Herbst auf Rhodos (6): Der Feigenbaum

Plastikmeer Überall der Müll des Sommers, auf jeder Böschung eine Plastikpracht. Weggeschmissen, plattgetreten, liegengelassen und vergessen die Verpackung des mal Dagewesenen, nur nie Zurückgekehrten, Flaschen in allen Farben, rostzerfressene Dosen, verwaschen eine Tasche oder zerrissen ein Koffer. Am Straßenrand seit Jahren abgestellte Autos, Wracks, halb ausgeschlachtet, halb verfallen, eingekackt, beschmiert, verölt. Du gehst in die Hocke, als dir auf dem Asphalt etwas Helles ins Auge fällt, und blickst ein Götterpüppchen an, das nur einen halben Kopf und keinen Körper mehr hat, aber auf den Lippen Aphrodites Lächeln. Im vertrockneten Gras liegen in Schichten übereinander die Überreste dessen, was nicht hineinzustopfen war in die Felsspalten und Nischen der Mauern und Wände aus wieder und wieder, wieder und wieder verbauten Steinen. In Bäumen gekappte Leitungen, Kabelgezweig. Am Strand eine Zahnbürstenflut, Schaum aus Verschlüssen und Beuteln, Kappen und Stiften, Senkeln, Knöpfen und verblassten, erblindeten Stofftieraugen. Feige auf Symi Auf der kleinen Insel Symi steht ein Haus in der Oberstadt des Fischerhafens, dessen Dachgebälk, Zimmerwände und Fußböden wurden von einem das Gemäuer nach und nach für sich einnehmenden Baum gesprengt. Die schöne, tief dunkelgrüne Feige wächst auf dem Müll, der zu den Fensterlöchern hineingeworfen wird – wie in einen Schacht, in dem Verfallenmüssen und Leere zusammenfinden und Zeit und Tod vor lauter Leben vergehen.

Die Nandus in Törpt

Sie wissen, alles Ferne hat Augen.
Stumm folgen ihnen große Wagen, und
da sind immer Hunde in den Schatten, die
hinter Hagebuttenhecken flach im Gras liegen
und nach Sterben und roten Tränen riechen.
Sie sind Muldenvögel, lieben Laubkrater,
sind schlehenbeerenversessen, einer
auf einem Bein ist gleich Baum.

Nachts weite Pampa. Träume, blau.
Keiner wird je vergessen, was war, nur
die dreizehn Alten, die an dem Tag
durch den Zaun brachen, runter
zum Ufer rannten und hinüber
über die Wakenitz kamen,
sehen das Leuchten nicht mehr,
das ihnen da hell vor Augen stand.

Die Nandus sammeln im Maiswald
Beiträge zur Geschichte der Freude,
ein unerklärlich langsames Schreiten.
Goldene Sterne funkeln den Jüngeren
in den Augen, die im Dunkeln in Törpt
an die Maurine laufen zum Saufen
und erschöpft zitternd ausruhen
unter zwei verrosteten Tankwagen.

Sie rupfen sich Gras, das Nachtgras
im Knickschatten, und sie wärmen
einander, beinahe hundert, auch
wenn keiner von ihnen noch ein Bild
für den Nanduweg weiß, namenloses
freies Hinfliegen knapp über dem Laub,
hinter der Stirn nur die Wärme der Liebe
zum Rennen durchs dunkelgrüne Licht.

Für Tom Schulz

Herbst auf Rhodos (5)

Ins Tränencafé! (Dort gibt es „Continental Breakdown“.)

Das Geräusch des ins ausgetrocknete Platanenlaub fahrenden Winds, papierenes Rascheln, nein Rasseln, nein Knistern. Rhodos-Stadt Fast ein Feuer, ein Feuer aus Luft. (Akra Ladiko, 19.10.)

In dem rekonstruierten (römischen) Stadion von Rhodos blickt der Junge in die Tiefe des langen Ovals (hinein in die Zeit): „Dort hinten sitzen, und ein Streitwagen mit zwei Gespannen kommt zweihundert Meter weit auf dich zugerast, und erst kurz vor der Kurve bremsen die Pferde ab.“

Komm in den totgesagten Park und sieh dir an, wie wir alles, aber auch alles kaputt bekommen. (Rodini-Park, Rhodos-Stadt, 20.10.)

So lächerlich wie der Pomp der Paläste, so lachhaft die blöde Größe der Burgen. Sollen sie doch mächtig sein (wollen)! Pracht gibt es nur außerhalb von Mauern.

Ein lauter Streit zwischen dem Bootsmann der Fähre – ein schöner Dieselkatamaran, der mit seiner Abgaswolke den halben Hafen verpestet – und einem zahnlosen, schlohweißen Alten unter den Kiosk-Arkaden des Klosters. Während die Sperlinge grün schimmernd hineintauchen in die Baumkronen und wieder hervorstieben, reden die Beiden lauthals aufeinander ein und lachen sich gegenseitig aus, scheinbar ohne den anderen zu beachten. Einmal verstehe ich das Wort „Olympiakos“, betont auf dem „pja“, und kurz darauf lacht bloß noch der Bootsmann und erklärt in die Runde: Darum sei er Grieche. Nur hier streite man und lache zugleich, und sei es über Fußball – falls Olympiakos überhaupt Fußball spiele. Gelächter! (Symi, Panormitis, 21.10.)

Herbst auf Rhodos (4)

Auf der ganzen Insel nur ausgetrocknete Flussbetten – oder sind die Flüsse sogar vertrocknet und verlandet? Mitten in der Kieselmulde des Loutan sah ich ein halb zerfallenes rotes Ruderboot. (17.10.)

Kamiros Erinnerung an Ephesus, vor 19 Jahren: In den Ruinen von Kamiros stehst du auf der Jahrtausende alten Hauptstraße und siehst Agamen und Eidechsen über das in der Sonne blendende Mauerwerk huschen. Da ist ein Muschelrelief in eine nur noch hüfthohe Hauswand gehauen. Du hörst vielleicht ein unsichtbares Windrad. Das Lachen von toten Kindern und wie sie vorbei und um die Ecke toben in einen überdachten Garten. Stell dir in der sengenden Hitze das Weinlaub über den Schattengassen vor. Das Geplätscher des Wassers, das herabsprudelte aus der großen Zisterne oben am Stadtrand, unterhalb des Pallas Athene-Tempels. Und überall und nirgendwo Ziegen.

Die schönen Ziegen auf den wilden Müllkippen im karstigen Bergwald von Profitis Ilias – himmelblau die Fahrerkabine des dort seit Jahrzehnten verrottenden Ford Transit-Pickups.

An eine Hauswand in Rhodos-Stadt gesprüht: 100 years of freedom 1912 – 2012

„XAIRE“ – „Frohgemut!“ – steht als abschließendes Wort, als Gruß und zugleich Aufforderung, auf vielen antiken Grabstelen. Und noch immer sagen sie manchmal: „Chaire!“ Und wir verstehen einander, denn auch ich sage hier oft: „XAIRE!“ – und denke dabei an Cummings‘ 71 Gedichte mit diesem Titel, besonders an den Auftakt von Gedicht 65: „ich dank Dir Gott für meist den wundervollen / tag“.

Bei Schirokko verdunkelt sich das Meer. Das helle Türkis wird zu Aquamarinblau und das Dunkelblau zu Violett.

Bei Schirokko stürzen die weißschwarzen Tauben über den Strand hin, und Tag für Tag deutlicher steht im Meer Anatolien, dessen Binnenlandgebirge wir nun sogar schon sehen. (18.10.)

Herbst auf Rhodos (3)

Aphrodite aidoumene Tausende nagelgroßer, nagelschwarzer, nagelstarrer Fische stehen im flaschengrünen Wasser des antiken Mandraki-Hafens. Durrell beschreibt, wie vor der Küste Niochorions eine Venus-Statue gefunden und aus dem Algenschlick ans Licht gehoben wurde: „An einem Nachmittag hatte sie sich in den Netzen der Fischer verfangen. Sie glaubten, einen reichen Fang zu machen, aber es war nur die schwarze Marmorfigur einer Meeresvenus, die, von Schlingpflanzen umwunden, heraufkam, und einige erschrockene Fische, die wie silberne Münzen um das ruhige, reine Gesicht mit den blicklosen Augen hüpften. – Nun bewohnt sie das Museum der Insel und meditiert, ganz dem Brennpunkt ihres eigenen inneren Lebens zugewandt, ernsthaft über das Wesen der Zeit.“

Das schöne Lindos – in den Fels gehauen das Heck eines antiken Kriegsschiffs. Und die Akropolis ein begehbares Palimpsest, umgeben von einem zeitlosen Basar. Auf einem Dach eine Ziege. Esel, die schmerbäuchige Touristen hinauftragen zu von den italienischen Faschisten rekonstruierten gigantomanischen Treppen. Sie scheinen in den Himmel zu führen, tun aber nur so. Vafanculo, Duce. Ein Eselsbahnhof. Und wenn du über die Mauerreste in die Tiefe blickst, sind überall zwischen den Olivenbäumen wilde Müllkippen. (Lindos, 15.10.)

Ich sah in Kalathos einen Olivenbaum durch einen roten Toyota hindurchwachsen.

Wie nennen die Rhodier den Schirokko?

Ob Anthony Quinn je gebadet hat in der Anthony-Quinn-Bay? Vielleicht zusammen mit Gregory Peck, als sie hier „Die Kanonen von Navarone“ drehten. Wann hat ihm die Militärjunta die Bucht geschenkt? Und hat er das Geschenk angenommen?

Wunsch, Hornisse zu sein.

Die englische Redewendung „It is just what it is“ – schön, auch weil darin ein Richtmaß schwingt: Es ist nicht mehr – aber auch nicht weniger! – als das, was es ist. Es ist gerechterweise das, was es ist. Es ist genau das, was es ist! Es ist einfach bloß so, wie es ist. So ist es nun mal!

Herbst auf Rhodos (2)

Hier heißt jeder Haartrockner gleich Elektra.

Im antiken Stadion schläft im Schatten der Bäume auf dem steinernen Tribünenoval eine Katze. In der 2000 Jahre alten Kampfbahn die Stille der applaudierenden Toten. Handtellergroße Echsen drücken sich flach an die Steine, an denen nichts mehr von Vertäfelung erzählt. Und die Katze wacht auf und geht auf Eidechsenjagd.

Wie lang ist es her, dass du zuletzt Lawrence Durrell gelesen hast? Unter Tränen seinerzeit „Das Alexandria-Quartett“ beendet. Von Durrell hast du gelernt (und es bei Camus bestätigt gefunden), dass es ein syntaktisches Licht gibt, luzide Sätze, ein Satzleuchten: „Die fliederfarbene Überflutung durch die Zyklamen hat eingesetzt“, schreibt Durrell im „Kurzen Blumen- und Heiligenkalender von Rhodos“ seines Buches „Leuchtende Orangen“.

Die Akropolis von Lindau?

50 Jahre alt musst du werden, um an einem Abend nach Sonnenuntergang das Meer violett zu sehen – die lilane See. (Rhodos, 14.10.)

Am Platz der jüdischen Märtyrer erinnert eine Stele in sieben Sprachen an den Julitag 1944, den der Deportation von 1602 Kindern, Frauen, Männern und Alten aus Rhodos und Kos in Nazi-KZs hoch oben im Norden: Polen. (Keine der Sprachen ist Deutsch.)

Wenn du über den Wipfeln der Benjaminbäume auf einer Dachterrasse sitzt, erscheint das Laub wie sehr hohes Gras. Denk du nur an Calvino …, während ein Schwarm Sperlinge herangerauscht kommt und, lautlos wie eine Handvoll Kiesel ins Wasser, eintaucht in die grüne Krone.

Herbst auf Rhodos (1)

Überall der übertünchte Verfall.

Der greise Grieche in seinem 40 Jahre alten weinroten Daimler, kriecht durch das Viertel, in dem er jedem Schlagloch einen Namen gegeben hat. Unter einem Riesenfikus parkt er seinen mühsam zusammengehaltenen Schrotthaufen und geht mit Tippelschritten eine Zeitung kaufen. In seiner seit vier Jahrzehnten stillstehenden Bürgermeisterwirklichkeit – wer bin ich da, ich Fremder am Straßenrand? (Rhodos-Stadt, 12.10.)

Schmuckläden mit Marmorfußboden. Zwischen den Geschäften, von genau derselben Größe, dachlose Ruinen, stinkend nach Pisse und Rattengift.

Über die blaue Ägäis kommt langsam eine blaue Autofähre und hält auf den Inselhafen zu – lebendiges Bild aus „Nie mehr Nacht“: Da fährt die „Kitty“!

Ein junger Mann mit langen, langen Gliedern, langem, langem Rumpf und sehr kleinem Kopf. Einer, der nicht lächelt. Ein junger Zentaur.

Im Dunst taucht am Nachmittag ein Gebirge aus dem Meer – die türkische Küste. Dort drüben fängt Asien an.

Drei Straßenhunde: ein großer, zotteliger Grauer, ein flacher, gedrungener Einäugiger und ein kleiner flinker Fleckiger – gemeinsam drehen sie im Park und auf den angrenzenden Plätzen ihre Runde. Reihenfolge immer dieselbe, Wege immer gleich, Trink-, Fress-, Schnüffelordnung die von gestern und allen Tagen. Sie tauschen Blicke. Sie warten aufeinander. Sie verstehen einander so wortlos wie blind. Jeder kennt sie. Sie kennen jeden. Es gab sie immer schon. Sie sind keine Hunde mehr. Sie sind der denkbar größten Freiheit sehr nah. Ihr wundervollen Geschöpfe.

In Abwesenheit

Einer, der allein über ein Feld geht, weiß,
solang in der Luft der Schnee liegen bleibt,
gibt es die Schwarzpappeln dort, er meint,
im Innern genauso zu schneien und dass
es daher auch Innenpappeln gibt, immerzu,
in jedem Moment ab jetzt ist er vorbereitet.
Und genauso weiß auch ich mit einem Mal:
Pappelreihe! Das ist ein Ufer aus Bäumen,
und weiß auf einmal auch: mein Notizbuch!
Das sind Momente wie Jacken im Schrank,
im fremden Mundwinkel ein Funkeln, oder
jemand im Bus, der ihn in eine Geschichte
davonfährt. Während die Eisblumen blühen
an den Fenstern und immer was in Händen
zu halten ist, nimmt das Aufhören ein Ende.
Es schneit, als wartete der Morgen darauf,
nach einer so endlos erscheinenden Nacht
das Verlorengegangene sich wiederzuholen.
Schnee ist das, was ich nicht anhalten kann,
so als wäre jeder hier, auch in Abwesenheit.

Geräusche der Heimlichkeit

Nachdem das Tier am frühen Morgen einen jungen Zaunkönig gefangen und getötet hat, verkriecht es sich für sechs Stunden niedergeschlagen in einen dunklen stillen Winkel. Dann kommt es heraus, untersucht den Tatort und blickt lange aus dem Fenster, dorthin, wo der Vogel auftauchte und vielleicht wieder auftaucht. Das Tier ist bereit zu vergessen, bereit zur Wiederholung. Das Leben geht weiter, das Töten geht weiter, das Sterben geht weiter.

Sage und Schreibe

Im Zug herrscht der alte Mann seine Frau an, weil die vor Nervosität nicht stillsitzen kann. „Ach, halt die Backen“, sagt sie schließlich, nimmt ihren Koffer und stellt sich die letzte halbe Stunde vor Berlin an die Tür.

„In der Schale des Löwen“, sagt das Kind und zeigt auf die Milch für das Tier.

„… der Lärm frisst mir die Liebe auf … Ah, alle die Geräusche der Heimlichkeit, wo sind sie geblieben?“ Peter Handke

Die Starautorin, die bekannt ist als Rebellin und Rädelsführerin, hat ihren Verlag verlassen, weil der ihr nicht mehr genug zahlen kann für ihre Widerstandskunst. Viva Las Vegas!

Keiner will bleiben, aber genauso wenig will irgendjemand von hier verschwinden.

Gestern am Hamburger Hauptbahnhof: Kurden und „Salafisten“ droschen aufeinander ein. Und eine Machete, gut zum Kopfabschlagen, wurde sichergestellt. Und die Polizei setzte Wasserwerfer ein und drosch ordentlich mit. Ich wäre gern dabeigewesen und hätte mich totgelacht.

Oz

Aus dem Gedicht „Schnee“ von Ales Rasanau aus Weißrussland, übersetzt von Thomas Weiler:

(…)

Schnee, bist du aus der Unendlichkeit?
Aus der Vollkommenheit?
Aus dem Tod?

Alles, was wuchs, blühte und gedieh, alles,
was vergangen, was Erinnerung geworden war,
alles, was nicht wiederkehren kann, kehrte wieder
im weißen Schnee.

Die Umwelt hat eine weitere Umwelt,
die Dämmerung hat eine weitere Dämmerung,
das Schicksal hat ein weiteres Schicksal:

Schnee.

(…)

Der seltsame Chinese (des Schmerzes) mit langem silbernen Haar und langem schwarzen Stoffmantel, der mit winzigen Bewegungen um den Tisch seiner Landsleute herumtanzt, traurig lächelnd – Yang Lian.

Das dickliche Mädchen, das auf seinen Turnschuhtanzschuhen die Treppe hinabtänzelt, hat eine Zwillingsschwester mit Mongolinnengesicht, die in der U-Bahn zu den Fenstern hinausstaunt. (Alsterdorf, 1.10.)

Oz. Hamburg Letzte Woche ist der große alte Graffitisprayer Oz nachts von einer S-Bahn totgefahren worden wie eine Straßenkatze. Überall in der Stadt sind seine Smileys und Kürzel zu sehen, aber auch große Gemälde und Tag-Tableaus in fantastischen Farben – sie stehen nicht nur für sich und beileibe nicht für irgendeinen kruden Vandalismus, sondern bewahren auch Oz‘ Bewegungen durch Hamburg auf, sind ein Koordinaten-, ein Speichersystem und ein künstlerisches Kataster. Eine Anwesenheitskunst, die Freude am Vertrauten, das er sich in der Nacht erobert haben muss.

Wessen Bücher kann ich zwei Monate lang liegen lassen, und lese ich eines dann weiter, ist es so wie vor zwei Minuten unterbrochen? Merkwürdiger Peter Handke.