Die kurze Zeit der Unterschiede

Morgen werde ich über Abu Dhabi nach Melbourne fliegen, in den südaustralischen Frühherbst. Ein zu allem bereites Grün auf den Wiesen, im Hamburger Gras. Die Leute im Freien – freie Leute. In der Luft hängt der Holzrauchgeruch der Osterfeuer, und die Farbe der Nacht schwankt zwischen Tiefblau und Lila, beinahe Purpur. „Kein Kind mehr wach. Kein Vogel im Himmel“, schreibt Peter Handke in „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“. „Dafür war dort eine Wolke, eine grauweiße große Haufenwolke, am oberen Rand vielfach gebuckelt, die langsam nach Osten zog, wie auf Wallfahrt; als wallfahrtete sie. Es hätte auch nach Westen sein können, und es hätte auch am Morgen sein können.“ Was das Wetter in der Poesie ist, vollzieht sich ab diesem „Dafür“. Auf, nach Australien, meinetwegen!

Auf, nach Australien, meinetwegen – was für einen Unterschied macht es? Die kurze Zeit der Unterschiede ist vorbei. Auf Unterschiede kommt es nicht mehr an. (20.4.)

Zwei Wörter, die eine Welt öffnen, wenn auch, ja, eine kindliche, wunderbare, wundersame, als das Kind fragt: „Träumen Schnecken?“ Und du lachst. Die einzige Antwort, die du noch hast und die angemessen ist.

Der Gesang in den Hecken

Unten im Garten steht einer der Fensterbauer und telefoniert. Die Sonne scheint, die Vögel singen, durchs Haus hallt das Gehämmer, und er sagt: „Heute Morgen habe ich ihnen mein Blut gegeben, das muss reichen für sie, mehr kriegen sie nicht von mir. Mein Blut, das sagt ja alles von mir, und was es nicht sagt, das geht sie nichts an.“

Berlioz‘ Symphonie phantastique in der Hamburger Laeiszhalle, dirigiert von dem erst blassen, dann leidenschaftlich steuernden, korrigierenden, die Traurigkeit tanzenden Ion Marin: Hundert Musiker auf der Bühne, Harfenisten, Pauker, Fagottbläser, Beckenschläger, der reinste Bienenstock, Bienen ohnehin die Cellisten, Kontrabassisten, Bratschisten und Geiger. Aber das Erstaunlichste an der ganzen ungestüm(-traurig)en Maschinerie ist doch der Eindruck, dass diese Vielfalt einen Einzelnen, sein Fühlen und Denken, sein Grübeln, Sichgehenlassen, neue Kraft Schöpfen und erneutes Versinken im Gram, die Nuancierungen seines Gemüts darstellt – die zeitlose Kraft des Kummers. (15.4.)

Am Morgen, sagt das Kind, habe es nicht mehr schlafen können, denn das Fenster sei ja offen gewesen. „Alle Vögel sind zurückgekommen und haben in den Hecken, die am Haus hochwachsen, miteinander geredet und laut Musik gemacht.“

Die Blumento-Pferde

Vom Bahnhof Glattfelden aus lief ich anderthalb Stunden lang an der Glatt entlang bis hinein ins Dorf des Grünen Heinrich, las Kellers Verse und Sätze auf den Tafeln am Wegrand, hörte dem Bäumerauschen zu, sah im Fluss die Wasserpest, fand alles schön, ging, lief, sank durch die Zeit und zurück in meine. Wo ist der Ausweg aus dem Augenblick? Vielleicht wirklich im Maß – hinzugehen durch lauter schöne Sonne, unterm Grün, in einer geliebten Geschichte, und dann heimzukehren in dein Leben wie von einer Reise in die Fremde. Aber sicher ist das nicht. Und darf es auch nicht sein. (Singen, 11.4.)

„Die Blumento-Pferde“, sagt das Kind ernst, „hast du die schon mal gesehen?“, und wie es da lacht, das Kind, und ich mit, weil ich sie sehe, in diesem Augenblick sehe ich sie vor mir, die Pferde, die Blumento-Pferde.

Das Wunderbare an Lars Gustafsson: dass er das Entscheidende unterzuheben versteht. So schreibt er über den verwirrenden Eindruck von Unwirklichkeit, den eine Lesung sowohl beim Autor wie beim Zuhörer hinterlassen kann: „Natürlich entsteht eine interessante Spannung, wenn wir zum ersten Mal eine authentische Lesung eines Dichters hören, den wir nur von unserer eigenen Interpretation her kennen.“ Das Entscheidende: „Die Lesung besitzt die Autorität des Dichters, aber in unserer eigenen Lesung verbirgt sich eine andere Autorität, die nicht unerheblich ist.“ (Lars Gustafsson und Agneta Blomquist, „Alles was man braucht. Ein Handbuch für das Leben“, deutsch von Verena Reichel)

Manchmal fliegst du weit weg – mitten aus dem Tag.

Applaus für den Nachtwind

„Höchste Zeit, die Sterne neu anzuzünden.“ Appolinaire

„Es ist heiß hier“, schreibt das Kind, „jeden Tag schwitze ich mir einen Ast.“

„Sie sind also der Autor.“ – „Bin ich. Und Sie sind der Leser.“

„Sie sind also der Autor.“ – „Bin ich. Aber nicht der Ihres Lebens.“

„Sie sind also der Autor.“ – „Jedenfalls bin ich einer. Ich bin ein Autor.“

„Sie sind also der Autor.“ – „Nein, der Wind, der schwarze Nachtwind bin ich.“

Vor der Lesung im Theatersaal der Schule klettern Schüler durchs Fenster herein und wieder hinaus in den sonnigen Vormittag. Während der Lesung gebannte Aufmerksamkeit, zweifelndes Staunen, Lauschen. Nach der Lesung Jubel, freies Lachen, der schönste Applaus. (Grimmelshausen-Gymnasium, Offenburg, 9.4.)

Zwischen Untereinöden und Überruh

Vorsicht! Dachlawinen! Zwischen Untereinöden und Überruh, kann auch sein bei Oberholzleute, kurz nach dem Spitalhof: Schnee auf einem Oberallgäuer Talhang. Und wie Zahnstocher stecken in den Hangauffahrten hinauf zu den aufgeräumten Höfen noch immer die Schneestangen. Hier sind wir auf alles Mögliche vorbereitet. (Isny, 6.4.)

Mit welcher Behändigkeit – es ist eine Zärtlichkeit – die großen Krähen den Turm umflattern, um im richtigen Augenblick in die leere Schießscharte zu tauchen, in der sie wohnen, nisten, schlafen, sich wohlfühlen, sich wohl fühlen: Sie schackern weder noch krächzen sie, sondern singen.

In dem gelben Bus durch die von Löwenzahn und Butterblumenschwemme gelben Wiesen das Allgäu zwischen Isny und Röthenbach. Innigkeit wird zu Erinnerung, und umgekehrt. So fuhr ich im Postbus von der Schule in Tölz heim nach Waakirchen vor beinahe vierzig Jahren. Wie seinerzeit mich und uns kennt auch hier der Busfahrer jedes Kind, hat einen besonderen Satz, ein Sesam-öffne-dich für jedes und verteilt beim Aussteigen Süßigkeiten nach Wahl. Ein kleines Mädchen stolpert über den hellblauen Plastikeimer zu Füßen des Fahrers. „Du bist auch so eine Randaliererin, Annamaria!“ (Röthenbach, 7.4.)

Versteinern und Bestaunen

Ist das Gedicht vielleicht wirklich unerheblich? Ja – solange das Dichterische anderweitig, in anderer Weite, Weise und Form fortlebt, zu leben neu anhebt.

Pension Himmel Fremden Zimmer (5.4., Kassel)

Unter dem Tisch liegen zwei dicke Bände Born: Nicolas Born Gedichte, Nicolas Born Briefe 1959 – 1979. Je ein schönes Foto von Born, wie er spazierengeht, auf den Buchumschlägen. Meine Briefe, denke ich, wird niemand sammeln können, irgendwann drückt irgendwer in Kuala Lumpur eine Taste, und sie sind gelöscht. Ich nehme Borns Gedichte zur Hand und schlage das geliebte letzte auf, „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“, und lese mitten in den Kasseler Bergen: „Die Ruhe auf dem Lande ist oft stille Wut“ … „Wenn Sie die beiden Bände haben möchten, nehmen Sie sie mit“, sagt der freundliche Veranstalter, „die kauft hier eh keiner.“ Sie sind signiert, sehe ich, von Borns Tochter Katharina, der Herausgeberin, die sie hier vorstellte, vor fünf Jahren. „So übermütig will ich versteinern und / bestaunt werden“. (Schauenburg, 6.4.)

Some Notes Before Going To Wagga Wagga

„Wir haben unsere freien Tage“, sagt ein junger Mann im Bus zu einem Freund. Er erzählt von seinem ersten Lehrjahr. „Aber manchmal muss man halt auch Sklave sein.“

Den Buchtitel „Abschied“ habe sie ablehnen müssen, erzählt die junge Lektorin. Verlagsleitung und Verlagsvertreter würden den Begriff als wenig verkaufsfördernd einschätzen, und so habe sie Abschied davon genommen.

Hotel Sonne, Hauptstraße. Endlich wohnst du in der Sonne. Die Sonne, wusstest du das nicht schon immer, die Sonne ist ein Hotel.

Jetzt geht es sehr schnell – Australien, Van Diemens Land. Bald, in drei Wochen, fliegst du über Wagga Wagga.

„… damals waren die Bilder stumm in ihn gesunken, die Fühllosigkeit hatte schon unmerklich begonnen. Wie anders, bei aller Ähnlichkeit, war es jetzt. Jedes Bild belebte ihn. So wie er durch die nächtliche Stadt ging, ging er durch seine eigene Verwandlung.“ Reinhard Kaiser-Mühlecker, „Schwarzer Flieder“

Vor lauter Lärmschutzwänden hörte man die Stille nicht.