Psychogeografie

In einem Zeitungsartikel über David Bowies Berliner Jahre spricht der Autor von „Psychogeografie, also Erinnerung“, und mir fliegt vom spitzen Kopf der Hut. Sehr erstaunlich. Seelenerdkunde? Wäre die Rede von Psychohistorie gewesen, hätte ich weniger gestutzt. Das Gemüt in seiner Geschichte: Gedächtnis. Das Gemüt beim Versuch, sein Gedächtnis zu erkunden: Erinnerung. Auch der Begriff „Psychogeografie“ scheint mir ein Hinweis zu sein für die um sich greifenden Versuche, dem Äußerlichkeitszwang nachzukommen: dein Gemüt als Navigationsgerät, Erinnerungs-Navi für dein „Life on Mars“.

Die Fußsohlengesellschaft.
Die Schienbeingesellschaft.
Die Kniescheibengesellschaft.
Die Schambeingesellschaft.
Die Bauchnabelgesellschaft.
Die Lungenflügelgesellschaft.
Die Herzklappengesellschaft.
Die Ellenbogengesellschaft.
Die Gaumensegelgesellschaft.
Die Augenlidergesellschaft.
Die Haarwurzelgesellschaft.
Die Ohrläppchengesellschaft.
Die Oberarmgesellschaft.
Die Fingerkuppengesellschaft.

Hundert Jahre, ein Tag

Ist nicht jeder so eine alte Pracht – und deshalb so verlassen in seiner Geschichte und heruntergekommen, versunken in sich selbst wie das schöne alte einsame Nancy? Nachts auf der leeren und funkelnd erleuchteten Place Stanislas toben ein blondes Mädchen und ein Junge mit langen schwarzen Haaren durchs Dunkel und sind kleine Fürsten in diesen Augenblicken. Eine Frau erzählt, nachdem ihr Mann sie verlassen habe für eine Jüngere, wolle sie endlich ein Buch über ihre Familie schreiben, seit vier Generationen Konditoren. Ich erkenne vieles wieder hier, auch wenn ich niemanden hier kenne. Aber wo kennst du schon jemanden. Alain-Fournier wird oft durch die Straßen gegangen sein, hindurch unter den Wasserspeiern des Palais du Duc. Hundert Jahre, ein Tag. Ich grüße Dich von Herzen, lieber Freund, liebe Freundin im Jahr 2114: Er war schön, der heutige Tag. Im Café Excelsior schienen alle noch zu sitzen und zu plaudern, die je hier waren. Unsere Unterhaltung ein Raunen – es gibt Räume, in denen sind nicht die Toten die Gespenster, sondern du und ich. (Nancy, 25.2.)

Nordbahnhof, Ostbahnhof

So zugewandt und gegenüber allem offen die Pariser, auch die Deutschen in Paris sind, so vergeblich und zu nichts nutze muss das erscheinen, was du ihnen zeigst, was du dich darzustellen erdreistest. (Trocadéro, 24.2.)

Im Sommer 1982, der Nachtzug, den ich in Köln nahm und der über Mons bis Paris fuhr, endete er wirklich, wie ich im Roman schrieb, weil das mein Glaube war, am Gare de l’Est? Glaubhaft versicherten mir jetzt schon einige, auch seinerzeit endete der Nachtzug aus Köln am Gare du Nord. Gab es dort damals vielleicht Bauarbeiten? Heute in und vor beiden keinen Kilometer voneinander entfernten Bahnhöfen gewesen – erinnerte mich weder an den einen noch den anderen. Die Eiffelturmbesichtigung, ein Café an der Seine, eine Métrotreppe, dann die Satellitenstadthochhäuser von Plaisir – c’est tout. Nordbahnhof, Ostbahnhof, an einem von beiden kam ich vor 32 Jahren frühmorgens in Paris an. Die Erinnerung muss sich gabeln, zwei Möglichkeiten muss sie wachhalten und damit sich selber lebendig. (Montmartre, 26.2.)

Ein Kind

„Heute ist der erste Tag der Tage, die dir zu leben bleiben.“ Jörg Steiner, „Schnee bis in die Niederungen“

Drüben im Nachbarhaus klingt eine Bohrmaschine wie ein kreischendes Kind. Ist es eine Bohrmaschine? Ein Kind wird durch die Wand gedrillt.

Wegweiser und Verheerung

Gib dich nicht (länger) dem Irrglauben hin, Schreiben, Lesen, Erzählen und Erzähltbekommen würden den Leuten nichts (mehr) bedeuten. In den hintersten Winkeln, auf dem plattesten Land, wo das Meer lauert, ob das aus Wasser oder das aus Schnee – sie kommen doch zusammen, hören zu, besinnen sich und fangen selber an zu schildern. Es gibt die Verheerungen des Stumpfsinns, allenthalben, manifest werden sie aber erst durch die Unfähigkeit, die anderen für fähig zu halten: fähig zu allem Möglichen. (Wilster, 18.2.)

Wegweiser, mitten in der Stadt: Landesamt für Landwirtschaft und ländliche Räume. (Flensburg, 19.2.)

Inbild, Sinnbild

„… sich das Leben genommen“ – zum ersten Mal geht dir auf, dass hiermit gar nicht der mutwillige oder freiwillige Abbruch der eigenen Lebendigkeit gemeint ist. Der sich das Leben nimmt, beendet nicht, was war, sondern beschließt den Austritt aus aller bestehenden und künftigen Möglichkeit. Sich das Leben zu nehmen heißt (soll heißen), sich aller Erdenklichkeit zu berauben. Sich umbringen: sich um alles Mögliche bringen. (14.2.)

Autowracks auf freiem Feld: Inbild, Sinnbild für deine Erinnerungen

Sah gestern und sah heute je einem Eichhörnchen zu, in zwei weit voneinander entfernten Baumgärten. Beide Tiere auf der Suche, beide braun, das eine, heute, jedoch mit grauer Brust, grauem Bauch. Das gestrige breitbeinig davonhoppelnd, Kaninchen mit Schweif, das heute flinker, vogelverwandt vielleicht, springend von Busch zu Baum. Ihre Klopf-, ihre Nagegeräusche! Die wachen, zugleich versonnen scheinenden Blicke-in-die-Runde. Das jähe Auftauchen, wie aus dem Nichts materialisiertes Eichhörnchen, dann verblüffend langes Bleiben, jähes Verschwinden, wie Eichhörnchen, plötzlich weg. Das schöne Rotbraun: Bäume, auf die Abendsonne fällt. (17.2.)

Lautsprecher

Müsste ich mich entscheiden zwischen Weiterschreiben und Weiterstaunen, ich würde nicht zögern. Oder doch: Zögern ist ja Staunen, wenn auch nach innen. (7.2.)

„Die Erdfortziehungskraft“ Martin Piekar

„Hast du Lust, dir meine ferngesteuerte Schlange anzusehen?“, fragt ein kleiner Junge aus der dritten Klasse. Ein junger Student an der Technischen Universität ist dabei, als dort ein Roboter von der Größe eines Kindes getestet wird. Der junge Mann erzählt, er habe das nicht zu unterdrückende Bedürfnis verspürt, den Roboter zu begrüßen, als er vor ihm stand, ihm die Hand zu geben oder wenigstens zuzunicken. (10.2.)

„Es ist keine Schande, am Zeitgeist zu scheitern.“ Anna Mitgutsch

Über den morgendlichen Bahnsteig hallt deutlich die Lautsprecheransage: „Einfährt der Intercity nach Australien.“

Aufkleber

„Ich lebe, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir“ steht auf dem Aufkleber, mit dem ein junger Mann seinen Laptop versehen hat. Ist damit der Computer gemeint? Armer Irrer, wenn nicht.

Als junge Frau habe sich ihre Tochter, eine Konzertpianistin, das Leben genommen, erzählt die Dame, und ihre Augen lächeln, als sie fragt: „Sie kennen Schuberts Streichquintett in C-Dur nicht? Oh, da beneide ich Sie, das noch entdecken zu können. Schuberts Streichquintett in C-Dur, wissen Sie, es gibt nur weniges, das schöner ist auf der Welt.“

„Auch die Hellseher tappen im Dunkeln.“ Volker Schlöndorff

Das Gespenst Verehrung

An einem Ort, in einem Raum zu lesen, wo auch Améry, Celan, Bachmann und viele mehr lasen, deren Bücher und Leben mich schon lange begleiten – Ehrfurcht überfällt mich, ein den Brustkorb einschnürendes Glücksgefühl: das noch immer durch und durch berechtigte Zurückschrecken vor dem Gespenst Verehrung. (Frankfurt-Seckbach, Buchhändlerschule, 3.2.)

Die Schillerparfümerie!

Das verbretterte „Karussell am Schlüsselesee“, der Eiskeller, die Orangerie, das nachgebaute, halb verfallene Aquädukt, nachgebaut in seinem Verfall, die Porzellanmanufaktur, die Großvoliere, in der ein einzelner trauriger Storch umherstakst – das riesige Schloss ist nur eine steinerne Puppenstube. (Ludwigsburg, 4.2.)

Eine Übereinandersetzung

Das Palimpsestartige an einer Neuübersetzung wie der von Stevensons „Jekyll and Hyde“: Ich stehe im ständigen Austausch mit Thesing, Rambach, Mummendey, Draber, Breitkreutz und namenlosen anderen Übersetzern, aber auch mit Nabokov, der die Novelle auf eigene Weise deutet. Weit davon entfernt, das Original tatsächlich zu übersetzen, d. h. in Korrespondenz zu treten allein mit Robert Louis Stevensons Text, wird aus der Übertragung eine Übereinandersetzung. Wie Gespenster geistern die früheren, teils 90 Jahre alte Sätze und Ansätze durch die Zeilen. Und seltsam: Schreibst du nicht immer so? Buuuh! Wer schriebe anders? (30.1.)