Der Junge, der Kritiker, der Alte

Der Junge ruft über die Straße einem anderen etwas zu, der aber fährt ungerührt mit dem Rad weiter. „Er hat dasselbe Rad, denselben Helm, dieselben Schuhe“, sagt der rufende Junge zu einem Freund, „und trotzdem ist er es nicht.“

Der Kritiker neben mir auf dem Podium hat die Frisur und Haarfarbe meines Großvaters. Ich kann ihm gar nicht zuhören, ohne ihm ins Haar greifen und es streicheln zu wollen, wie ich es zuletzt vor 39 Jahren, im Sommer 1974, als ich neun war, bei meinem Opa gemacht habe.

Der Alte öffnet mit einer Münze die Zentralverriegelung der viergeteilten Müllbehälterbox und entnimmt ihr so viermal schneller (ohne aufgegriffen, ohne des Bahnsteigs und des Hauptbahnhofs verwiesen zu werden) die gesuchten Pfandflaschen.

The entertainment of tears

Gegen den Kummer verwahren wir uns, wehren uns mit Händen und Füßen – richtig so! Mit Händen und Füßen, das heißt treten, boxen, aufspringen, rennen, zetern, Schreie. Weiterleben! Doch mich verschließen vor der Traurigkeit will ich nicht. „Welcome joy, and welcome sorrow“, sagt Keats. Der Kummer ist die Kehrseite. Die Traurigkeit lässt uns ausruhen: im Ernst. Unterhaltsame Tränen? Vergnügliche Verzweiflung? Der Tag ist nur die halbe Wahrheit (Neustadt in Holstein, 18.9.).

Im Schlepp

Hafen, Herbstsonne. Auf der Elbe stromabwärts stampft die „MT Rob“, ein in Valetta auf Malta beheimateter Schlepper, feuerrot, bullig, ein Ungetüm an Kraft und Sorglosigkeit. Und der „Rob“ hinterdrein stürzen hunderte Möwen, angelockt vom aus der Tiefe aufgewirbelten Wasser. Fisch! Krabben! Muscheln! Alles hat die „Rob“ im Schlepp, und, wie herrlich, mein Hamburch, deshalb ist sie ja ein Schlepper (Övelgönne, 16.9.).

„Dark Folk“ – düstere Folklore. Als wäre nicht alle Folklore düster. „Bright Folk“!

In der vergangenen Nacht wurde das Wrack der vor Giglio gekenterten „Costa Concordia“ aufgerichtet. 600 Tage lang lag die Steuerbordseite dutzende Meter tief unter Wasser. Verheert, farblos, schlicküberzogen ragt sie in den blauen Morgen. Hunderte zerstörte Kabinen. Die irgendwo im Kolossinnern verschollenen Toten. Das Wrack soll wintersturmfest gemacht werden, ehe man es im kommenden Frühjahr zur Verschrottung schleppt. Abringen dem hässlichen Tod sollte man die „Costa Concordia“, wirklich eine Küste, eine wirkliche Küste erobern. Aufmöbeln würde ich sie, koste es, was es wolle.

Zähl sie weg

Du mit deiner Shortlist-Nominierung. Und das heißt? What of that? Ecke Bundesallee / Augsburger Straße die Gestalten auf den Betonpollern, mit Bier, mit dem trüben Funkeln im Blick – bleib bei ihnen. Mit dem, was du kannst. Zähl sie weg, und du zählst dich weg. Lass dich ruhig auslachen von zwei im Kaufhauseingang sitzenden Mädchen, wenn du in deinem Trenchcoat vorbeieilst, irgendwo hin – sie haben recht (Berlin, 13.9.).

„Lächeln Sie“, sagt der Fotograf, „nicht mit dem Mund, den Lippen – lächeln Sie nur mit den Augen.“

Die Leserin erzählt von ihrem Vater, der im Sommer 1944 in Frankreich von Partisanen festgenommen wurde und mit drei Wehrmachtkameraden am Straßenrand erschossen werden sollte, zwischen einem Kübelwagen und seinem Motorrad. Er war Motorradmechaniker. Einer der jungen Partisanen aber weigerte sich, die Hinrichtung durchzuführen – und überzeugte seine Mitstreiter, die Deutschen stattdessen zu verhaften. Zwei Jahre lang, erzählt die Leserin, lebte ihr Vater daraufhin als Mechaniker in dem Dorf. Er starb vor zehn Jahren. Vor zwei Jahren habe sie einen Brief von dem früheren Partisanen bekommen. Der alte Mann schrieb, er wolle vor seinem Tod noch einmal bekräftigen, es sei die einzig richtige Entscheidung gewesen.

Zwei Tauben aus Sibirien

Déjà l’automne. Schon wieder Herbst. Gelbe Zweigspitzen an plötzlich ratlosen Bäumen. Werft die Äpfel ins Gras. Unter dem Wolkenmeer. Im strömenden Regen geht ein kleiner Junge vorbei, im Arm einen Geigenkasten, um den er seine Sommerjacke gewickelt hat. Die Liebe. Die sprechenden Bilder. Abschied. Von einem prächtigen Sommer.

In dem tropfnassen Baum vorm Fenster sitzen keine zwei Meter entfernt zwei aufgeplusterte Tauben und lassen sich nicht stören, weder durch die Nähe von mir Menschen noch meinen Zigarettenrauch. Sie blicken mich an, als hätten sie mich erwartet und würden mir erzählen wollen von einer langen Reise, und mir kommt es vor, als wäre ich zwei Stunden lang durch den Regen gefahren, nur um sie hier vorzufinden, zwei Tauben, vielleicht aus Sibirien, in einem Baum, im Regen, im Baum des Regens (Versmold, 10.9.).

Einsam ich

„Gemeinsam erfolgreich“ – Wahlslogan der Christdemokraten, zynisch und verlogen. „Einsam reich“ haben Graffitisprayer auf den Plakaten im Viertel davon übriggelassen. Doch um das verfluchte Geld geht es gar nicht. Die Verheerung greift viel tiefer, sie ist umfassend: „Einsam ich“.

Eine Auseinandersetzung mit dem neuen Roman – seinen Mängeln, Tiefen, Untiefen, seinem Erzählen, Verschweigen, Verschütten, den Figuren, dem Krieg, der Angst – findet kaum statt. Wie viel flexibler das Radio gegenüber den Feuilletons. Und jedes Minutengespräch nach einer Lesung, jedes noch so oberflächliche Interview verrät mehr über verbleibende Möglichkeiten zu Austausch und Vermittlung. Es ist der gute Weg. Wo der Einzelne wartet, da geh hin (5.9.).

Noch ist es nicht dunkel, aber lange dauert’s nicht mehr. (Dylan)

Wandspruch (Berlin): „Wenn ich du wär, wär ich lieber ich“. Ich, ich, ich: Wär ich ich, ich wär lieber du!

Die Zeit davor, die danach und die hindurch

Zwei Tage lang in der Ruhe – der von Musik erfüllten Ruhe – des Klosters inmitten von Feldern. Stille in der Sonne, Spazieren im Gezirp der Grillen unter Zwetschgenbäumen hin. Noch Tage später, im Hauptstadttrubel, im Festivaltaumel, hast du, wie einen inneren Schutzwall, warm von der darauffallenden Sonne, die Ruhe in dir.

Ein freundlicher Schrank mit zwei traurigen Augen, der Türsteher des Klubs, in dem ich am Abend lese. Am nächsten Morgen ist er tot, niedergeschossen, verblutet. Zu mir sagte er zuletzt: „Sie werden den Weg finden.“

„Es gibt eine Zeit. Und eine danach“, schreibt Horst Bienek. Aber es gibt auch eine Zeit davor, eine daneben, und ja, sogar eine Zeit durch alle Zeit hindurch gibt es.

Das Lesefest

Gestrandet in Würzburg – am Bahnhofsquader aus Glas und Zement die große Uhr, ohne Zeiger. Eine Straßenbahn rumpelt über den Vorplatz, an ihrer Seitenwand lese ich: „Energie. Verkehr. Umwelt.“ Plakate, vor denen und auf denen Jugendliche mit Smarthones die Zeit totschlagen, Werbung für ein „Freiwilliges Jahr“ – wo? Energie. Verkehr. Unterwelt.

Das Lesefest unter den Bäumen im Schlossgarten – eine Tautologie. Statt über Mikrofon die Stille zu vertreiben, hätten wir in den Kastanien lesen, lieber zuhören sollen, wie der Wind durch den Park geht. Fünfhundert, die zuhören, nichts Besonderem lauschen: Event der Eschen (Erlangen, 2.9.).

Geträumt?

Die Applausordnung!

„Der Stiefvogel“, ruft das Kind, „da sitzt der Stiefvogel!“

„Sie hat dich verlassen“, erklärt die Regisseurin dem Sänger dessen Rolle. „Du stehst da und singst – wie bestellt und nicht abgeholt.“ – „Ich werde singen“, sagt der Sänger, „singen wie nicht bestellt und nicht abgeholt.“

Zeitungsmeldung (geträumt?): „Heute in Berlin: Agonie.“

Die Erdungsstange?

Zwitschern, Segeln, Pausieren

Gestern Nacht ist Wolfgang Herrndorf gestorben, 48-jährig, drei Tage jünger als ich. Die Medien berichten, er habe sich aufgrund seines unheilbaren Hirntumors das Leben genommen, habe sich erschossen am Berliner Hohenzollernkanal. Seinen „Tschick“ haben unsere halbstarken Kinder gelesen – „krass“, „cool“, „derbe“, „korrekt“ – Dein Lob, Wolfgang Herrndorf, aus berufenem Mund. Hab’s gut! (Hamburg, 27. August 2013)

Während der Ensemble-Probe im Klosterpavillon, das Raunen der Musiker und Sänger, die Geräusche ihrer pausierenden Instrumente. Während der Ensemble-Probe das Raunen der Elektriker und Beleuchter, die Töne und Klangfolgen ihrer Werkzeuge. Während der Probe, der wilde Schwarm aus Mauerseglern und Schwalben, flitzt hin und her überm Klosterpavillon. Zwitschern, Segeln, Pausieren. Sie sehen alles, nehmen an allem teil.

„Wer nicht hört, fühlt“, sagt die Großmutter zu dem kleinen Jungen, nimmt ihm den Stock weg und führt ihn auf das Kiesbett unter einen Baum, wo sie das Kind stehenlässt. Der Junge versteckt sich hinter dem Stamm (mächtig gewordener Stock), „Du bist böse“, ruft er der alten Frau zu. Er hört, er fühlt. Er lacht (Volkenroda, 30.8.).

Flips und Fuchs

„Wie wäre es wohl“, fragt das Kind, „wenn die ganze Luft überall nach Erdnussflips riechen würde?“

Hinter einem Zaun an der Ausfallstraße versteckt sich ein Junge mit einem rotbraunen jungen Schäferhundmischling, der aussieht wie ein großer zahmer Fuchs. Wovor verstecken sich die beiden? Was für ein seltsames Spiel mit so wachen Augen (26.8.).

Ein feuchter Duft

Das Meckel-Divertikel-Dilemma?

„Ein feuchter Duft lag in der Luft, ein Duft von moderndem Laub, von dem trägen, gelben Fluß, der nicht weit entfernt dahinfloß, ein Duft, der ihm fast vorkam wie der feuchte Duft der Zeit selbst, wenn sie durch die Welt zog. Oder war es die Welt, die durch die Zeit zog?“ (Gustafsson)

Der Freund im dunklen Krankenbett, als ich das Licht lösche, lernt Hölderlins „In lieblicher Bläue“ auswendig.

Fliesen

„Er hätte es durchaus vorgezogen, nicht zu existieren, als zu existieren. Wenn ihn jemand nach seiner Meinung gefragt hätte.“ (Lars Gustafsson, „Nachmittag eines Fliesenlegers“)

„Umarmung!“ – „Sei du auch umarmt!“ – „Also umarmen wir einander!“ – „Fortwährend!“ – „Immer!“ – „Ja.“ – „Ja!“

„Alles war Welt, und nichts in dieser Welt war wirklich das Seine.“ (Gustafsson)

Ein tönendes Licht

„Ich habe immer das Meer an den Stränden geliebt. Und dann hat der Kramladen an den menschenleeren Stränden meiner Jugend zu blühen begonnen. Jetzt liebe ich nur noch die Mitte der Meere, dort, wo das Vorhandensein von Ufern unwahrscheinlich erscheint. Aber eines Tages, an den Stränden Brasiliens, habe ich von neuem erkannt, daß es für mich keine größere Freude gibt, als über einen unberührten Strand zu gehen, auf der Suche nach einem tönenden, vom Zischen der Wogen erfüllten Licht.“ (Camus, Tagebuch, 1953)