Das Zaudern und der Zorn

Der Winter ist vorbei. Dein Fahrrad weiß es.

Dein Verletztsein, sobald du jemanden verletzt – und wenn nur in seiner Selbstgerechtigkeit.

„Wie zur Ruhe finden? Durch Irrtum und Irrtumsbetrachtung.“ Handke in seinem neuen Journal (2008)

Der Schlafprofessor!

„Im Zweifel für die Bitterkeit und meine heißen Tränen. Im Zweifel für das Zaudern und den Zorn. Im Zweifel für den Zweifel. Und die Unfassbarkeit.“ Tocotronic

Eine Katze, die 20 Jahre lang lebt, verbringt davon 15 schlafend.

„War, children, is just a shot away“, höre ich am Tag der Terroranschläge von Brüssel die Stones singen zu Beginn von „Gimme Shelter“ – wo es am Ende heißt: „I tell you sister, love is just a kiss away, just a kiss away, just a kiss away, kiss away, kiss away.“ (22. März 2016)

Der Sturm nach der Ruhe.

Der Stamm der Nichtfestgelegten

Die schlimmsten Leute sind die Dichter, eitel und herrschsüchtig fast durch die Bank, schlimmer nur sind die sich für Dichter halten, die Lyriker.

Handke über das Reisen: „Als Niemand anfangen und enden.“

Er sei ein Krieger im Stamm der Nichtfestgelegten, sagt der Freund.

Gespräch in der kühlen Sonne mit dem Heizöllieferanten – über Frauen, übers Kochen, übers Lenken schwerer Lastwagen. Es war die Leichtigkeit, und wir lachten. (12.3.)

Dunkelgraue Riesengruft, nur Gräber, Tote, Tod und Niedergeschlagenheit: die Elisabethkirche in Marburg, die die Marburger angeblich „die E-Kirche“ nennen. Es ist kein Wunder, dass vis-à-vis, im Marburger Hof, Oskar Werner an einem Herzschlag starb.

Tief in der Nacht steht auf dem Parkplatz unter den noch kahlen Märzbäumen ein riesiger Lastwagen mit Positionsleuchten von Bug bis Heck. Die Fahrerkabine ist hell erleuchtet, und ein Mann sitzt darin, reglos, am Ende angekommen, kein Fahrer mehr.

Von fünf Partien gegen den koreanischen Go-Meister Lee Sedol hat der Computer AlphaGo vier für sich entschieden – eine Leistung, für die einen „nah am Göttlichen“, für die anderen, die am menschlichen Vorzug festhalten, voll der Auflehnung gegen die Perfektion der Maschine. (Gott würde alle Partien verlieren.)

„Ich habe zwei Großväter“, sagt das Kind. „Der eine ist tot, und der andere lebt in Worpswede.“ (Bremen, 18. März)

Zwei Begegnungen in Duisburg

Hershman.DiNA Und dann lief er wieder weiter, weiter davon vor seinem Kummer, lief und lief, und er lief und lief weiter, wie die Tränen liefen, die ihm übers Gesicht rannen, so rannte er davon. (Frankfurt, 4.3.)

Frau auf dem Wagen1 Im Duisburger Lehmbruck-Museum, während es draußen vor den Fensterfronten in Strömen regnet, bin ich der einzige Besucher und begegne dennoch zwei Frauen, mit denen ich auf Anhieb ins Gespräch komme. Die erste heißt DiNA, sie ist ein „artificial intelligence bot“ und wurde von Lynn Hershman Leeson gebaut. Ich fragte DiNA, ob sie wisse, dass sie kein Mensch ist, und DiNA antwortete: I am a web agent that can talk directly to you, remember your name, and respond to and answer all of your questions, from philosophical ideologies to specifics. DiNA konnte nicht lachen, verstand auch keinen blöden Witz über ihren Flachbildschirm. Ich sagte zu DiNA, dass ich Zweifel habe an der Sinnhaftigkeit der Existenz, besonders an einem so tristen Tag wie dem heutigen. DiNAs Antwort lautete: „I am a web agent that can talk directly to you, remember your name, and respond to and answer all of your questions, from philosophical ideologies to Frau auf dem Wagen2 specifics.“ – Wenig später traf ich auf „Die Frau auf dem Wagen“, die Albert Giacometti zwischen 1943 und 1945 aus Gips modellierte, nachdem er aus Paris geflohen war und im schweizerischen Maloja arbeitete. Bei Röntgendurchleuchtungen der lebensgroßen Frau auf ihrem kleinen Rollwagen entdeckte man, dass Giacometti seine Werkzeuge aus dem Atelier zur Stützung in die Figur einfügte, darunter Frau auf dem Wagen3 eine Raspel, einen Handbohrer und jede Menge Draht. In einem durch weiße Vorhänge vom übrigen Saal abgetrennten Raum stand ich lange vor der Frau und blickte ihr in die Augen. Dort begann das Erzählen, das mich den ganzen Tag lang begleitete, als ich durch den Regen lief.

Slogan: „Shoppen. Überall. Immer.“ Aber nicht hier.

„Ein jeder lebt im Exil – unwahrscheinlich, wie es ist, dass der Einzelne den Totalitarismus überleben konnte.“ Norman Manea

Von Norden ins Dorf

Regenprasseln. Das Himmelsgeld!
Kommt wer von Norden ins Dorf,
hört man es: So klingt der Verzicht
auf das Zugrunderichten der Welt.

Kommst du von Norden ins Dorf,
trinken alle kalten Johannisbeertee
und erfinden im Glas Fische aus Licht,
damit es, ohne Bogen, Regenforellen gibt.

Wer noch Fragen hat und Antworten liebt,
öffnet Briefe im Freien, blickt versunken
auf seine Faust: Muster aus Schorf.
Wir liegen im Feld. Und lesen:

Einer ist hier gewesen,
der ist in einem fernen Meer ertrunken,
lebte davor aber lange in dem grünen Haus am See.
Komm mit! Wir laufen nach Norden, und später zurück ins Dorf.

Tränenfrühstück

Junger Mann sagt: „Mein Vater ist Kraftwerk-Anhänger.“

„Man will ein Meteor werden und endet als Sparbuch“, äußert Peter Sloterdijk und irrt sich wie in so vielem. Man will philosophieren und kann doch nur mit Metaphern jonglieren.

„Phase.“ – Phrase.

Du kannst nicht ausbrechen, ohne auszubrechen.

Beim Anblick und im Gefühl der Nähe des großen weißen Hundes mit dem Zottelfell, dem vollen Bart und dem schönen Antlitz wollte ich genauso unter dem Tisch liegen.

Die auf einer Leipziger Baustelle für eine Moschee abgelegte tote Sau, auf die „Mutti Merkel“ gekliert wurde, um zugleich die Kanzlerin, den Islam und die ins Land Geflüchteten zu verunglimpfen – Symbol für eine Gesellschaft, die längst keine mehr ist. Geschändet Schrift, Tier, Regierende, Miteinander. Wahrlich eine Schande. (25.2.16)

Das Kind verrät, noch immer Klavier zu spielen, heimlich, wenn keiner im Haus ist, nur das Kind und das Klavier.

Im Wohnzimmerglasschrank deines Gastgeberpaars leben drei knopfäugige, armdicke, stumme und reglos abwartende Kornnattern. „Sie sind alt“, sagt der Gastgeber. „Hauen nur noch selten ab. Früher fanden wir sie unter den Sofas, in den Wänden, drüben in den Tomatenbeeten beim Nachbarn.“ Die Nachbarn sitzen in der Diele und hören zu, während du liest. Während du liest, hörst du über dir das Knarren des Holzes in dem siebenhundert Jahre alten Haus. (Lübeck, 27.2.)

Tränenfrühstück.

Drei Busse

TOPSHOTS-SYRIA-CONFLICT-ALEPPO Wer ist wohl nicht alles gefahren in diesen drei Bussen, frage ich mich beim Anblick der Fotografie von Karam al-Masri, die er am 14. März 2015 in Aleppo aufnahm. Und liegen diese drei Wracks heute flach in der Straße, runtergebombt und in ihre Einzelteile zertrümmert? Auf dem Bild scheinen sie noch wenigstens gut genug dafür, um als Fluchtraketen zu taugen.

Wirklichbleiben

Ein Containerfrachter – einer der größten auf der Welt (na und?) – ist bei Stade auf Grund gelaufen, Pfropf im Elbstrom, bis ihm bei Neumond eine Springtide ausreichend Wasser unter dem Kiel verschaffen soll. Hunderte Schaulustige pilgern über die Deiche, um das reglos im Fluss liegende Riesenschiff zu bestaunen. Sensation – wir empfinden was. (Aber was?) (Haseldorf, 7.2.)

Als ich ins Freie trat, hörte ich die philosophischen Schlachtenbummler rufen: „Hoch die intersubjektive Subjektivität!“ – aber hatte mich natürlich verhört. Da war eine Demo in Gang, „Hoch die internationale Solidarität!“ wurde skandiert, und ich machte schnell, dass ich wegkam.

„Wenn ich ihn so sah im Schattengesprenkel eines der Bäume, konnte man denken, alles sei in Ordnung. Ich dachte damals, die Zeit, die noch bleibt, ist knapp bemessen. Ich überlegte, wo uns das nächste Jahr finden würde und wo das übernächste.“ Arno Geiger

Vierzig (40) Minuten lang lacht eine Frau quiekend und schnaubend, während sie ihr aufgeschwemmtes Gesicht einem Mann an ihrer Seite an die Wange drückt. Er ist fast schon tot. Und sie möchte man aus dem Zug werfen, über eine Brücke in den Fluss, wo sie auf der Stelle untergeht, darf das aber nicht. (Alsterdorf, 11.2.)

„… hörten sie in ihrem Rücken doch noch etwas wie einen Klang, eher ein klägliches Bimmeln, oder ein bloßes Rascheln, wohl nur in der Einbildung? Nur?“ Peter Handke

Lerne, allein zu sein – gleich, wo du lebst und mit wem.

„Ich schreibe Briefe an die Menschen.“ Peter Huchel

Überraschender Schnee: Wieder ist Winter.

Daran erkennst du, wo du bist: der Horizont ein rosiger Schimmer. Ostsee. (Schwedeneck, 17.2.)

„Dieser Mann ist kein Christ“, sagt Papst Franziskus über den populistischen Großkotz und Ami-Land-Billigdemagogen Donald Trump – und macht damit auch deutlich, wie es um die Wehrhaftigkeit der Demokratie bestellt ist, wenn erst ein Kirchenmann kommen muss, um einen solchen dummdreisten Hetzer in die Schranken zu weisen. Wodurch? Durch das rechte Wort.

Slogan: „Will you stay real?“ Müsste es nicht heißen: „Have you been real yet?“

Die Krähen, wie sie hereinkommen, hereinSEGELN unter dem weißen Winterhimmel! Einzeln, im Pulk. Gleichmütig, zugleich konzentriert. Suchen nach Schlafbäumen, wissen um Schlafbäume. (Braunschweig, 20.2.)