Auch ein Vermögen

Die Dekonstruktion einer Kuh?

In Paris hat sich ein Sternekoch erschossen.

Und in den Niederlanden werden Greifvögel dazu abgerichtet, terroristische Drohnen in der Luft zu fangen und zu zerstören. Viva Las Vegas!

Wieder so ein Pulk laut grölender und lachender Halbstarker. Und wie die Jungs einander erzählen, voreinander Theater spielen, singen, summen. Das Erzählen, ihr Toten, stirbt nicht. (Stuttgart, 1.2.)

„Uns einigt mit allem nur die Liebe.“ Ludwig Hohl

„Der Zaun oder die Mauer zu den Fruchtbäumen, deren Wipfel ihn mächtig herbeiwinkten, mußte, wollte das auch, überklettert werden, hin zum Verbotenen, ins Zentrum des Wirklichen. Und hätte er es noch so eilig: nichts würde ihn im Ernstfall hindern an dieser wesentlichen Abweichung.“ Peter Handke, „Die morawische Nacht“, noch immer.

„Eines fehlt hier: die Klage darüber, dass das Leben nicht zu leben sei. Diese Vorstellung, dass die ganz großen Ereignisse das Leben erst lebenswert machen und dass die Sehnsucht der Menschen nach ihnen täglich von neuem unerfüllt ist, sie kommt vor – als eine Eigenart der menschlichen Natur. Aber nicht als Anlass zur Klage, nicht als ein unüberwindliches Grundleiden, welches einem im Wege steht bei der Erkenntnis, dass Tag für Tag eines einzelnen Lebens bereits das Leben ist.“ Hanna Johansen über Grace Paley, „drehpunkt“, Basel 1986

„Fit“, d. h. passend. Wenn du fit bist, hast du dich also passend gemacht? Wofür?

Auch ein Vermögen (mein einziges): Durchhaltevermögen.

Das frühere Schreibzimmer, die Mansarde, altes Dienstbotinnengemach: Gefrierfach voller Bücher, voller Manuskripte.

„Ich bin so versorgt“, sagt das Kind kummervoll – und es dauert einige Zeit, bis du begreifst, dass der junge Mensch voller Sorge ist.

Endlich angekommen

„Endlich angekommen in der neuen Business-Welt?“ – Nein. (Wien, 26.1.)

Die Lokomotive fuhr an und machte dabei Musik.

Tizian, Verkuendigung an Maria - Annunciation to Mary / Titian / c.1540 - „Ist der Fluss, an dem ich entlangfahre, selbst auf Reisen?“, fragt der Reiseschriftsteller zu Beginn seiner Lesung. Aber er weiß auf die selbstgestellte Frage keine Antwort, findet sie auch unterwegs nicht, der Fluss spricht ja eine Sprache, die nur Siddharta versteht, und so fragt der Reiseautor (so wie früher du in deinen Gedichten, hilflos, im Vertrauen auf die Macht der Wiederholung) am Ende noch einmal: „Ist der Fluss, an dem ich …“

Zum ersten Mal in einem Raum gelesen, in dem auch John Steinbeck und W. H. Auden lasen, Auden sogar kurz vor seinem Tod. Obwohl Auden strenggenommen nicht gestorben ist. Gestern Abend, gemeinsame Lesung mit Steinbeck und Auden!

Es gibt Städte, in denen waren schon alle, nur du nicht. Nur du scheinst sie nicht betreten zu sollen. Linz zum Beispiel! Linz im Nebel. Ich war nie in Linz. Wie lebt es sich wohl so in Linz? Ich werde nie in Linz gewesen sein. O Linz! (Linz, 27.1.)

„…
geblieben sind deine küsse dein gedicht
dein spiel mit masken burschikose zoten
habe zwar kein bild von deinem gesicht
aber spreche hier nicht mit einem toten“
Christoph W. Bauer, „nein catull so hast du nicht ausgesehen“

Im Brenner-Archiv, zum ersten Mal seit den 1986 aufgenommenen Besuchen in der Stadt. Trakls Zettel, für mich zentrale Äußerung, über sein „Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins“, mit dem Folgesatz „Alle Menschen sind der Liebe wert“ – ist, als „Textzeuge“, verschollen. Hat der Herausgeber des „Brenner“, dem Trakl den Zettel vor seiner Abreise an die Ostfront angeblich gab, das lose Blatt überhaupt je besessen? Oder hat von Ficker es erfunden, d.h. erdichtet? Ist es womöglich – wie Trakls Äußerungen in Karl Röcks Tagebüchern – überliefert aus der Erinnerung? Jedenfalls ist der Zettel so noch immer auch Teil des „totenähnlichen Seins“ – und mich stimmt das heute sehr unglücklich. (Innsbruck, 28.1.)

Ja: Vom Wasser ist man nie enttäuscht. (Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, 30.1.)

Ein bunt kostümierter Tubabläser geht mit seinem aufgeschnallten Instrument die Straße entlang, hält inne, zündet sich eine Fluppe an, setzt den Weg fort, unter dem golden im Mittag schimmernden Schalltrichter.

Slogan: „Verbrannte Hände gibt es nicht mehr!“

Richter, Verkundigung Gerhard Richter über seine Gemälde-Versuche „Verkündigung nach Tizian“ (1973): „Die Kopie misslang mir aber, und es entstanden so eher Bilder, die zeigten, dass das gar nicht mehr geht, nicht einmal als Kopie. Ich konnte alles nur noch auflösen und zeigen, dass es nicht mehr möglich ist.“

Abbildung oben: Tizian, „Verkündigung an Maria“ (um 1540),
Scuola Grande di San Rocco, Venedig

Some things about death

Der Verdacht liegt nahe, dass jedes Gedicht, jedes literarische Partikel, ein Stück Welt mehr ins Virtuelle hineinexpediert. Der Verdacht liegt nahe, dass du deshalb das Schreiben sein lassen solltest – um dir nicht selbst die Wirklichkeit zu entziehen. Aber – du tust es nicht. Wieso tust du’s nicht? (25.1.)

„Wie zäh man daran festhält, am Leben der anderen, so zäh wie am eigenen, es ist kein Unterschied.“ Canetti

Handke schreibt: „Kafka ist nicht gestorben“ – eine der wenigen seiner Äußerungen zum Tod.

Schön, wenngleich nach Canetti-Art eitel und selbstbezogen, was er über die Aborigines – welche? – schreibt: „Die Australier also, diese Steinzeit-Menschen, glauben an eine ewige Traumzeit, aus der sie kommen und in die sie wieder gehen. Es ist seither nichts dazugekommen; es ist nur weggenommen worden. Ihr Glaube ist der höchste; der einzige, den ich manchmal teile; wäre ich ein Australier, ich hätte ihn immer. Aber da ich das zweifelhafte Glück habe, ein moderner Mensch zu sein und in London lebe, habe ich ihn meistens nicht; und nur soweit ich ein Dichter bin, bin ich noch ein Australier.“

Ich denke auch: Der Tod ist nicht nur ungerecht, er ist ebenso Unrecht, da kein Recht existiert, auf das er sich begründen ließe. Daher ist Aufbegehren gegen den Tod Pflicht zum Widerstand. Canetti: „Ich anerkenne keinen Tod. So sind mir alle, die gestorben sind, rechtens noch lebendig, nicht weil sie Forderungen an mich haben, nicht weil ich sie fürchte, nicht weil ich meinen könnte, daß etwas von ihnen noch wirklich lebt, sondern weil sie nie hätten sterben dürfen. Alles Sterben bis jetzt war ein vieltausendfacher Justizmord, den ich nicht legalisieren kann.“ Das ist es, was Simone de Beauvoir schrieb: Jeder Tod sei ein unverschuldeter, ein unschuldig erduldeter Gewaltakt.

Buddha und Ananda. Der Meister sieht sein Leben in die Hand des Schülers gelegt. Da er erkennt, dass Anandas Liebe zu ihm Grenzen hat, beschließt Buddha zu sterben. Es ist die Liebe, die am Leben erhält. Alter Verdacht: Du stirbst, sobald du nicht liebst, sobald du nicht geliebt wirst. (Wien, 26.1.)

Überall, allenthalben, suchst du nach Zeichen wirklicheren Lebens. Ist die Suche dieses Leben, und ist sie ein Hinweis darauf?

Ehre und Auge

Zwei einander nahe Begriffe: Nähe und Nähen. Jetzt nähen wir zusammen, was viel zu lange aufgetrennt war und auf zwei verschiedenen Seiten immerzu weinte.

Ein Pulk Geflüchteter, ein halbes dutzend Frauen und Männer, aber auch Jugendliche und drei kleine Kinder. Jeder trägt eine schwere Tasche oder hat einen Rucksack auf dem Rücken, einen ganzen Schrank. Ein ganzes Zimmer tragen die Frauen, ein ganzes Haus schleppen alle zusammen, alles versprengt, zigfach aussortiert und minimalisiert. (Berlin, 20.1.)

Die seltsam schöne Uckermark. Die stillen großen Seen, das Hügelland, die Schneefelder voller Baumruinen. Brandenburgische Ebenen, blickweit aufgetan. In Staub mit allen Freunden der Enge. (Prenzlau, 20.1.)

Bei Ehre denke ich an Getreide.

Auf dem weiß überfrorenen Bahnhofsvorplatz steht im Morgenlicht ein großer Lastwagen, meerblau. Auf den Seitenwänden prangt das Wort AUGE. (Greifswald, 21.1.)

Glaub nicht, die vermeintlich einfachen Leute, die Arbeiter, die Arbeitslosen oder Schicksallosen hätten einander nichts zu erzählen, ja würden sich nicht austauschen! Du musst (dir) auch ihre Stimmen übersetzen. (Berlin-Charlottenburg, 22.1.)

Der Schmerz nach einem Verlust – noch der geringsten Dinge! – ist immer auch die Trauer darüber, dass es den Tod gibt und der ein Verhängnis ist.

Ul-, Ul-, Ultimat-!

Wenn du Schatten sein willst, musst du bereit sein, keinen Schatten zu werfen.

Die vielleicht fantastischste Band in der Mitte meines Lebens hat ihr Ende angekündigt: Death Cab for Cutie.

Bittere Kälte – bitter wie die Zeit, in der du zu leben verdammt bist. Erinnere dich der eiskalten Abende in den Vierlanden, als du ein Junge warst und vom Training heimfuhrst auf deinem Fahrrad, an dem du jede Schraube so gut kanntest wie jedes verfluchte Körperteil. Ah, was für eine wirkliche Kälte! Die Kälte der Wirklichkeit. Ja, da staunst du.

Der alte Verstotterer Ede Stoiber fordert ein Ul-, Ul-, Ultimat-, Ultimatum von der Kant-, der Kanzler-, der Kanzlerin in der Flü-, Flücht-, in der Flüchtlingsfrage. Hau, ab, Edmund.

„So wie wir trotz unserer Bemühungen allein bleiben, bleiben wir trotz unserer Umarmungen frei. Niemand gehört jemals irgendjemandem.“ Guy de Maupassant

Der Irrsinn der Metaphern Canettis – die Finsternis seiner Welt im Konjunktiv: „Wenn das ganze Meer vergiftet wäre, und alles übrige Wasser dazu, und die Menschen sich vor jeder Berührung damit zu schützen hätten, weil sie tödlich wäre, dann, aber nur dann hätte man eine volle Vorstellung davon, was es heißt, heute, in dieser Welt, zu leben.“ Das schrieb er 1947, und man möchte das für verständlich halten angesichts der aufgedeckten Nazi-Gräuel und Verbrechen beinahe aller Deutschen. Die Welt aber war nicht gestorben, nur die Menschlichkeit.

Wilder Traum. Totentanz. Einer zerbröckelte in meinen Armen, eine zerriss wie alte Zeitungen, einen aber musste ich wegbrüllen, weil er mich in sein Grab zerren wollte. STANFIELD stand auf dem Stein. (19.1.)

„Jeder ist zum Hüter mehrerer Leben bestellt, und wehe ihm, wenn er die nicht findet, die er hüten muß. Weh ihm, wenn er die schlecht hütet, die er gefunden.“ Elias Canetti

Dieser Tag, schrecklich

„Aber wenn du träumst: wie reden da die Leute, wie sehen die Wege aus, aus welchem Haus kommst du, in welches gehst du hinein?“ Johannes Bobrowski, „Das Käuzchen“

„Un jour arrive où plus personne ne vous est étranger. Ce jour-là, terrible, signe votre entrée dans la vie réelle.“ Christian Bobin

Vergeblichkeit, Vergebung, da ist ein Zusammenhang, aber welcher?

„Das ist die karge Ausbeute, die mir der Überlieferungszufall beschert hat – ein paar liegengebliebene Halme auf dem abgeernteten Feld.“ Arno Geiger

Jeder, der schreibt, bitte um Vergebung, sagt Derrrida, irrt damit aber, tut mir leid.

„The stars look very different today“ – David Bowie ist gestorben. Viele Tränen. (11.1.)

Über den allmorgendlichen Pendlerverkehrsstau, der in die Innenstadt hinunterkriecht, zieht ein Geschwader Wildgänse ostwärts, sechzehn, achtzehn Vögel, ruhig, ein deutlicher Keil in Haushöhe über den kahlen Wipfeln.

Die sogenannte „CSU“ umbenennen, in UCUSU, oder UUU – Unchristlich Unsoziale Untote.

„La guerre des vivants ne s’arrête jamais“. Christian Bobin