Glück der Welt

Die Fehmaraner Wolken, die Sternbilder, die Stille.

Mit dieser Stille bist du allein – und begegnest darin dir selber wieder als Kind, der Junge, der hier zum ersten Mal das Glück der Welt angestaunt hat.

Die schlafende Frau, gelehnt an den Stein in der Sonne, den Kopf in der Armbeuge – schläft gar nicht, telefoniert. (Flügger Strand, 20.7.)

Drei Tage braucht der Mähdrescher, um das große Rapsfeld abzusäbeln und in schwarzes Puder zu verwandeln. Alle Wellen, die die Stürme der letzten Wochen dort hineinmodelliert haben, sind danach nur noch Stoppeln bis zum Horizont. Nachts bleiben die Maschinen und die Puderanhänger der Traktoren auf den Feldern stehen. (Sulsdorf, 22.7.)

20 Seemeilen weit ist der Petersdorfer Kirchturm zu sehen.

Denn hier ging Jimi … Die schmalen, kurvenreichen Wege durch die Felder, den Weizen, das Schilf, hin zur Küste, an den Steinstrand, lieblich, sanft, wahrlich „sweet“, und wie seltsam die Vorstellung, dass auch Hendrix hier war. And the wind cries Jimi.

Gespensternachwuchs

Im Freibad die beiden Kinder, die sich unterhalten, ohne miteinander zu reden, indem sie sich zuturnen. Der Junge schlägt Räder, das Mädchen macht Flic-Flacs, nur füreinander und sich selber. In sicherem Abstand staunend, mit vorsichtigem Stolz. Erst als sie erschöpft sind, kommen sie ins Gespräch. Und turnen dann gemeinsam durch den Sommernachmittag. (Farmsen, 12.7.)

„Sensation“, sagt das Kind, „kommt das von Sense?“

Immer wieder gibt es Kinder, die stehen auf einmal neben dir wie in Sekundenbruchteilen aus dem Erdboden gewachsen. Junge Geister … Gespensternachwuchs. Oder ist das eine kindliche Eigenart, Kinderart?

„Es gibt auch Stechmöwen“, sagt das Kind.

Entwischen

Erinnerung anhand (wie sonst?) einer arabischen Münze, die einer Zwei-Euro-Münze zum Verwechseln ähnelt („Weg damit“, heißt es im Laden): Der seinerzeit beste Freund und ich, wir brachten uns im Sommer vor 34 Jahren beutelweise Five-Pence-Münzen aus England mit, weil jede davon genauso schwer und groß war wie eine Mark. Was aber haben wir damit gemacht? Wir rauchten nicht und tranken nicht. Wir müssen versessen aufs Füttern von Automaten gewesen sein.

„Du solltest nicht auf mich bauen“, sagt er zu ihr. „Ich rutsche weg. Ich versinke. Schlage Haken. Entwische. Lande, fliege, schwirre ab in einem. Bin da. Bin dort. Bin weg. Bin immer bei dir und nie.“ — „Immernie? Das bricht mir das Herz“, sagt sie und lacht. Und er: „Ich brech dir dein Herz, und ich brech mir mein Herz. Ich sollte nicht auf mich bauen.“

„Strahlenparade“, sagt sie und meint damit das Lächeln-comme-il-faut allem und jedem gegenüber. Doch wer sie vor sich hat und wer ihr Lächeln sieht und sein Verschwinden, weiß, es stimmt, schon immer war es so, ja: Strahlenparade!

Jeden Abend Gewitter. Die abendlichen, die Abendgewitter. (9.7.)

Entwischen – in den Sommer. Entwischen – an die Luft. Entwischen. Hinein ins Licht!

Schuhsuppe

„4 Tage reichen. Es war unvergesslich.“ Wandspruch

Eine alte Frau an der Supermarktkasse lässt eine Schale Blaubeeren fallen. Die Beeren springen auf und nieder und rollen in alle Richtungen davon, während Frau und Kassiererin dem zerspringenden blauen Schauspiel regungslos zusehen. „Ihr macht mich hilflos“, sagt die Alte zu den Beeren.

Ja, manchmal kann ich Gedanken lesen, manchmal sogar meine eigenen.

Die Seidenakazie – streich durch die Blätterfächer über dir im hellgrünen Licht, und du streichelst ein Tier, das im Wind steht und Baum zu sein hat. Die Fächer der Akazie erzählen von ihrem Geschlecht, dem Haus Akazie und dessen Geschichte und Geschichten. (Aboretum Ellerhoop, 5.7.)

„Da stehen Sie ganz allein vor der Suppe“, sagt die wie aus dem Nichts materialisiert plötzlich auftauchende Schuhverkäuferin zu mir, weil ich Schuhe kaufen will und vor dem Schuhregal stehe. – „Sie meinen, vor der Schuhsuppe?“ – „Ja!“, lacht sie. „Auslöffeln! Die Schuhsuppe!“

Klappentext

Frankfurt, Münchener Straße. Alles unter einem Dach: Buchhandlung, Verlag, Bestattungen, Versicherungen, Veranstaltungen, Reisen. Mein Geschäft! (27.6.)

Besonders sonderbares, seltsam wundersames Buch, Michael Donhausers „Variationen in Prosa Variationen im März“. Noch nirgends sonst habe ich einen Klappentext gelesen, der beinahe augenblicklich selber Prosagedicht wird und so zur klingenden Einladung und Begrüßung: „Variierend, das heißt auch schillernd oder in sich von sich abweichend und abweichend so von allem Eigenen wie Anderen, denn was weicht, ist nicht oder entweicht der Fassbarkeit als Dieses oder Fremdes und bleibt, bleibt in sich außer sich, da es zu sich nicht findet außer in der Bewegung, der wechselnden wie von Blättern, als wären Blätter es, die blieben, selbst sinkend, und alles Variieren so ein Verlieren, doch zögernd zwischen einem Noch und einem Nicht und einem Dann und einem Schon, dass hörte, was da hört, als ein Schimmern in Silben ein Sagen ohnegleichen.“

„Innehalten, das zugleich ein atemanhaltendes Hinausschauen war.“ Peter Handke

Mit dem gleichen Blick, der gleichen Miene, mit der er aus dem Fenster sah, las er Zeitung, las er in der Zeitung nach.

„Filmstar werden! In Ihrer Buchhandlung vor Ort.“

Verbeugung vor einer Tasse

„… und da bin ich in das Buch eingestiegen“ – an der Buchhaltestelle? Und wohin fuhr das Buch denn? Was hast du gesehen, wenn du mal rausgeguckt hast aus dem Buch? War es teuer, mit dem Buch unterwegs zu sein? Warst du allein in dem Buch, oder waren da andere wie du, oder sogar viele? Und wann bist du ausgestiegen?

Auf dem Waschbeckenrand, die blassrote Seifenschale mit Henkel, auf einmal sehe ich, das ist meine alte Taxifahrerkaffeetasse, fünf Jahre lang, vor zwanzig zuletzt, trank ich daraus meine immer abgestandene, immer lauere und kühlere Nachtschichtkaffeeplörre. Jeden Kilometer hat sie mitgemacht, 250 Lüneburger Wochenendnächte. Hier steht sie jetzt, Seifenschale aus Plastik, praktisch, weil unzerbrechlich, leicht zu säubern (weiß ich). Ich spüre sie an den Lippen, in der Hand, an den Fingerkuppen. Und sehe es noch leicht schwappen auf ihrem Grund, in einer dunklen Straße vor einem dunklen Zaun.

Im Zug erzählt eine Frau, die starkes Nasenbluten hat, ihrer Sitznachbarin, dass es ihr so ergehe, seit sie ein Mädchen war. „Es stürzt mir aus dem Kopf, unerfindlich, warum, nicht aufzuhalten.“ Sie habe sich daran gewöhnt. Es sei ein Teil von ihr. „Das rote Innenleben, das alle sehen können.“ Sie ist blass. Ihre Augen glänzen. (Hannover, 25.6.)

„Es war eine wilde Trauer; ein Widerstand, wo jeder Widerstand zwecklos war, und umso unbedingter.“ Peter Handke

Endstation Robinson

Die beiden symmetrischen, sichtbar synchron entstandenen kreisrunden blauen Flecken auf den Oberarmen der jungen Frau in der Métro kenne ich genau: Die hatte ich jahrelang selber. Einer hält dich dort fest und drückt mit seinen Daumenkuppen zu, so kräftig er oder sie kann, rechts und links gleichzeitig. Damit du nicht wegkommst.

Im Labyrinth der Métrostationen ein Andrang, der einen um den Verstand bringt, wenn man nicht jede zweite Sekunde zu Boden blickt. Schreiende Werbung überall, in der die Bilder verbraucht werden. Kauf mich! Kauf mich! Überall, überall. Erbarmen! Zwei ältere Damen halfen dem Kind und mir, den Weg zu finden, eine erbarmte sich an der Bastille, eine andere an der Gare du Nord. Kilometerlange Schlangen vor allem, sobald es mit dem schmalsten Namen werben kann. Vier Stunden Wartezeit mittags vor den Katakomben. Der Eiffelturm eingekesselt. Das Lächeln der Mona Lisa so wie dein eigenes, das aber ohne Bestand ist: hinter Panzerglas und zwanzig Reihen Touristen, die sich nicht Leonardos Gemälde angucken, sondern Fotos machen, um ja keine Anwesenheit mit Sinn zu füllen. Montmartre, eine einzige Marter. Alls wäre das ganze Viertel abgetragen, Stein für Stein nach China verfrachtet und dort wieder aufgebaut worden. Foto, Foto, Foto. Bildermüll, Bildermüll. Müll in jedem Winkel. Gestank im Supermarkt. Unfassbar Fassade – wir verfallen bombastisch. Endstation Robinson. Und der allgemeine Wucher hält den Rest draußen: Sollen sie doch verkommen in Montreuil. (Paris, Marais, 22.6.)

Schund und Schande

Prachtvoller Tag (Tag voller Pracht): Sah am Kreisel oben im Dorf ein jugendliches Liebespaar, rot, steif, unschuldig, unbeweglich, wie zwei junge Kraniche. Hörte unentwegt Musik, Musik, Musik. Blickte Tauben nach, die aufstoben aus einer junigrünen Baumkrone. Dachte zurück, vergeblich, aber immerhin, an den Sommer 1981, den einen Kuss in ein bemaltes Gesicht, der alle die Jahre angedauert hat. (17.6.)

„Wer kann der Jugend schon ins Herz blicken außer der Jugend selbst.“ Patti Smith

Scheiß auf die Politik. Scheiß auf den ganzen widerlichen Lügenschund. Drauf geschissen.

„Lange haben mich die Uhren krank gemacht. Tun es jetzt nicht mehr.“ Lars Gustafsson

Wolken, die der Wind antreibt, darunter umherkreuzende Schwalben, und rauschende Baumwipfel – was, im Ernst!, gibt es Schöneres? Juni. Nichts als Ärger, Sorgen, Schmerzen, Tränen. Es ist eine Schande. (19.6.)

Die Schatten der Erdbeerpflücker

Nie im Leben bin ich erster Klasse gereist, weder im Zug noch in der Luft oder auf einem Schiff. Ich sah auch nie den Sinn darin! Verlache alle, die ihre Existenz aufgewertet sehen im Statusdünkel – verachte dann leider auch bisweilen die sich für Bessere halten: Ausnahmeerscheinungen. In der Wiener Albertina stand ich einmal in der Warteschlange der Egon Schiele-Ausstellung, als sich eine Frau im Nerz (leblos) und ein aufgeblasenes Sackgesicht an allen vorbeidrängten. Eine Wienerin hinter mir zischte kalt (es war Sommer): „Mit da Peitschen nach hinten schlagen sollt‘ man sie.“ Ich möchte immer unter den Leuten sein, in ihrer Buntheit, der mein Inneres so entspricht. Nur möglichst ungestört möchte ich sein, ein Beobachter, ein unsichtbarer bunter Hund. (Wien, 11.6.)

Eine brüllende Hitze. Fliegen, unbeweglich schimmernd, unbeweglich sterbend auf der Fensterbank. Die langsamen Leute. Der Dunstspiegel über der Burggasse.

Der Dichter K. M. erzählt von seinem Ferienhaus bei Bellinzona. Abends ging er in den Ort und fand das einzige Lokal wegen Regenwetter geschlossen. Im Garten saß der triefnasse Koch. Er bereitete dem Dichter einen Teller Pasta zu, brachte ihm kühlen Wein, ging dann heim. Und K. M. saß im Garten des Lokals in einer Laube und las dort meinen „Traklpark“. Eine innige Begegnung sei das gewesen.

Als Hochstapler fühle er sich immer öfter, sagt der befreundete Dichter nach der dritten Lesung, zu der eine Handvoll Zuhörer kommen, als Hochstapler in desolater Gemütsverfassung, müde, alt, mit einem Körper voller böser Schmerzen. (Innsbruck, 13.6.)

Die Schönheit der Obstgärten: das dunkle Grün und das helle, die Bäume und das Gras, im freien Spiel.

Auf einem Acker Krähen, genauso viele, genauso gemach und genauso erpicht wie auf dem Nachbarfeld die Erdbeerpflücker, nur ganz schwarz – die Schatten der Erdbeerpflücker. (München, 14.6.)