wie hinein in ein unsichtbar bevölkertes Luftreich.

SsssssSSSssss

Kleine Libellenmusik: sssssS …. ssSsSssss ….. SsssS …. ssssSsssSsssS …. SSSsssss …. ssssSsssSSSSs …. sssssSssss ….

Feine Stäubung

Der Vers von Robert Walser aus „Was fiel mir ein?“, der in Walter Kappachers „Der Fliegenpalast“ den alternden, an den Rand gedrängten Hofmannsthal dazu bringt, „alles hinschmeißen und weggehen“ zu wollen: „Wann ging die feine Stäubung / dem Schmetterling in mir verloren?“

So muss ich für meinen Sohn klingen, wenn ich am Kaffeetisch von Dichtung palavere: Gedudel der Doors.

Die flimmernden Lider nach den Stunden am Bildschirm – können es nicht fassen, wollen sich schließen, suchen nach Tränen, aber widerstehen (28.5.)

Drei Gespräche

Und auf einmal spricht dein Sohn mit dir über Eichendorff (25.5.).

„Schlimm wird es“, sagt die Frau auf der Straße, „wenn nicht mal mehr die Bauarbeiter dir hinterhersehen.“

Seltsames Eingeschnapptsein der Floristinnen, die alle – alle! – beleidigt sind oder tun, wenn einer sie bittet, noch etwas Rotes, Blaues oder Weißes in den gewünschten Strauß zu binden. Wo sie sich doch freuen sollten an der Farbsehnsucht des Blumenkäufers: „Ja, aber gern! Ihre Augen möchte ich haben … eine Gerbera fehlt!“

Jetzt, nicht mehr, bald wieder

Anrauschen, Rauschen, Verrauschen. Hör hin, wie Böen in die Bäume fahren, rasseln in den Sträuchern, pfeifen im kniehohen Gras, um die Firste, die Autostoßstangen: Der Wind singt seine Geschichte. Jetzt, nicht mehr, bald wieder. Der Ort, wo er war, klingt in ihm fort, der Wind hat ihn mitgenommen und trägt ihn dorthin, wo er gleich sein wird.

Gestern starb Sarah Kirsch. Heute starb Georges Moustaki. Morgen ist der 24. Mai 2013.

Die schöne Wehmut, zu warten auf den, der den ganzen Tag lang unterwegs war und gearbeitet hat, auch für dich.

Ein kopfloses Schaf

Eine Plakatwand, vor der die U-Bahn hält, wirbt für einen Mähroboter, einen selbsttätigen Rasenmäher ohne Schiebegestänge oder Kabel, der aussieht wie ein aus Plastik gefertigtes, kopfloses Schaf auf Rädern. Als die Bahn weiterfährt, versuche ich der Zukunft zu entfliehen und lese Walter Kappachers Debütroman „Morgen“ zu Ende, erschienen 1975, als ich zehn war und von meinem Vater unter Drescheandrohung regelmäßig zu Gartenarbeiten verdonnert wurde: „Ich war ohne einen Gedanken, und es war, als atme ich mit demselben Atemzug, mit dem die Bäume, Gräser und Steine atmeten.“

Kein Baum, kein Busch

Drüben unter den tropfenden Bäumen parkte ein kleiner grüner Lastwagen und sah im Regen aus wie ein Strauch. In der Kabine saß am geöffneten Seitenfenster der Fahrer und aß einen hellgrün leuchtenden Apfel. Ich beobachtete ihn, wollte sehen, wohin er den Apfelrest warf und wie er dann weiterfuhr, kauend vielleicht, vielleicht mit zufriedenem Gesicht. Doch dann sah ich, dass der Apfel gar kein Apfel war, sondern der hellgrün leuchtende Becherverschluss einer Thermosflasche. Und als der Laster davonfuhr, war er kein Baum, nicht mal ansatzweise ein Busch, sondern ein Lastwagen mit einem Fahrer, der im Regen eine kleine Pause eingelegt hatte (21.5.).

„Klopf an,
bevor du ins Freie trittst.“
(Ulrich Koch)

Ein Umzug und ein Streit

Der bevorstehende Umzug in die etwas dunklere Wohnung: „Wir waren mit Licht beschenkt.“

„Meine Hände streiten sich“, sagt das Kind – und führt es vor mit seinen Händen (Planten un Blomen, 20.5.).

Inseln

Wenn es stimmt, was John Donne in seiner siebzehnten Meditation sagt, nämlich dass niemand eine Insel sei, keiner ganz bloß er selbst, sondern jeder ein Teil des Kontinents, genauso aber Teil der hohen See – heißt das im Umkehrschluss, dass es Inseln gar nicht gibt? Dass daher, frage ich mich, eine Insel keine Persönlichkeit besitzt? „Der Tod eines jeden verringert mich“, schreibt Donne, „denn ich bin eingebunden in die Menschheit. Frag du dich deshalb nie, für wen die Totenglocke läutet – deinetwegen läutet sie.“

An den Bahnhöfen, im Freien, auf den Plätzen, an den Kiosks, warum siehst du dort so viele Versehrte, Rollstuhlfahrer, Einbeinige an Krücken, Krüppel? Weil es von dort fortgeht? Weil dort, noch immer, der Aufbruch möglich ist, ungehindert? (Ohlsdorf, 19.5.)

Die schnellen Fische

Im Juni grüne Wogen im Holunder, die im Park zusammenschlugen, die Tropfen eine Regenflut im Funkeln neuerlicher Sonne, und die Vogelmusik so nah wie fern. Das Spechtgetrommel. Dass ich stehenblieb und rot wurde, so sehr schämte ich mich für mein Besserwissen.

Die Pfingsttrompeten!

Und abends die schnellen Fische: Fledermäuse, gaukelnd durch die Brandung der mit Wasser vollgesogenen Luft.

„Wir können nicht mit Gewissheit sprechen, weder über Eisvögel noch über Nachtigallen.“ (Lukian)

Der Sommerwind

„… musst du ins Licht investieren …“, sagt ein Vorübergehender in sein Telefon.

Der Sommerwind blättert mir die Seiten um, und das Buch antwortet, es raschelt. „Lies!“, sagen die beiden.

Der im Wind rauschende, hin und her gepeitschte, über dem Windmeer wogende Rote Flieder.

Arbeiten

Neunzehn Jahre lang, von 1866 bis 1885, war ich Zollinspektor im Hafen von New York, genauso lang wie Herman Melville an drei, später zwei Tagen die Woche in Hamburg als Fernsehprogrammredaktionsangestellter arbeitete, von September 1994 bis Juni 2013. Nein, verkehrt. Es war andersherum! Nein, andersherum! Es war verkehrt.

Vor dem U-Bahnhofportal kniet ein junger Arbeiter auf einer am Boden liegenden Uhr, deren Sekundenzeiger rennt, und schraubt und schraubt mit seinem Schraubenzieher in ihrer Seite wie in einem Ohr. Und über den Bahnsteig, im Kreis, wirbeln im Morgenwind Eschenblütenblätter (14. Mai 2013).

Zuwucherungsversuche

Den Blicken des Kindes zu folgen, wenn es durch die sommerlichen Straßen fährt, durch die es vor Jahren (an deiner Hand) zur Schule ging – lebendige Erinnerung. Und deine Traurigkeit, deine Trauer, erlischt (10.5., auf der Uhlenhorst).

Die Tangopolizei!

Das Kartoffelkartell!

Im Mai die schönen Hohlwege, die zu den Bahngleisen hinunterlaufen, voller Blüten, mannigfaltig grüner Blätter, mit Tieren, die dort stehen und warten, bis mein Zug vorübergerast ist. Die Hohlwege entlang der aufgegebenen Rangiergleisareale und Lokomotivschuppen, begehbare Zuwucherungsversuche (Berlin-Spandau, 12.5.).

Ein Muster

Wie das Licht durch die Blätter fällt. Wie die Schatten ins Licht ragen. Wie Licht und Schatten zusammenspielen. Schattenlicht, Lichtschatten. Die Zweige. Die Blätter. Der leichte, der lichte Wind. Woran bin ich, bei diesem Anblick, woran erinnert? Gibt es etwas, außer mir, das meinen Blick erinnert? Ein Muster. Welches? Bin ich ein Teil von einem Muster, ein Musterteil? Ein Musterschatten, Musterlicht, Musterwind, Musterblatt.

Ein Zwillingstag

Der Tag war morgens kühl, erwärmte sich rasch, war mittags sommerlich und wurde nachmittags zum Regen-, zum Unwettertag, ehe abends noch einmal die Wärme zurückkehrte, ein rosiges Licht, ein stiller Abend im Nieseln. Und der Tag darauf – genau gleich, nicht derselbe, doch, wenn es das gibt, ein Zwillingstag.

„Ich muss das Gras nähen“, versprach sie sich.

Vor drei Tagen, in der Trockenheit des Maisonnentags, sah ich eine verendete Weinbergschnecke, deren Schleimspur die Steinplatten der Stufen hinaufführte, wo aber auch bloß steinerne Wände und Zementboden waren: kein Ausweg aus der sengenden Sonne. Heute Morgen wachte ich auf und sah im Spiegel, aus den Augenwinkeln führte mir der Schleimspurschimmer zweier Schnecken über die Schläfen (9.5.).

Durch den 360. Stock

„Wie alt ist eigentlich die älteste Blume geworden?“, fragt das Kind im schweren Regen (7. Mai).

Die Augenglanzbestimmung!

Mit dem Fahrstuhl hinauf durchs erste, zweite, dritte und vierte Geschoss, weiter durch die fünfte Etage und hinauf, immer weiter durch die sechste, die sechzehnte, sechzigste, hundert-, dreihundertsechzigste und schon unsichtbare. Im aus der Haut gefahreren Aufzug durchbrechen ins Freie: Lift ins Licht.

Das Pendlerbesteck!

Das Salettl

Der erste Satz, den der ältere Dichter sagt, als ich ihn um einen Beitrag zur Trakl-Anthologie bitte: „Ich lehne alles ab.“

Die Ideenbörse!

Die Zukunftswerkstatt!

Die Psychohygiene!

Der Strategieworkshop!

Die Ehrgeizlosigkeit!

Ein Unwetter in Nauen

Später sagt der Dichter: „Das Gartenhaus der Trakls, das Salettl, wissen Sie, wer das entdeckt hat? Ich.“

Die Lahn

Im Frühsommerlicht, bei leichtem Wind, an der schönen grünen Lahn entlang. Unter den Bäumen strömt der Fluss vorbei, Enten, knapp überm Wasser, folgen hastig den Biegungen und Geraden des Flusslaufs, und am Ufer weiden Kühe, und selbst das sandige Schwemmmuster an einem Böschungshang erscheint bedeutsam (Marburg, 5. Mai).

Aus den Notizen zu einem Selbstbildnis

Haare aufsammeln, schimmernde, rotbraun und silbern
aus Ordnungswut, einer Liebe, einer Angst
um alles was von dir stirbt zu bewahren
vorm Hygienewahn der Hinfälligkeit

Romantik pur Novalis pur Bekümmerung na klar
Bahndammschotter und Wacholderdrossel
Gras Tod Nein Ja, wennschon, dennschon pur
Zweifel Verlorenheit Aufbegehren ganz und gar

Zu Tränen gerührt von rauschenden Eschen
knospenden Hecken an Eisenbahnergärten
ich mit meinen Besserwisserallüren
und innigen Wünschen für jeden Dreck

Die Toten gaukeln, die Lebenden träumen
tags also bin ich gestorben und lebe nachts
oder träume mich gaukelnd durch die Jahre
wie Wochen, ein Sommer, Sommernachmittag

In den Gärten

Die Wunderlandnahme!

In den Gärten die gelben Bälle der Forsythiensträucher: stummer, still im kühl und leichten Wind stehender Vogelgesang. Singen dann die Amseln, blüht die Luft.

Das Heimwehkrankenhaus!

Möglichkeiten

Der Park, ein freundlicher Ort.

Die Möglichkeit, das Grün von den Bäumen zu kratzen – nicht gegeben. Es geht ein leises Gefühl durch alle Anwesenheit: meine Liebe zu den Farben. Zu dir in diesem Licht. Zum Ausdruck in deinen Augen: Seele ist Park.

Der Park, ein freundschaftlicher Ort.

Versuch’s

Versuch’s: Geh mit dem Licht die Böschung hinauf. Was du da oben findest, und wärst es du selbst, für den Augenblick gehört es dir. Eigentümlich sein – das ist ja das Herrlichste! Hier zu den Bäumen gehen, irgendwie selber, gehender, Baum. Unter einer grünen Krone steht immer mindestens einer. Vielleicht wenn du regnen könntest, würde die Rotbuche auf dich warten. Doch wenn du achtgibst, dann staunt sie. Und gibt dir das Gefühl, unerwartet zu sein.

Wie das Wildentenpaar durch die Straßenschlucht fliegt, hinein in den Park: wild. Als wären wir nur da, um Angst zu machen vor uns. Als gäb es uns gar nicht (29.4.).

Alles herausposaunend

Die Ulme weiß alles und erzählt nichts. Und ebenso weiß sie nichts und erzählt alles. Während ich hier vor der Ulme stehe und alles weiß und alles herausposaune, nichts erzählend, wissend nichts. Die Ulme. Der Baum. Das Grün.

Tier aus Schatten

Zwischen den Büschen und Sträuchern saß oft am späten Nachmittag das Tier aus Schatten: schwarze Katze mit schwarzen Augen. Verscheuchen ließ es sich nur vom lautlosen Licht. Das schlich sich an im Hellen. Das verbarg sich hinter sich selbst.

Der Park – aus Licht und Schatten, aus Bäumen und Gras, ein Gemälde, in das ich hineingehen und das ich wieder verlassen kann. Um es zu betrachten von jenseits des Zauns.

Die Gedächtnisküste

Je weiter du unter die Bäume hineingehst, umso näher kommst du dem Meer. Dort warten die Vögel, die weite Schattensee, das Wogen der Wipfel. Komm, übers Gras! Fahr hinaus, in dein Gedächtnis.
Jochen Hein. Nordsee
Ich ging unter den Bäumen hindurch und fühlte an den Knöcheln und Schienbeinen bis zu den Knien das Gras. Ich dachte an das Mädchen und glaubte, ja, dass es Miriam gewesen war, an den Augenblick dachte ich wieder, als sie hinter mir herging, ich mich umdrehte und sie im selben Moment sagte: „Geh. Warum bin ich eigentlich mit dir hier?“ Wie wir später in der Sonne lagen. Ihre Haut. Wie die Wärme dieselbe war auf ihren Armen und auf den Halmen, wo mit den Schatten  kleine schwarz und grün schillernde Fliegen wanderten.

© Bild: Jochen Hein, „Nordsee“, Acryl auf Jute, 2003

Ineinsgewoben

Die Sonne
an dem Sommertag
die Schatten
eines Schattentags
Tag und Nacht in einem
übereinandergelegt
ineinsgewoben
und so auch mein Blick
auf mich, auf dich
schattiger
lichtdurchschossener
Erinnerungspark.

„Ich will mir das Ohr durchstechen“, sagt das Kind. – „Und wieso?“ – „Weil es schön ist.“ – „Und wo?“ – „Im Diamantenladen!“

Beschatten. Belichten

Und die großen alten Bäume, die hier standen, als die großen alten Bäume, die jetzt hier stehen, winzig waren, fingerhoch, noch Setzlinge, Tännlinge, Lindlinge, nur der Duft, war der Duft nicht schon immer nicht der gleiche, sondern derselbe? Du, der Duft!

Die Schattenmorellen. Die Lichtmorellen.
Schattierung. Lichtung.
Das Schattenkabinett. Das Lichtkabinett.
Erblickte den Schatten der Welt.
Lichtdasein.
Beschatten. Belichten.

Was dich berührt

Hier stand ich als Kind. Da ist noch der alte Brunnen. Meine Augen ruhten darauf, und ich blickte hinunter mit dem Licht, bis es sich zerstreute im Übergangsschatten und im Schwarzen verlor. Dann ging ich, und ich nahm den Brunnen mit, das zerfasernde Licht, das Einschwärzen, die glucksende Nacht. Und blicke an meinem Rand stehend hinunter.

Tagelang kannst du mit bestimmten Sätzen leben. Sie stehen dir vor Augen, wie Bäume. Sie klingen in den Ohren, wie Melodien, Stücke von Melodien. Du scheinst sie anfassen zu können – während nur sie es sind, die dich berühren (25.4.).