Tulpen in der Vase

Natürlich, das Sterben geht weiter. (Wenn diese Welt etwas beherrscht, dann ist es das Sterben.) John Hurt ist gestorben, David Lynchs „Elephantenmensch“ ist Geschichte. (28.1.2017)

Für fünf Tage Gäste aus Weißrussland. Sie belächelten den Luxus in den Barmbeker Straßen; sie kochten sich Würste und aßen sie auf Spiegeleiern, sie belächelten deinen Band mit russischer Poesie. „Mirko! Another question!“ Wundervolle Höflichkeit. Sie bekamen ein Funkeln in den Augen, sobald das Gespräch auf Minsk kam. Minsk. Draußen, der Winter – kein wirklicher Winter. Alles in der Küche blieb in Frauenhand. Alles Organisatorische war Männersache. Mächtige Fellmützen während Ausfällen in die Umgebung. Keine Politik. Keine Poesie. Kein Obst.

Plötzlich – ja, plötzlich! – wieder Schnee. Erst regnete, dann regnete es gesprenkelt mit weißen Funken, dann ging der Regen über in Schnee und hörte darin auf: verregnet, zerregnet. Dann schneite es fünf Stunden lang. Und die Bürgersteige und Vorgärten taten ihr Bestes, um weiß zu werden: Alles verhielt sich still.

Du warst noch bis halb acht allein zu Haus – dann flogst du mit dem dunklen Mantel in die Nacht als Fledermaus.

Mon canard dort sur ma chemise blanche. Mein herrlicher Französischkurs. J’habite dans une pomme et j’achète une jolie jupe rouge!

Tulpen in der Vase, wie sie vortäuschen, lebendig und schön zu sein, die Tulpen, die nichts als toten, schönen, duftenden schönen Toten, die Tulpen.

Gegen die Kaltherzigkeit

Das Gebrabbel von Babel.

„Tag des Großen Schneiens: eine Art Weltspartag“ Peter Handke

Wenn ich eins hasse – nein, hasse nichts, nicht mehr! –, dann Wartezimmer von Arztpraxen, wo man minütlich deutlicher erkennt, man könnte ebenso – für alle dort: Kinder, Patienten, Praxisangestellte, Ärzte, DHL-Kuriere – bereits gestorben und in einer solchen Vorhölle gelandet, man könnte nichts weiter mehr als irgendein Toter sein.

Bevor das Kind aus dem Bus steigt, um durch die Dunkelheit zur Schule zu laufen, knipst es an seinen Sneaker-Sohlen die Lichter – die LEDs – an. (Lurup, 19.1.)

Die Alten, die sich auf der Winterterrasse der Einkaufsmall treffen … gna, gna, gna – gna, gna! Gna, gna, gna! Gna, gna!

Höcke – ab, nach Aleppo.

Die Alten, die sich auf der Winterterrasse der Einkaufsmall treffen … tratschen, lachen einander zu, johlen und rufen wie Kinder, wie 65 Jahre alte Kinder. (Steilshoop, 19.1.)

Gegen die Kaltherzigkeit!

Kein Buch ohne Wrack.

Erinnerst du dich? An das Aquarium deines Großvaters? Die Guppys, die Scheibenputzerwelse? Du warst sieben, acht Jahre alt, und dein Erstaunen grenzenlos, wenn Opa mit dem Kescher einen toten Fisch aus dem Wasser hob. Stumpf, leblos, aber immer noch bunt schillernd lag er in dem weißen Netz, das sich seinem Körper anschmiegte. Aber am schönsten und ruhigsten waren die beiden Mammutskalare mit ihren hohen Flossen, ihrem flachen, aufrechten Körper, der getigert war und schimmerte. Mamas Kosename deshalb: „Mammutskalar“.

Ovid revisited

Bist du ein Normopath?

Erinnere dich: an die schwarzen und kaum schulterbreiten Wendelstiegen, die das Treppenhaus der Dienstboten mit dem Prunktreppensaal verbinden, im St. Petersburger Winterpalast.

Minutenlang zerrt und rüttelt die Elster im Innenhof an einem Stöckchen, das im Gesträuch abgeknickt ist. Kunst? Wut? Nestbautrieb? Verwandlung. (Barmbek, 10.1.)

„Gestalte deine eigene Eule!“

„I can’t remember, and you can’t make me remember.“ Mark Kozelek

Das Zimmer singt

Ein Trubel, ein Jubel, Spektakel und Theater, Pose, Zorn, Gelächter: Ein Pulk aus sieben Halbstarken, wie man sagt, eigentlich aber Ganzstarken – noch nicht Verkümmerten und Verblassten, Müden und Ausgelaugten, Verbitterten und Verblödeten –, fläzt sich in zwei Bussitzreihen, grölt, ruft, staunt und feixt: „Digga, die Hure gesehen?“ – „Ist die Hure, Digga?“ – „Nee, noch nich!“ – „Also, Digga, chill.“ – „Abba bald, Digga, meine ist die, meine Hure!“ – Sie steigen aus beim Soulkebab, ohne ein Gespenst wie mich eines Blickes zu würdigen. Wie unfassbar bedeutsam wieder Blicke sind. „Kuckst du? Kuckst du?“ Kein Dichter hat das voraussagen können. (Barmbek, 5.1.2017)

Vor der Bäckerei, in ihrem goldenen Morgenlicht, einem Barren aus Licht, steht ein bibbernder Dalmatiner und wartet auf seinen Menschen.

Erinnere dich: an die beiden Albatrosse, die während der Überfahrt auf der Drake-Passage der „Bremen“ folgten – erst ein beinahe unsichtbarer Punkt in weiter Ferne, dann zwei, die immer näher kamen, simultan segelnd, kreuzend, wie Wellen in der Luft unter dem hellblauen Wasserhimmel.

Zwölf Jahre lang stand die Artemide-Lampe unter einer Treppe, in einer Abseite, einer kalten Mansarde zuletzt. Als ich sie wiedersah – wiederbemerkte –, war ich wieder 27 und baute mir selber Lampen, die der unerreichbaren Artemide glichen. Heute ist sie eine in die Jahre gekommene Schönheit. Als ich sie anschalte, wird es im Zimmer (meines Lebens) hell.

Das Kind tanzt im hellen Zimmer auf dem Parkett, wo die alten Dielenbretter den immergleichen klagenden Laut von sich geben. „Das Zimmer singt“, sagt das lachende Kind.

Lob der Murmeltierführer

Eine Schuldnerberatung möchte ihre Webseite mit der meinen verlinken. Nur zu!

Hauptsache zusammen!

„To confront, with forgiveness and compassion, the terrifying singularity of my own person.“ John Cheever

„Geldanlage und Grünanlage“, sagt das Kind.

„Je ris merveilleusement avec toi. Voilà la chance unique.“ Mit dir lache ich wunderbarerweise. Da liegt die einzige Chance. – René Char

Die Bücherregale sterben aus.

Und die Zukunft gehört den Frühaufstehern.

Kaum jemand will noch Außenseiter sein, dabei sind fast alle Außerirdische.

Aufschrift auf einem Umzugskarton: „Sommerkleider ich + die Mädchen“. (Eppendorf, 30.12.)

„Patentierter Universal-Sauberhalter“, sagt das Kind und deutet auf das PUSH auf der Einfüllklappe des Mülleimers.

Sie befürchte, schrieb Georg Philipp Telemanns Mutter ihrem Sohn, er werde noch als Murmeltierführer auf dem Jahrmarkt enden.

And thou art far in humanity

„… if there is anything good about exile, it is that it teaches humility. One can even take it a step further and suggest that the exile’s is the ultimate lesson in that virtue. And that it is especially priceless for a writer because it puts him into the longest possible perspective. ,And thou art far in humanity‘, as Keats said. To be lost in mankind, in the crowd — crowd? — among billions; to become a needle in that proverbial haystack — but a needle somebody is searching for – that’s what exile is all about. Pull down your vanity, it says, you are but a grain of sand in the desert. Measure yourself not against your fellow penmen but against human infinity: it is about as bad as the inhuman one. Out of that you should speak, not out of your envy or your ambition …“ Joseph Brodsky, „The condition we call exile“, 1987

Ein vielsagender Lapsus unterläuft Brodsky hier in dem so brillant eingesetzten Keats-Zitat. Statt aus dem Jambus gefallen „And thou art far in humanity“ heißt es nämlich bei John Keats „And thou art distant in humanity“, statt „Und du bist in der Menschlichkeit weit“ also „Und du bist fern inmitten aller Menschen“. In seinem Versepos „Isabella; or, The Pot of Basil“ von 1820 verarbeitet Keats eine Novelle aus Boccaccios „Dekameron“: Isabella soll mit einem „Edelmann und dessen Olivenbäumen“ verheiratet werden, liebt aber den Angestellten Lorenzo, der daraufhin von ihren Brüdern ermordet und verscharrt wird. Lorenzos Geist erscheint ihr im Traum und berichtet Isabella, wo sein Körper zu finden ist; sie gräbt ihn aus und beerdigt Lorenzos Kopf in einem Basilikumtopf, der in ihrem Zimmer steht. Brodsky deutet durch das Zitat an, dass Exil stets eine von einem Einzelnen empfundene, kaum mitteilbare existientielle Demütigung darstellt – weshalb er in dem Ausschnitt aus seinem für eine internationale Tagung von Exilanten verfassten Aufsatz versteckt auch auf Ezra Pound hinweist, den wohl bedeutendsten us-amerikanischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Aufgrund seines fatalen Engagements für den Faschismus Mussolinis wurde Pound nach der Befreiung Italiens von US-Truppen gefangengenommen und längere Zeit in einem Käfig „ausgestellt“, bis man ihm den Prozess machte. Der Todesstrafe entging Pound allein durch ein Gutachten, das ihn für geisteskrank erklärte. Für 12 Jahre war er Insasse in einer staatlichen Heilanstalt, ehe er nach Italien auswanderte und bis zu seinem Tod 1972 in Venedig lebte. Vom Faschismus distanziert hat er sich nie. Brodskys Ausruf „Pull down your vanity, it says, you are but a grain of sand in the desert“ geht auf Ezra Pounds Pisaner Canto LXXXI zurück, in dem es heißt: „Pull down thy vanity / How mean thy hates / Fostered in falsity“. Brodsky und Pound liegen in Rufweite zueinander bestattet auf der Friedhofsinsel San Michele in der Lagune von Venedig. Pounds Grab wirkt monumental und karg zugleich, antikisch, archaisch. An Brodskys ist ein Briefkasten befestigt. Hier die 39. Strophe aus „Isabella; or, The Pot of Basil“ von John Keats:

„«I am a shadow now, alas! alas!
«Upon the skirts of human-nature dwelling
«Alone: I chant alone the holy mass,
«While little sounds of life are round me knelling,
«And glossy bees at noon do fieldward pass,
«And many a chapel bell the hour is telling,
«Paining me through: those sounds grow strange to me,
«And thou art distant in Humanity.“

Bild: William Holman Hunt: „Isabella and the pot of basil“, 1868, Öl auf Leinwand; Laing Art Gallery, Newcastle-upon-Tyne

Erst wieder in Belgrad

Zum ersten Mal hörte ich genauer zu, was – nein: wie eine Elster erzählt. Denn dass sie erzählt, daran kann kein Zweifel bestehen, außer vielleicht in den Erzählungen der Ornithologen; aber die zählen hier nicht, oder nicht mehr als alle anderen. Die Elster gurgelte, schackerte, kollerte, piepte, krächzte und sang, ja kurz flötete sie sogar. Und saß dabei allein, elsterseelenallein oben im kahlen Geäst – offenbar ein Selbstgespräch.

Jeden Donnerstag tritt der junge Hausmeister in den begrünten Innenhof und geht unter meinem Fenster vorbei wie der von seinen Aufgaben bekümmerte Tod.

Ein Tag grauer als der vorige, und der nächste, Wittgenstein zum Trotz, mit Sicherheit noch grauer, noch novembriger. Warum? Im Ernst: Weshalb dieses ewige Gleiche in der Hässlichkeit? Warum ist das Üble, das Zerstörerische und Bekümmernde beinahe stets das Vorherrschende? Denn wir alle wissen doch, wie lachhaft sie sind: der Tod und sein Kurier der Schmerz und alle seine Claqueure: die Niedergeschlagenheit, der Liebeskummer, der Stumpfsinn, die Verfemtheit, die Verzweiflung, die Mutlosigkeit, das Selbstmitleid, die Erbärmlichkeit und so weiter und immer so fort.

Im grauen Regen sehe ich eine schillernde Elster – dieselbe, die sich mit Selbstgesprächen die Zeit vertreibt? – an einer Backsteinhauswand sitzen. In der Vertikalen. Wie eine Fliege von der Größe einer Elster.

Handkes Verwandlung, sobald er anfängt, von Politik zu schwadronieren.

Das Kind zuckt zusammen, sobald das wilde Kind ins Haus gebrochen kommt. Das wilde Kind lacht, johlt, singt, brüllt, stampft und schreit, ob im Treppenhaus oder Keller, im Badezimmer oder Flur, wo es für gewöhnlich Fußball spielt. Das Kind blickt bestürzt zur Decke: Das wilde Kind ist zurück! Der Staub rieselt von den Wänden. Seine Mutter versucht das wilde Kind zu beschwichtigen, vergeblich. Vergeblich! Das wilde Kind heult gegen die Mauern an, bis sie sich öffnen werden oder bis das wilde Kind vergisst, weshalb es eine solche Wut in sich trägt. (Barmbek, 16.12.)

„Ich träume, dass eine Dame, die mir ins Gesicht blickt, sagt: ,Ich sehe, Sie waren bei dem Wettbewerb dabei, aber ich kann an Ihrem Gesicht nicht ablesen, ob sie gewonnen haben oder nicht.’“ John Cheever

Erinnere dich: an die Erzählung deiner Jugendliebe von ihrem jugoslawischen Onkel. Kurz bevor die Familie in Hamburg ins Auto stieg, sagte er ernst: „Jeder, der noch mal muss, der gehe jetzt! Denn ihr wisst, ich halte erst wieder in Belgrad.“