Das grüne, grüne Gras

Ein einziger Schritt: vom Asphalt auf das dick mit Erdreich belegte Wurzelwerk eines alten Baums am Straßenrand – und der Boden federt nach, schwingt leicht, sodass es durch und durch geht. Augenblicklich denke ich an Büchners Woyzeck, die zweite Szene FREIES FELD, DIE STADT IN DER FERNE. Woyzeck und Andres schneiden Stecken im Gebüsch: Während Andres singt, „Saßen dort zwei Hasen, / Fraßen ab das grüne, grüne Gras / Bis auf den Rasen“, peinigt Woyzeck eine Vorstellung, die Unwirklichkeit: „Es geht hinter mir, unter mir“, sagt er und stampft auf den Boden: „Hohl, hörst du? alles hohl da unten! Die Freimaurer!“ Es liegt ein Haus für ihn da unten unter der Erde, falsch herum vielleicht sogar, nach freiem Sinn, ganz unverständlich, so verkehrt herum gemauert von den Freimaurern, wie er sich verkehrt herum fühlt in der Welt der Festmaurer (6.1.).

Das Problem, noch immer

Ein schmales Licht fliegt durch die Nacht – und du: kannst es nicht aufhalten. DAS ist dein Problem: Du kannst es nicht aufhalten, nicht mal sagen, weshalb du es aufhalten zu müssen glaubst (5.1.).

Das Problem

Das „Problem“, sagt Handke immer wieder, heiße übersetzt (aus dem Griechischen) das Vorgebirge. Das Problem zu erkennen, hieße demnach zu erkennen, dass es lediglich Vor-Problem ist? Ein Problem wovor? Vorgebirge vor welchen Bergen?

Nackter Januar, wo hast du deinen Schneeanzug?

Die Rascheljacke!

Eine Antwort

Du musst in den Nischen bleiben
und alles rings im Licht sehen
– zwischen die Zeilen schreiben
und unhörbare Klänge verstehen

Was sucht das Tier hinter dem Glasrahmen? Das Foto darin zeigt ein Hochzeitspaar. Es sitzt, im Sonnenschein, vor einem Strauch, auf einer Bank. Das Tier stellt sich auf die Hinterläufe, scharrt am Rahmen und drückt die Nase gegen das Glas. Sieht es das Paar, das Sonnenlicht, den Strauch oder die Bank? Das Tier will doch nicht hineinspringen in ein Schwarzweißfoto! Sieht das Tier in schwarzweiß? Liebt es, sich zu spiegeln? Das Tier sucht – eine Antwort. Dieselbe wie du, wenn du rätselst, was es da treibt? (4.1.)

Warum, Tier, hast du keine Angst vor dem Wind?

Zweiter Januar, und du bist schon
mitten im Jahr, nur verwundert,
wie dunkel der Nachmittag war.
Kein Wunder, wenn du staunst,
wie plötzlich etwas loslegt und
abrupt abbricht, zu Ende, kaum
dass es so unmerklich begann.
Sitz da, bleib stehen. Blick
dich um: Kein Wunder außer
dem langen Weg hierher, den
alles von Anfang auf sich nahm.
Der Baumreihe im Dunkel, Rehen,
dem Weg um den Teich, Kindern,
die nach Böllern suchen im Gras
und mit Glück etwas anderes finden,
allem sind sie eingeschrieben, auch
dir: neuer Neubeginn erster Januar,
erste Januarnacht und Tag danach.

2013

Keine bisherige Jahreszahl kam mir derart unwirklich vor: 2013 (sodass ich kürzlich schon 1913 schrieb). Liegt es an einer Art Zeitverankerung, und falls ja, wo wäre die meine? Ich denke (begann eigenständig zu denken), Ende der Siebziger. Könnte ich nach 35 Jahren demnach die Grenze meiner Wirklichkeitsvorstellung überschritten haben? Und: Ist sie kreisförmig? Denn ähnlich verhält es sich ja rückwärts in der Zeit: Gerade noch vorstellbar sind mir die späten Vierziger, davor ist nur grauenhaft offenes Meer (1. Januar 13).

Blind (noch immer)

Kinski in LondonWerbeslogan: Wir erschaffen Sichtbarkeit (Creating Visibility) – das Gegenteil stimmt. Würden sie doch wenigstens für Unsichtbarkeit sorgen: Creating Invisibility! Stattdessen zerstören sie das Sichtbare: Destroying Visibility. (Vor keinem Film hatte mein Sohn früher größere Angst als vor den „Toten Augen von London“ – zu recht.)

Die Chrysanthemenfontäne!

Bild: Klaus Kinski als Edgar Strauss in „Die toten Augen von London“, Rialto Film, 1961

Der Zug durchquert die Halle

Ein zeitloses Erlebnis: Durch den sonntäglich ruhigen Hauptbahnhof rattert ohne anzuhalten ein schmutziger Personenzug. Aus zahlreichen offen stehenden Waggonfenstern gröhlen junge Männer, johlen Schlachtgesänge, zünden Böller und werfen sie auf den leeren Bahnsteig. Der Zug durchquert die Halle. Staunen, Beklemmung, Unverständnis stehen auf den Gesichtern der Wartenden, aber auch Amüsiertheit, Freude, Stolz auf den absurden Augenblick (30.12.).

Zehn Tiere unter dem Bett

Traum, in der Nacht, ich sollte unter dem Bett zehn Tiere freilassen. Acht bewegten sich nicht, eins erst in der Dämmerung (meine Hand als große Spinne), erst das letzte kroch auf das Bett, wälzte sich dort hin und her und war schließlich ich (28.12.).

Nachtangst

Nachts, im Traum, war ich ein Haustier. Wessen?

Taniguchi.Nacht Eine halbe Nacht lang läuft Jouji Uenohara durch die Vorstadt von Okinawa, lauscht und schaut, stellt sich Leute vor, wie sie schlafen, träumen, schlafen. Jiro Taniguchis Zeichnungen heben in „Goya mitten in der Nacht“ die Lebendigkeit aus der Nacht, die Ruhe des Dunkels im Dunkel wird (nach-)fühlbar. – Wie furchtbar, die Nachtangst! Heute Nachmittag abgeschlossen: „Nie mehr Nacht“ (27. Dezember 2012).

Bild aus: Masayuki Kusumi (Text), Jiro Taniguchi (Zeichnungen), „Der geheime Garten vom Nakano Broadway“, © Carlsen Comics, Hamburg 2012. Mit Dank von Herzen an Gerald Koll

Ende des Spiels

Auffällig, ja ärgerlich, wie oft George Steiner irrt, nein Unsinn verzapft, weil er sich hinreißen lässt von grammatikalischen Pointen, elliptischen Aperçus, dem Stakkato seines Gedankenhammerklaviers: Kant! Leibniz! Rimbaud! Sartre! Frege! Die Ideen verhärtet, werden aus Menschen(-empfindungen) (Sprach-)Figuren. Ende des Spiels – das Beispiel: „Nichts übertrifft, ,eines Freundes Freund zu sein‘ (Schillers jauchzende Wendung). Der Tod ist fast ein Privileg, wenn er einen Freund rettet. Umgekehrt ist der Verlust eines Freundes irreparabel (man kann wieder heiraten, ein Kind adoptieren).“

Blick voraus

„Ich hab Mathematik in den Fingern“ – lächelnd zählt er an seinen Handknöcheln die Monate ab, ganz so, als gehöre das kommende Jahr ihm (25.12.).

So tief der Schmerz auch sitzt, so schmerzhaft es ist – egal. Gleich gültig ist im selben Moment schon der Augenblick danach, wenn der Schmerz nachlässt. Der Schmerznachlass – weit mehr als bloß Schmerzlosigkeit.

„Blick zurück im Zorn“ (vor lauter Angst) – blick voraus mit Gleichmut („Hab keine Angst“).

Ein warmes Omen

Ein Heiigabend mit lindem Frühlingswind, fünfzehn Grad warm, sodass der Schnee der letzten Tage nicht schmolz, sondern in Nebeln verdunstete. In älteren Zeiten ein Omen (fürs Zweite Kommen des Erlösers), heute nur beängstigende Bestätigung für den (Klima-)Wandel (24.12.).

Keine Gäste, keine Lieder

Ja, das bin ich: ein Bestattungswesen (schon immer gewesen).

An kein einziges Weihnachtsfest ihrer Kindheit kann meine Mutter sich erinnern – an keine Gäste, keine Tafel, keine Lieder, keinen Baum, keine Geschenke: 1946 bis 1957. Mir geht es genauso (obwohl es zig Fotografien von diesen elf Heiligen Abenden gibt): 1965 bis 1975.

Die Fallkonferenz!

Lesbarkeit

George Steiner über die Lesbarkeit des Blitzes („Wenn der Blitz spricht, sagt er Dunkelheit“):Blitz „Alle Formen und Codes, organische oder konstruierte, können Information vermitteln, können Emotion auslösen. Unsere bloße Existenz ist ein kontinuierliches Lesen der Welt, eine Entzifferungs-, eine Interpretationsübung in einer Echokammer, deren Volumen an Botschaften, an semiotischem Input unvergleichlich ist. Doch dies ist nicht unbedingt mit Verständlichkeit verbunden. Es gewährleistet mit seinem Potential und Ertrag nicht unbedingt Sinn.“ Vergleiche damit Coleridge über Wordsworth (mal runterscrollen: „An Inexhaustible Treasure“), aber auch Celans „Sprachgitter“, wo das Auge nicht einfach liest, sondern, zweifach, zudem gelesen wird: „Am Lichtsinn / errätst du die Seele“.

Aus: George Steiner, „Fragmente (leicht verkohlt)“
Sinn und Form 6/2012. Aus dem Englischen von Heide Lipecky

Sternbild

Der in der hohlen Faust die Zigarette entzündet, blickt in sein erleuchtetes Herz, der sieht das Blut davonwirbeln als Rauch.

„Konstellation“ – das Sternbild, an der Schädeldecke.

An Inexhaustible Treasure

Die Stärke von Wordsworths Poesie liegt nach Coleridge in der Kraft, mit der sie „die Aufmerksamkeit aufweckt aus der Lethargie der Gewohnheit und hinlenkt zur Schönheit und den Wundern der Welt vor uns – ein unerschöpflicher Schatz, für den wir infolge des Films von allzu Vertrautem und selbstsüchtiger Bekümmerung zwar Augen haben, die aber nicht sehen, Ohren, die nicht hören, und Herzen, die weder fühlen noch verstehen.“

Wie das geht

Während der anderthalbstündigen Anamnese immer wieder das Gefühl und daraus der Gedanke: Das bin doch gar nicht ich! Einmal mehr deutlich die Unmöglichkeit sich mitzuteilen – sich zu übermitteln. Zurückgeworfen aufs Vergessen, wie das geht, wie das alles zusammenpasst: Amnesie bei Anamnese (Hoheluft, 21.12.).

Flamme

Ein Teppich aus Plastik, groß wie Mitteleuropa, treibt auf dem Atlantik. Der Müllkontinent.

Adveniat – endlich wird es auch für mich Weihnachten. Flamme, die die Angst verbrennt. Ich höre Rubinstein Mozart spielen. Ich blicke meinen Freunden ins mit jedem Schmerz gleichmütigere Gesicht (20.12.).

Die Gedächtnisambulanz!

Die Taube

„Da tanzt er! Und zu mir sagte er, er wäre tot.“

In der Bäckerei am Fleet ist die Verkäuferin außer sich: Eine große graue Taube sitzt zwischen den Broten in dem menschenleeren Geschäft – menschenleer, weil auch die junge Frau lange nicht mehr weiß, was sie ist. Und die Taube? (19.12.)

Das Blumengymnasium!

Vergeblich ist die Pracht des Himmels

Noch mal, noch immer Wordsworth: „Vain is the glory of the sky, / The beauty vain of field and grove / Unless, while with admiring eye / We gaze, we also learn to love“ – das Lebensgefühl der Zeit in Marxen, der Keats-Jahre 1989 – 95.

Vor der Großbaustelle, einer im Abriss befindlichen Kaufhauszeile mitten im Zentrum, bleibt er stehen und zitiert mir einen Helden: „,Was sind schon die großen Architekten verglichen mit den großen Zerstörern‘, sagt Donald Duck.“ (Hamburg, Rödingsmarkt, 18.12.)

Lebendig getragen

Warum sehen wollen, wo sich das Tier versteckt? Glaub doch, dass es dich beobachtet, die ganze Zeit, da du nach ihm suchst.

Ja, das bin ich: der von morgens bis abends zwischen Hemden, Jacken, Hosen und Reißverschlüssen in seiner Änderungsschneiderei sitzende Alte mit dem silbernen Schnauzbart (17.12.).

Für William Wordsworth, den Erstaunten, ist die Poesie die Wahrheit, die „durch Leidenschaft lebendig ins Herz getragen wird“ – „carried alive into the heart by passion“.

Zwischen Hut und Schal

„Zwischen Hut und Schal“, sagt die Hutmacherin, „sollte das Verhältnis von Anfang an geklärt sein. Ein Schal muss wissen, wo es langgeht.“

Leb mit einem Tier zusammen, und du kannst nicht länger verdrängen, wie furchteinflößend deine Augen sein müssen (16.12.).

Das Zimmer und das Tier

Nirgends war das Tier zu sehen, nicht im Schrank, unter keinem der Schränke, Stühle, Tische. Das Tier saß nicht hinter dem Vorhang am Fenster. Es war vollkommen ruhig in dem Raum, in dem ich mich ratlos nach dem Tier umsah. Es saß auf dem Schrank. Mit großen schwarzen Augen blickte es mich an. Es war rätselhaft, wie es dort hinaufgelangt war. Dort, das Zimmer, es war nicht mehr nur Zimmer (15.12.).

Vermessen, Vermissen

In seinem „Versuch über den Stillen Ort“ erwähnt Peter Handke eine Inschrift im Giebeldreieck eines alten Hauses in Griechenland: „Aeï ho theós geométrei“ – und übersetzt: „Der Gott, beständig geometert er (= vermißt er die Erde).“ – „Immer vermisst der Gott die Erde“ übersetze ich und glaube, auch wenn man die Doppeldeutigkeit im Griechischen nicht vermisst, so ist sie bestimmt im Sinn des Vermessenden.

Die dunklen Schwestern

In der Dunkelheit stapfen zwei dick eingemummte Frauen durch den Schnee in den Ort hinauf. Sie gehen gleich schnell und wirken, wie da jede der beiden auf ihrer Straßenseite dahinschlurft, als wären sie Schwestern, zerstrittene Geschwister. Die Eine scheint in ein Handy zu sprechen, mit einem Mal nämlich fragt sie: „Und du trägst alles den Berg rauf?“ Aber es ist die Andere, ihre dunkle Schwester, die antwortet: „Es ist so schöne Luft.“ (12.12.12.)

Die Auslegeware

Zwei Arbeiter setzen eine Art Saugmagnetenbügel auf dem Redaktionsflur auf und heben damit die Auslegeware an: Darunter kommt ein Kabelschacht zum Vorschein, hautfarben rosige, zu armdicken Strängen gebündelte Kabel verlaufen unter dem Filz. Tipp du die Wörter in die Tastatur, in den Rechner, tausend am Tag. Du fütterst eine Maschine – und dachtest immer, du hilfst Leuten, sich zu entscheiden.