Was wäre wenn

Den wilden Garten gibt es nicht mehr. An der Grenze zwischen Feldmark und Moränenwald hat ein Landwirt eine Schonung zu pflanzen versucht – vergebens. In einem letzten Winkel ist noch der Zauber zu spüren – die Weite der Felder, die Waldgeborgenheit. Aber das Verwilderte gibt es nicht mehr – obwohl das Wilde unbesiegbar ist. (15.9.24)

Peter Gabriel – 1
Peter Gabriel – 3
Peter Gabriel – 2
Peter Gabriel – 4
Peter Gabriel – So

Jeden Menschen, der dir begegnet, sieh dir nicht nur an, blick ihm in die Augen oder blick ihm wenigstens nach.

Genesis – Autumn Storms (Demo Tapes 1976 / 1977)
Genesis – Cynthia’s Dream (Demo Tapes 1971)

Erinnere dich – ja! – an dein Gedicht „Ladida“ – La di da – von 1983?

La Di Da

The Shins – Oh, inverted world

Warten im Distributionszentrum.

Nicht vergessen, Herr Dichter: „Die Nazarener“. Sieben Porträts.

Im Supermarkt erklingt „Supergirl“ von Reamonn aus den Lautsprechern. Eine gebückte Seniorin tippelt mit ihrem Rollator vorbei und summt „I got lost on the way, but I’m a supergirl, and supergirls don’t cry.“ (Hoheluft, 21.10.)

Die von den Simsen der Bahnhofsfassade stürzenden Tauben, aufgescheucht von immer derselben Krähe, die kreischt: „Mein Bahnhof! Meine Mauer! Mein Dach!“ – und die Schatten der Vögel auf dem sonnenbeschienenen Sandstein, die darauf in die Tiefe stürzen und dann wieder hinauf, beide: Schatten und Vögel, Vögel und Schatten. (Dresden-Neustadt, 24.10.)

„Soll ich dir meine neueste Erfindung zeigen?“, fragt das kleine Mädchen seine Großmutter, die daraufhin nickt – bevor ihr das Kind einen Handspiegel vors Gesicht hält: „Du!“

Die ganzen Leute, wie sie ab vormittags den ganzen Tag lang in den namenlosen „Dat backhuus“- und „Der Junge-Bäcker“-Backcafés sitzen, zumeist einzeln und schweigend blätternd in ihren Handys oder einem Wochenblatt, überall an den Ausfallstraßen, den Stadträndern, in den Gewerbemischgebieten, die seit einiger Zeit „die Zwischenstädte“ heißen – sie machen genau denselben Eindruck wie die Krähen in den allmählich entlaubten Baumkronen entlang der vielbefahrenen Straßen, die nirgendwohin führen als in täuschend ähnliche Siedlungen aus Doppelhaushälften, Nagelstudios, Apotheken, die noch überlebt haben, und Backcafés, Gebrauchtwagenhändlern und Backcafés. (Sagasfeld, 29.10.)

Wie hinausgefegt, dematerialisiert – in keinem Raum oder Saal ist schneller niemand mehr, kein Mensch mehr zu hören als in einem Hörsaal Sekunden nach dem Ende des Wortschwalls. (München, LMU, 7.11.)

Letzte Notizen zu Zlín

Der Fahrstuhl des Jan Antonin Bat’a misst sechs mal sechs Meter und ist ein Büroraum mit Doppelschreibtisch, Klapptisch und -stuhl für die Sekretärin, mit Waschbecken, Telephonen, Weltkarte an der Wand, mit Fenstern und Regalen und Schubfachkommoden. Bat’as Lift erklimmt 16 Stockwerke in einer knappen Minute, das auf- und abwärtsfahrende Chefzimmer knarzt leicht, aber funktioniert auch 86 Jahre nach seiner Konstruktion tadellos. Bat’a hat den Inbegriff seines Tycoondaseins persönlich nie betreten, geschweige denn ist er mit dem Lift auf und ab gesaust, um, so sein Plan, die administrativen Angestellten in seinem Zlíner Administrationsturm zu jeder Zeit kontrollieren zu können. 1939 nahm er Reißaus vor der nazideutschen Okkupation und floh nach Brasilien. Sein Fahrstuhl beschert eine unvergleichliche Empfindung, die er selber sich womöglich vorstellte, aber nie hatte. Die sogenannte Wirklichkeit verliert eine für unverrückbar gehaltene Grenze. Sobald ein Schlüssel gedreht und ein Knopf gedrückt sind, scheint man mitsamt des Zimmers, seinen Wänden und allem, was darin ist, fliegen zu können.

In Zlín spielen im Spätsommer Nazareth. Ich habe an einer vergessenen Plakatwand ein verblasstes Konzertplakat gesehen, das Nazareth in Zlín für Herbst 2018 ankündigte. Sollten Nazareth seitdem in Zlín wohnen und alle drei Monate hier „Loud ’n’ Proud“ spielen?

Neonwerbung an einer Hauswand: EXPLICIT REALITY.

Václav Chad. Rubens-Kopf (undatiert)

My business is oddity. Es ist seltsam, das Jan Antonin Bat’a nie wieder nach Zlín zurückgekehrt ist, oder nach Gottwaldov, wie Zlín 40 Jahre lang unter den Kommunisten hieß. Es ist seltsam, dass er sich als Zweitboss hat eine funktionalistische Villa bauen lassen, von der er wissen musste, dass der reduzierte und zugleich ergreifend schöne Bau den Unmut des Schuhpatriarchen auf sich ziehen würde. Ich finde es seltsam, und finde es gut, dass J.A. sich nicht beirren ließ. Monatelang, heißt es, hat er jede Zusammenarbeit mit dem großen Halbbruder Tómaš verweigert, der für sich beanspruchte, als einziger in einer repräsentativen Villa zu residieren.

Ist das hier eigentlich für irgendjemanden von Interesse? Ja, für mich und für die Menschen in und aus Zlín. Hier lebt für vier Wochen ein Deutscher in ihrer so besonderen Stadt, der weder Geld scheffeln noch andere unlautere oder gar feindliche Absichten hat. Mein Interesse an Zlín und seinen Leuten ist groß, und ihres an mir und meinen Beobachtungen und meinem Schreiben ist es nicht minder.

Auf meine Eintrittskarte in Form einer Stempelkarte stempelt die originale Stechuhr der Bat’a-Werke die Uhrzeit 10.17. Ich besichtige an die 20 Vitrinen mit Schuhen aus aller Welt, die frühesten sind Steinzeitschuhe, Nachahmungen der Sandalen des Ötzi.

Tom Stoppard kam 1937 als Tomáš Straussler in Zlín zur Welt, seine Eltern waren Juden, sein Vater einer der Ärzte im Bat’a-Krankenhaus am Ufer der Dřevnice. 1939 floh die Familie vor dem Zugriff der Nazis nach Singapur und Indien. Wie Jan Antonin Bat’a kehrte Tom Stoppard nie nach Zlín oder später Gottwaldov zurück, das Haus seiner Eltern, dass ich mir ansehe in der Straße aus identischen Häuschen für Ärzte und Ärztinnen, in denen heute kleine Familien und Senioren leben, hat er nicht wiedergesehen. Es gibt daran nichts, das an ihn erinnert. Was würde, freilich auf Tschechisch, auf der Plakette stehen? Hier wohnte von 1937–39 der Junge Tomáš Straussler mit seiner Familie. Als Tom Stoppard wurde er später ein gefeierter britischer Dramatiker und schrieb u. a. das Drehbuch zum Kinowelterfolg „Shakespeare in Love“.

Ein Fließband zur Schuhherstellung war etwa 20 Meter lang, zehn unterschiedliche Maschinen an jeder Seite des Bands, die Halle geteilt in vier Bereiche mit je einem Band und einer Stafette von Nähtischen an der Fensterfront. Der Lärm in der Halle war ohrenbetäubend – ein Ausdruck, der nichts mehr bedeutet, der selbst taub geworden ist. Lehrlinge verrichteten ab 14 Jahren dasselbe Arbeitspensum wie Arbeiterinnen und Arbeiter. Es gab außerdem zu verteilende Heimarbeit, und es galt das Verbot, im eigenen Garten Gemüse und Obst anzubauen, da die Arbeitskraft der Fabrik vorenthalten war.

Die mit füntausendstelligem Abstand größte Hausnummer, unter der ich je zu erreichen war: In Zlín wohne ich Fügnerovo nábřeží 5476.

Václav Chad. Selbstporträt (undatiert)

Nach Ploština kommen meine Frau und ich an einem verregneten Sonntag zufällig. Wir fahren mit dem Wagen in die Slowakisch-mährischen Karpaten und werden hoch oben in der Mährischen Wallachei auf ein Betonmonument aufmerksam, dessen vier sternförmig angeordnete Stelen wie steinerne Flammen in den grauen Himmel ragen. Unterhalb des Mahnmals ein unterirdisches Ausstellungsgebäude, unweit davon liegt eine Siedlung mit Kirchlein und einer Handvoll Gehöften. Kleine Schautafeln vor jedem Gebäude beschreiben die Ereignisse in Ploština am 19. April 1945 einzig auf Tschechisch, Fotos zeigen Bauern und ukrainische Partisanen. Das Grauen, das am Tag vor Hitlers Selbstmord in Berlin hier geherrscht hat, ist spürbar, die Landschaft und ihre Stille bewahren es auf, indem sie zum Spiegel der Vorstellungskraft werden. Die Schergen von SS und Gestapo, die mit Hilfe zweier tschechischer Spitzel aus Zlín, zwei von der Arbeit angewiderte Arbeiter bei den Bat’a-Werken, in Ploština wüteten und 27 Einwohner der alten Pasekaren-Siedling erschossen oder in ihren von außen verrammelten und angezündeten Häusern verbrannten, die Männer des SS-Einsatzkommandos „Josef“ unter dem Kommando von Kurt Werner Tutter wurden für ihre Verbrechen nie zur Rechenschaft gezogen. Ich kann nicht beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, dass dieselben Menschen auch für Václav Chads Verhaftung und Ermordung drei Monate zuvor in Zlín verantwortlich waren, denkbar ist es allemal. Das Grauen ist stets von Menschen ersonnen und von Menschen gemacht. Das Grauen ist ein Euphemismus und meint immer die Grausamkeit von Menschen an anderen Menschen.

Das Regional- oder Landesmuseum für Schöne Künste öffnet für uns sein Depot. Drei großformatige Gemälde Václav Chads und an die zehn Zeichnungen kann ich bewundern, darunter einen auf Holz gemalten Rubens-Kopf und ein spätes Selbstporträt.

In Jan Antonín Bat’as Villa ist heute das Lokalradio untergebracht. Als die Schuhfabrik verstaatlicht und Zlín umbenannt wurde in Gottwaldov, setzten die Kommunisten einen Plattenbau in den früheren Park.

Meine Bat’a-Schuhe damals muss ich mit sechs oder sieben Jahren bekommen haben, wahrscheinlich zur Einschulung 1971. Ein Jahr später wurde Wilhelm Genazino Schuh-Tester für den Bat’a-Konzern und blieb es für Jahre. Einen Monat lang hatte Genazino ein Paar Schuhe zu erproben, in Frankfurt und Mannheim und an der Riviera, bei Sonne und Regen, Schnee, Hagel und Frost, allem Schmerz zum Trotz stehen bleibend, kritzelnd, weitergehend in den Bat’a-Schuhen. Fragebögen. Die Schuhe durfte Genazino behalten. Mir hat nie einer einen Fragebogen geschickt. Ich hätte meinem Glück aber irgendwie Ausdruck verschafft!

Zlín verabschiedet mich mit einem halben Sonnentag. Noch einmal, wie zum endgültig erbrachten Beweis, dass ich hier war, werde ich fotografiert, diesmal am Ufer der Dřevnice. Zwei Fischreiher stehen im Wasser und wirken arbeitslos. Dann rollt ein dottergelber Trolleybus vorbei, und die Vögel mit den meterbreiten Schwingen steigen auf und fliegen davon über die Siedlung und den vietnamesischen Eckladen. Wir fahren Richtung Wien und kommen an Vnorovy vorbei, 1922 wurde dort Jan Skácel geboren. Die letzte Rast in Mähren machen wir in Břeclav, wo 1923, anderthalb Jahre später, Václav Chad zur Welt kam, aber nichts an ihn erinnert. Sein letztes Bild blieb die rasch aufs Papier gekritzelte und rot betuschte Aquarellzeichnung „Válečný motiv“, „Kriegsmotiv“, ein Behelfstitel.

Václav Chad. Kriegsmotiv (1944 / 45)

Frances Brawne Lindo

Es schüttet im Park,
durchs Zimmer gehen
Kerzengeflacker und

das Prasseln. Fenster
sind keine Wände. Sie
will noch einen Schluck

von dem dunklen Tinto,
da lächelt Señor Lindo.
Meine Liebe, flüstert er,

unvernünftiger Schatz.
Der Diener schenkt ein.
Aber sie will ja gar nicht

trinken, nur denken, sie
hört ihre Mutter und John,
weil beide wieder leben.

Mom ist nicht verbrannt
nach dem Gartenfest, ihr
Taftkleid fing nicht Feuer,

denn es goss in Strömen,
der Regen war ein Engel.
In den letzten römischen

Briefen, todkrank schon,
ertrug es Mr Keats nicht,
ihren Namen zu nennen,

deshalb schrieb er XXX.
Aber las die Mutter ihr vor,
so sagte sie immer Fanny

an den Stellen mit Kreuzen.
Sie taucht den Zeigefinger
in das Glas Wein und spürt

das Leben und seine Fülle,
sie zeichnet mit der Finger
-spitze drei schwarze, rote

X aufs Tischtuch. Wandern
Tote durch unser Herz, Lindo,
oder sind sie der Kerzenwind.

Vorletzte Notizen zu Zlín

„Ze dvou světů jeden mrtev, druhý bez moci se narodit“, „Von zwei Welten ist die eine tot, die andere außerstande, geboren zu werden“, betitelte Václav Chad eine späte Zeichnung. Eine andere heißt „Das Ende meines Tagebuchs, 18. Feb.“, sechs Tage später verhaftete und erschoss ihn die Gestapo.

This Mortal Coil – It’ll end in tears

Nebel stieg auf aus den Auen der March, der Morava am Morgen, an dem Tomáš Bat’a mit seiner Junkers vom Flugplatz bei Otrokovice nach Möhlin in der Schweiz fliegen wollte, um sich dort mit seinem Sohn abzustimmen über eine Konzernniederlassung, die die strikten Zollgesetze zu Anfang der Dreißigerjahre umging. Sein Privatpilot Jindřich Brouček riet aufgrund des Nebels vom Start ab, und es war noch keine sechs Uhr morgens, als ein anderer erfahrener Flieger anbot, aufzusteigen, um die Sichtverhältnisse zu klären. Doch Bat’a lehnte ab und wies Brouček an, die Junkers startklar zu machen. Es galt, keine Zeit zu verlieren. „Ich sage, Sie machen, Jindřich.“ Ist das nicht eigentlich das ganze Problem? Dass einer sich aufschwingen und entscheiden zu können meint über Machbares und Unmögliches? Es ist die eine Hälfte. Weshalb trat Jindřich Brouček seinem Chef nicht entgegen und verweigerte den Startbefehl? Er hätte gute Gründe anführen können, nicht zuletzt die Sorge um sein eigenes Leben. Acht Minuten flogen die beiden, Tomáš Bat’a in der fensterlosen Kanzel neben seinem Piloten, ehe der erfahrene Brouček, der als wagemutig galt, wie vorausgesehen die Orientierung verlor – .

This Mortal Coil – Filigree & Shadow

Im pünktlichen Zlínner Abendlicht steht ein Angler in der Dřevnice, während seine Frau an der Uferböschung auf einer Bank sitzt und in ihrem Handy scrollt. Das dürfte wahre Liebe sein.

Velké Kino (2025)

Im seit neun Jahren wegen Einsturzgefahr geschlossenen Riesenbau des Velké Kino komme ich mir vor wie an Bord eines Ozeandampfers vor seiner Verschrottung. Nach seiner Eröffnung 1931 fanden über 2.400 Menschen in František Lydie Gahuras Mehzweckhalle Platz, bei Regen strömten in ihrer Mittagspause Arbeiterinnen und Arbeiter in Foyer und Vorführsaal und sahen Reklamefilmchen und Unterhaltungsstreifen. Im Projektorraum hängt das Bild eines Busenmodells aus dem Kalender von 1995 neben einem Zettel mit zwei Vornamen und zwei Telefonnummern. In der alten Garderobe eine Sammlung ausrangierter Scheinwerfer. Auf das Flachdach prasselt der Regen, von dem man hört, wie er Kanälen durch das Mauerwerk folgt. Gahuras einst zukunftsweisende Stahlverstrebungen wirken wie zurückgelassene unlesbare Riesenlettern aus einer industriellen Antike, und der Bühnenvorhang ist zwar verschwunden, nicht aber die Rollbahn, über die er bei Öffnen und Schließen lief, ebenso wenig wie die Überreste der ersten Leinwand an der Backsteinmauer aus einer Zeit, als es im Velké Kino noch keine Bühne gab, nur 2.400 Stühle in einem einzigen dunklen Raum, durch den Licht flimmerte. Alle Menschen sitzen noch immer dort, denn wohin sollen Gespenster, wenn nicht ins Kino? Dort ist alles wie sie. Der Denkmalschützer zeigt mir einen Raum mit einem Bord nur für die großen schwarzen Buchstaben, aus denen die Titel der gezeigten Filme zusammenbuchstabiert wurden. Aus den Trolleybussen, die auf der Ausfallstraße unterhalb des Kinos unverändert hin und her pendeln – denn es sind exakt dieselben –, konnten die Leute die Filmnamen lesen.

Neueste Notizen zu Zlín

Václav Chad. Bild mit roter Pforte (1943)

Václav Chads 1943 gemaltes Doppelporträt „Obraz s červenou brankou“ („Bild mit roter Pforte“) haut mich um, als ich es heute in der Zlìner Regionalgalerie der Schönen Künste zum ersten Mal sehe. Ich will es nicht beschreiben. Aber muss es. Rechts sieht man einen sich gegenperspektivisch aufwärtsschwingenden Weg. Das Tor hat glatt gesägte Pfosten, aber einer, der den beiden jungen Männern in der Bildmitte nächste, hat eine rote Spitze.
Ich sehe in den beiden Gesichtern auf Anhieb alle Freundschaften wieder, die ich im Leben hatte und zum Teil zum Glück noch habe. Die Augen! Und im Hintergrund, vor einem Bauernhof vielleicht, vielleicht am Winken, ein zweites, aber verschwommenes Paar. Ich kann es nicht beschreiben. Eine Mann, eine Frau? Zwei Frauen, zwei Schwestern? Zwei Bäume, dazwischen die Tür. Ein Geländer zwischen den beiden Paaren. Das hellblaue Geländer ist die Vorstufe zur roten Pforte. Und die Bank da, rechts am Weg, der aufsteigt wie ein gewölbter Spiegel, die Bank ist leer.
Verzaubert bin ich vom Blau der Umhänge der beiden da Fliehenden. Das Bild stellt die Frage, wovor sie flüchten, und stellt sie mir. Aber das Politische ist immer eine Ausflucht. Chad malt 1943 die Innigkeit der beiden Freunde, die da weglaufen, zu recht, denn sie nehmen Reißaus vor dem Grauen.

Das kleine Mädchen im Büro ihres Vaters. Sie ist vertieft ins Tablet. Und wenn nicht, hüpft sie durch die Gegend mit Kurs auf ihren Vater, der beschäftigt ist. Damit sie weiterhin so in Sicherheit ist. Aber das weiß sie nicht.

The Black Atlantic – Reverence for fallen trees

In der Rotunde im Blumengarten von Kroměříž hängt eines von vier Foucault’schen Pendeln auf der Welt, aber dieses hier pendelt nicht, es hängt still wie ein vergessenes Ei von der Kuppel, und die Rotunde ist abgesehen von meinem Herz und mir menschenleer.

An der March kann man nicht mehr spazieren gehen, höchstens vielleicht nachts, wenn keine E-Biker halsbrecherisch durch das grüne Licht der Flusslandschaft brettern.

Das erste Wort, das ein fremder Zlíner zu mir sagte, kam aus dem Mund eines kleinen Jungen. An der Hand seines Vaters sagte er am Ufer der Dřevnice „Ahoi!“ zu mir.

Auf dem Brünner Freiheitsplatz verläuft ein Gedicht von Jan Skácel im Kreis um einen Brunnen. Keiner liest es, man würde es ja erkennen, er oder sie müsste langsam, wie ein Zeiger, um die runde Wasserfläche herumgehen, die Augen gesenkt auf die Verse, müsste sich Zeit nehmen für das Ticktack des Metrums dort im geduldigen Stein. Ich täte es, doch kann zwar die Wörter, nicht aber ihre Bedeutungen lesen.

Die hügeligen Felder rings um das Kriegerdenkmal der so genannten Dreikaiserschlacht von Austerlitz erscheinen mir noch 220 Jahre nach den Ereignissen vom 2. Dezember 1805 erfüllt von dem mörderischen Lärm. Im absurden Verlauf von rund siebenstündigen Kampfhandlungen starben an die 15.000 französische, österreichische und russische Soldaten, darunter zahlreiche Österreicher und Russen, nachdem Napoleon den Befehl gab, mit Kanonen die zugefrorenen Seen zu beschießen, über die hunderte gegnerische Soldaten zu fliehen versuchten. Der heutige Grabhügel des Friedens ist eine pompöse Verewigung des unmenschlichen Gemetzels. An keinen einzigen Getöteten – ausschließlich Männer, die meisten davon keine 25 Jahre alt – wird in irgendeiner Form persönlich erinnert. Namen tragen nur die Feldherrn, die Generäle und höheren Offiziere. Es war ein bis zwei Grad kalt an dem Tag.

Mehr Notizen zu Zlín

Stünde im Waschsalon nicht alles auch auf Englisch an den Tafeln, ich würde ab morgen zu verwahrlosen beginnen. Vorbei mit deiner Inselpracht. Du musst dich nicht verkriechen, vielmehr umsteigen. Es gibt andere Drogen als die der Abgeschiedenheit.

Sogar die Uhrzeit ist anders, zumindest in meiner Wohnung in Zlín-Kúty. Den neumodischen Ultra-Touch-Eletronická-Herd und seine einzige Uhr in der Bude kann ich nur eingeschränkt bedienen. Unveränderbar ist es 74 Minuten früher.

Im Supermarkt gibt es Mandle plátky Naturalia. Und es gibt Hermelin in der Tüte, Hermelín Sedlčansky. Wo immer ich tschechische Sprachfetzen höre, elektrisieren sie mich. Ich verstehe kein Wort, aber höre die Längungen und die Weichungen, die mir etwas mitzuteilen scheinen. Ich denke an Trakl und daran, dass er zu seinem Freund und späteren Nachlassverwalter Karl Röck gesagt haben soll, auch mit Gedichten könne man sich nicht mitteilen. „Man kann sich überhaupt nicht mitteilen“, soll Georg Trakl im Winter 1912 in der Innsbrucker Stehbierhalle zu Karl Röck gesagt haben. Wahrscheinlich weil ich es nicht verstehe, höre ich etwas tief Warmes im Tschechischen, es hat viele Schattierungen, und es kommt aus einer Zeit, die nur fortbesteht, weil die Überlieferung fortbesteht.

Vom anderen Flussufer lacht eine Frau herüber, und im selben Moment ereignet sich, was ich längst vergessen habe.

Die Lutoninka fließt in die Dřevnice, die in die March fließt. Die March fließt in die Donau und die Donau ins Schwarze Meer. „Least rivers – docile to some sea / My Caspian – thee“ lautet eines der kürzesten Gedichte von Emily Dickinson, es trägt Johnsons Nummer 212.

Die südmährische Landschaft zwischen Zlín und Hluk ist hügelig, voller weiter Täler, die zu Feldern heraufkommen. Überall an den größeren Straßen stehen Heiligenbilder, oft sind sie blumenverziert. Man sieht viele überfahrene Tiere, vor allem Igel.

Die Augen der Pferde, die zwangsweise beteiligt waren am „Ritt der Könige“ durch Hluk, erschienen mir zuerst ängstlich wie immer, wenn Pferde gezwungen sind, es mit uns zu tun zu bekommen. Aber es lag auch Erstaunen in ihren Augen. Wieso machten wir das? Der Umzug war schmal, da fast schon zu Ende, und doch beeindruckend, auch wenn er sich pünktlich verlor. Die jungen Männer, die die Könige, Ritter und Knechte darstellten, waren zwar keine Jünglinge mehr, aber sie hielten in ihrer Mitte auf einem Schimmel einen maskierten Reiter in Brautkleidern versteckt, der mir neben den Blicken der Pferde wie das eigentliche Kraftzentrum des ganzen Zuges vorkam.

Unterhalb der Hluker Kirche steht am Portal ein Engel vor den Daten der örtlichen Weltkriegsgefallenen. Auch hier, wie überall wohin ich komme, ob in die Provence oder die Toskana, gibt es die Tafeln mit den Namen junger toter Soldaten. Mein ganzes Leben lang verfolgen sie mich. Der Engel ist erstaunlich realistisch, fast real. Wäre er nicht aus Stein, es gäbe zwischen mir und ihm keinen Hinderungsgrund, uns zu unterhalten.

In der Nacht braust ein Unwetter los, wie ich es zuletzt in Rio de Janeiro und in Shanghai erlebt habe, ein Taifun über Zlìn. In Rio und in Shanghai stürzten unfassbare Mengen an Regen zur Erde. Ich weiß noch, der Bus nach Ipanema, in dem ich saß, er schwamm mehr, als dass er fuhr. In Shanghai zertrümmerte der Regen einem Fahrradkurier die Fracht, er hatte einen Eisberg aus Styrorporfetzen geladen. Aber an der Dřevnice regnete es nicht, sondern stürmte. Der Wind ließ die Birken hin und her wanken, wie er wollte. Der Sturm hieß Jahomir, und er wollte unbedingt der größte Sturm aller Zeiten sein, zumindest in Zlin. Bitzlichter. Blitze. So lesbar wie unlesbar waren ihre Ypsilons am rosa Himmel.

Der Regen hielt eine Nacht, einen Mittag und Nachmittag an, dann kam der blaue Himmel zurück und die schöne Sommersonne durch die Fenster.

Graues Zlín seit zwei Tagen. Ein Gerüstbauer oder Maurer geht mit seiner Freundin Frau Bierflasche unter meinem Balkon vorbei. Was sollte ich ihm sagen, wenn ich seine Sprache spräche? „He, lies Tom Stoppard!“? Wohl kaum. Worüber sollten wir also reden, falls wir uns verstehen könnten?
„Fischen in der Morava, wie schön das noch war 1977“, würde er vielleicht sagen.
Und ich antworten: „Das Jahr, in dem Peter Gabriels erstes Soloalbum erschien. Gabriel wäre nach der Wende bestimmt nach Zlín gekommen, um im Großen Kino zu spielen – aber keiner hat ihn eingeladen.“
„Mich hat auch keiner nach England eingeladen“, würde der angelnde Maurer sagen. „Ať ryby nikdy nechybí!“

In Prag das Licht auf der Moldau. In Prag das Gras zwischen den Kopfsteinpflastersteinen.

Mein Dichterfreund, Sohn eines vorm Schah nach Prag geflohenen Iraners und einer Tschechin, Farhad Showghi kam hier 1961 zur Welt und hieß ursprünglich ganz anders, wenngleich der Nachname auch ähnlich klang. Ich kenne meinen Freund seit 35 Jahren, aber das hat er mir erst heute in einer WhatsApp geschrieben.

Die Quader von Otrokovice und Malenovice schieben sich zu Zlín zusammen, aber wirklich.

Die junge Vietnamesin fragt mich, was ich außer Mango Pulp in Zlín suche, und ich erkläre es ihr. Sie ist schwer begeistert, Poesie, Romane, weite Reisen, und sie wartet, bis ich danach frage, bevor sie zu erzählen beginnt von ihrem Mann und ihrem Laden, den die beiden jungen Eltern erst seit vier Monaten haben.

Die Notfallaufnahme im Parkkrankenhaus von Tomas Bat’a ist bestens organisiert. Das Blut meiner Frau wird binnen drei Minuten analysiert. Während ihre Assistentin ein Rezept ausstellt, befragt uns die lächelnde Doktorin mit der Opernsängerinnenpräsenz zu literarischen Vorlieben.

Begegnung am Grab der Schuhkönige. Über den Waldfriedhof flitzt ein mutterloses Rehkitz. Immer wieder bleibt es stehen, lauscht und staunt herüber. Es hat keine Schuhe, es hat keine Schuhe, es hat keine Schuhe, aber kennt die Ruhe, kennt die Ruhe, kennt die Ruhe.

Als der Schuhkönig 1932 bei Otrokovice mit seiner Junkers abstürzte, war sein Sohn zu jung, um das Imperium fortzuführen. Tomáš Jan Baťa ging sieben Jahre nach dem Tod des Vaters nach Kanada und wurde dort seinerseits Schuhkönig. Erst 1989 kehrte er nach Zlín zurück und rücküberführte das verstaatlichte Königreich seines verstorbenen Onkels in ein noch größeres Schuhimperium. Tomáš Jan Baťa starb 2008. Seine Grabplatte ist in die des Vaters eingelassen.

Auf dem Zlíner Waldfriedhof liegt auch Karel Zeman begraben, der für seine Trick- und Animationsfilme u. a. in Cannes und Venedig ausgezeichnet wurde und der in Zlín-Kudlov zunächst im Bat’a-Filmstudio Werbefilme für Schuhe drehte. In Kudlov bestaune ich die St. Wenzelskapelle des Bat’a-Architekten František Lydie Gahura, ein minimalisierter Backsteinblock von eigensinniger Schönheit, leider ebenso verschlossen wie Gahuras etwas größere, aber genauso wundersam strikte Viereckkapelle des hll. Kyrill und Method in Komárno. Auch František Lydie Gahura liegt auf dem Zlíner Waldfriedhof bestattet.

Neue Notizen zu Zlín

Platzwechsel

Ich schick dir den grauen Himmel,
den du mir geliehen hattest,
hiermit zurück. Aus Zlín.

Wo ich bin, steht die Luft.
Die Hitze ist ein Herzstillstand,
und das Gras überlegt ernsthaft,

zu brennen. Beendet ein Freund,
beendet er eine Freundschaft,
ohne Gründe zu nennen?

Offenbar. Das Gras plant
augenscheinlich wirklich,
in Flammen aufzugehen.

Wohin ist der Mensch, der
die letzten Tage immer schlief
im Schatten des Altglascontainers.

Ich fahre über die Dřevnice und
bin ein anderer. Sie lacht grün,
sie funkelt. Sie und ich in Zlín.

Im Netz finde ich eine Seite mit englischen Übersetzungen, Nachdichtungen und Fortschreibungen von fünf Gedichten Jan Skácels. Vier davon habe ich in Reiner Kunzes Übersetzung gelesen im Band „Fährgeld für Charon“. Die Nachdichtung stammt von Jerome Rothenberg, dem 2024 verstorbenen Ethnopoeten, Dichter und Herausgeber, eine Art US-amerikanischer Hubert Fichte.

All that Remains of Angels

Morning,
trees still bandaged
all the rest untouched,
between two poplars
half asleep in flight
a levitating angel

Through cracks in sleep
he sings

The first one on the street
he whom that song would wound
may stand there half suspecting
yet never catching a glimpse

A greenness
all that remains
of those angels

Die Übertragung ins Deutsche von Reiner Kunze lautet:

Was vom Engel übrigblieb

Frühmorgens,
alle bäume sind noch eingebunden
und die dinge unberührt,
erhebt sich zwischen zwei pappeln der engel,
schläft im fluge aus.

In den rissen des schlafes singt er.

Wer als erster die gasse betritt,
verwundet wird von diesem gesang,
vielleicht ahnt er etwas,
aber er sieht es nicht.

Es ist grün,
und das ist alles, was vom engel übrigblieb.

An meinem Dřevnice-Ufer schreitet im schwarzen Abendkleid eine Hochschwangere allein dahin. Ein wundersamer Anblick. Über den Himmel flog unterm Mond durch eine Krähe, das musste etwas bedeuten. Tat’s aber nicht. Ich bin zu alt für Omen. Auch für Kinder allmählich. Für Flüsse noch nicht, und Krähen kenne ich viele.

Eine erste Übertragung von Skácels schönem, in seiner Kürze und Fülle berückenden und sofort unvergesslichen Gedicht:

Was von einem Engel bleibt

Morgens,
Bäume unter sich, alles sonst unberührt,
schwebt zwischen zwei Pappeln
im Halbschlaf so dahin
irgendein Engel.

Durch Risse im Schlaf singt er.

Dem Ersten auf der Straße
wird der Singsang wehtun,
vielleicht ahnt er etwas
aber sieht es nicht.

Ein Grün –
alles, was von einem Engel bleibt.

Im tschechischen Original lautet Jan Skácels Gedicht von 1960:

Co zbylo z anděla

Ráno,
pokud jsou všechny stromy ještě obvázané
a věci nedotknuty,
mezi dvěma topoly anděl se vznáší,
v letu dospává.

V trhlinách spánku zpívá.

Kdo první na ulici vyjde,
tím zpěvem raněn bývá,
snad něco tuší,
ale nezahlédne.

Je zeleno —
a to je vše, co zbylo z anděla.

Ein junger Mann, vermutlich Zlíner, geht kurz vor Mitternacht unter dem Balkon vorüber, er telefoniert offenbar mit seiner Liebsten. Ich höre sie seufzen, als er ihr etwas Gutes oder sogar Schönes sagt, vielleicht über das Foto aus der Umkleidekabine, das sie ihm heute Nachmittag geschickt hat, auf jeden Fall spürt sie seine Wertschätzung und hält sie für Liebe, ja, so muss es sein.

Abgesehen von der schönen Wacholderdrossel, die am Bachufer im schattigen Laub saß, habe ich heute mit niemandem Bekanntschaft geschlossen.

Immer wieder, so kommt es mir zumindest vor, lese ich bei Jan Skácel von dem Fluss mit dem schönen Namen March. Erst seit heute weiß ich, dass die March auf Tschechisch Morava heißt und somit Mähren den Namen gibt, Moravia. Aber ich stochere hier nur so in der March herum. Oder werde es demnächst tun, denn heute fand ich außerdem heraus, dass die March oder Morava unweit von Zlín vorbeifließt an Otrokovice. Die Dřevnice mündet dort in die March.

Standen eigentlich 1968 sowjetische Panzer auch auf den Plätzen in Zlín?

Zlín (2025)

Notizen zu Zlín

Neunstündige Fahrt Richtung Südosten, Wolfenbüttel, Leipzig, Dresden, Prag, Praha, Brünn, Brno, bis nach Zlín. Ein lichter Sommertag in Sachsen, Böhmen und Mähren. Ich fuhr durch wundersam anmutende Landschaften, Hügel, die zusammenrücken zu Gebirge. Es gab den Harz noch, es gab das Erzgebirge ohne Zweifel. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Elbsandsteingebirge und der Autobahn, ich habe die Verbindung hergestellt. Ich hörte neun Stunden lang Musik von The Smile, Humble Pie, Muse, Sun Kil Moon und Destroyer. Das Licht wurde rosiger, als ich durch die Ebene von Austerlitz fuhr. Zlín setzte sich vor meinen Augen zu Quadern zusammen. In seinen Gewerbemischgebieten verdichtete sich die Stadt, wuchs an und quadratisch in die Höhe wie in die Breite. Das Flüsschen, das durch Zlín läuft, heißt Dřevnice.

Für die, die’s angeht, die gesamte Playlist:

The Smile – Wall of eyes
Humble Pie – Humble Pie
Muse – The 2nd law
Sun Kil Moon – Universal themes
Destroyer – Ken

Eine Frau im hellblauen Kleid überquert in Zeitlupe den Parkplatz.

Kurz nach Mitternacht Hufgetrappel von der Straße. Jemand reitet in der linden Kühle sein Pferd aus.

33 Millionen Schuhpaare wurden in den Baťa-Werken hergestellt, oder waren es 633 Millionen? Eins davon hatte ich als kleiner Junge. Die Schuhe waren rot, das Leder irgendwann faltig, und sie hatten den Schriftzug in golden lackiertem Metall an den Außenseiten.

Die Schrift hat keine Akzente, aber Zeichen für Längung und Weichung. Tschechisch ist eine warme, wandelbare, vom Körper auf vielfältige Weise geäußerte Sprache.

Ich träume in diesen Hitzenächten von Zobeln, menschenleeren Dorfbahnhöfen, von Einsamkeit und Trost, die das Dichten beide mit sich bringt. Ich lese ja Jan Skácel in Reiner Kunzes Übersetzung während Zigarettenpausen tags auf der Terrasse, die ein gleißender Backofen ist.

Alles unlesbar für mich auf den Mineralwasserflaschen im vietnamesisch geführten Ecksupermarkt.

Durch die Hitzewand fließt plätschernd die Dřevnice, eine zeitlose Schönheit ist sie, mit Kaskaden, mit Mäandern, mit grün loderndem Geglitzer, damit das Reißbrett-Zlín auch Kurven, Wellen, Bögen hat. Angler stehen in der brüllenden Hitze tief im Wasser. Die Fische lachen sich tot.

Van Morrison – Astral weeks
Van Morrison – Beautiful vision

Hinter den Altglascontainern schläft einer auf einer Bank. Wieso steht da eine Bank? Garantiert träumt er von Glas.

Im Laden der Vietnamesinnen giggelt die ganze Zeit ein Kind in einem Kinderwagen. Die beiden Verkäuferinnen wechseln sich ab an der Kasse und mit dem Kind.

Vogelbeeren in Reillanne

Noch immer blinkt das Blätteraluminium
der Pappeln im Wind, immer noch kommt
grasgrün das Gras zurück. Die kleine blaue
Feder schwebt in den Müll, und ein Schwarm
Stare stiebt auf und ist einen Atemzug später
der Punkteschatten über der sonnenbefluteten
Straße. Weil wir befreundet sind, erklettern wir
Krater gemeinsam. Und oben, lachen wir es aus,
das Feuer, mein Lieber, ehe wir zurückschlendern
ins Tal, um im nächsten Dorf ein, zwei kühle Glas
Empedokles zu zischen. Es gibt nur ein einziges
Leben, und das ist endlos. In der Augusthitze,
in den Gewittern und der alles überdauernden
Kargheit, verrückt sich der Alltagsballast und
verliert an Gewicht. Hörst du, Tschaikowskis
Melodie klingt durch die Violinen der Zikaden.
Mit dem guten Recht der Dörfer erklär dich
zum Mittelpunkt deiner Welt. In den Städten
gibt es keine Unterschiede mehr. Hölle gleich
Himmel, beide nur Zellophan. Aber weiter blinkt
im heißen Wind das Pappellaub. Grillenbratschen.
Hör dein Herz, du brauchst dazu kein Stethoskop.
Es hat eine Melodie. Sei hier, bei dir, in Reillanne.
Sieh sie dir an, hör hin. Die Vogelbeeren sind rot.

Punktueller Schatten

In der Église St. Michel steht in einer dunklen Seitenkapelle eine Jesusfigur auf einem Sockel. Der Messias ist bemalt in blassen Farben, seine blauen Augen blicken in die Fülle der Leere. Plötzlich wendet sich sein Blick dir zu – und begleitet dich hinaus ins gleißende Nachmittagslicht hoch oben im Städtchen. Wenn du dich am Kirchenausgang noch einmal umsiehst, bemerkst du den Blick, der auf dir ruht und dir den Weg weist – der weiß, dass alles gut ist und bleibt. (Roussillon, 13.8.)

Weg aus dem Schrottverhau der Literatur – das Kind, das Glück des abenteuerlichen Spiels. (Volx, 17.8.)

Punktueller Schatten – Vogelschwarm überfliegt sonnenbeflutete Straße.

Will Oldham – Songs of love and horror

Die ganzen Stoßgebete an die Poesie, wozu führen sie? Doch nur zu weiteren, immer weiteren Stoßgebeten an die Poesie. Ist das ihr Sinn? Keines durchbricht eine Schranke. Dass keines eine Schranke durchbricht, ist ihr Sinn?

Schatten eines Blitzes – schwarzer Gecko rettet sich vor deinem Blick.

Die uralte Regenrinne wirkt plötzlich erleichtert – wie ein Alphorn, das unvermittelt schweigen darf. Denn ich habe sie mit Rostschutzfarbe bestrichen und werde sie blau lackieren. Die Gegenstände wollen, wie wir, bleiben. Immer schon habe ich gedacht: Die Natur, ja, die Dinge aber bitte auch.

Kastanien

Was soll das?
frage ich die
Kastanien, da
sie knospen.

In Kastanien
hineinblicken,
immer wieder
neues Dach.

Wir feiern den
Wiederaufstieg,
ruft eine voller
Blüten zurück.

Kosmos 482

Nach 53 Jahren des Umherirrens im Weltall ist heute die sowjetische Raumsonde Kosmos 482 in den Indischen Ozean gestürzt und wahrscheinlich augenblicklich darin versunken. Venera 9 war 1972 vom Weltraumbahnhof Bajkonur mit Ziel Venus gestartet, verlor aber ihre Trägerrakete und umkreiste seither elliptisch die Erde. Ich war sieben, als das Kosmos 482 zustieß – Venera 9 wurde umgetauft und als Satellit ausgegeben, als der Kreml ihr Scheitern akzeptierte. Желаю тебе удачи. Viel Glück auf dem Meeresgrund noch immer desselben Planeten, Kosmos 482 / Verena 9.

Carla May

Die einzige Erinnerung
an meine Urgroßmutter
Carla May aus Radebeul
zeigt mir sie, da bin ich
vier, mit dem Marsriegel,
den sie mir gekauft hat,
in ihrer uralten Faust.

Wir überqueren 1969
einen unbeschrankten
Bahnübergang irgendwo
in der Stadt Schriesheim.
Warum habe ich diesen
Moment nie vergessen.
Wann aß ich das Mars.

Mitin Badege

Als im Gewitterunlicht
halb Arles davonfloss,
da flüchtete ich mich
über die Place de la
République in die alte
Sankt-Annen-Kapelle.
Dort sah ich mir in den
durchblitzten Nischen
die Fotoausstellung an.

Ich sah sie lang an, alle
Gesichter aus Äthiopien,
Frauen, Männer, Kinder,
am längsten aber in dem
Gleißen ein Doppelprofil.
Vor der tiefen Schwärze
der Nacht trug Mitin ihren
kleinen Enkel Kalemwork
auf dem Rücken wohin?

Der Stuhl über dem Abgrund

Der junge Mann auf dem sommerlichen Markt scheint in einen leuchtend grünen Telefonhörer zu sprechen – dessen leuchtend grünes Kabel aus seiner Hosentasche kommt. Wichtig wirkt er, im Auftrag scheint er zu sprechen. Du glaubst ihm nicht? Ruf ihn an. Ich verbürge mich für ihn. Wir sprechen täglich. Er ist mein Bruder.

Kurt Vile – Smoke ring for my halo

Die Allee entlang fliegen für einen Kilometer vier Tauben exakt über der Fahrbahn – in Wipfelhöhe der Platanen –, bevor sie unvermittelt abdrehen, wie hinein in die Bäume. (Manosque, 6.8.)

The House of love – The house of love

Mylène Farmer – Blue noir

Patti Smith hat das Rimbaud’sche Anwesen in Roche gekauft – das, was übrig ist von Land und Hof, den kaiserdeutsche Truppen vor ihrem Abzug sprengten. Beschreib nicht, was davon übrig ist. Der Raum des Verlorengegangenen ist der Rimbaud’sche Raum. Patti Smiths Geste bewahrt ihn auf.

Midlake – The courage of others

Christian Bobin schreibt in „Les ruines du ciel“, Pascal habe zeitlebens die Vorstellung gehabt, links von ihm verlaufe ein Abgrund. Des öfteren habe er deshalb unter Schwindelgefühlen gelitten und sei der fixen Idee entgegengetreten, indem er einen Stuhl links neben sich stellte und sich setzte. Pascal wusste, schreibt Bobin, dass seine Bedrängnis eingebildet war, konnte die Empfindung aber nicht verhindern. Das Denken sei ein über einem Abgrund stehender Stuhl. Und darüber: die Ruinen des Himmels. (Volx, 11.8.24)

Im Gefängnis, wo er selbst einsaß und wo er heute Schreibwerkstätten für Häftlinge abhält, habe er gelernt, dass es besser sei, zu leben und zu schreiben statt zu leben und nicht zu schreiben, sagt René Frégni.

Vergiss nicht Rimbauds Klavier, eingeritzt seine Tasten in den mütterlichen Esstisch.

„Das Krokodil“ und „Schattenmund“ nannte Rimbaud seine Mutter, „Loyola“ nannte er Verlaine und „Lumpenpack“ die Menschen einschließlich seiner selbst.

„Ein Pessimist ist ein Individuum, das unter Optimisten lebt.“ Emmanuel Bove

Zu Haus bei einem Gewitter.

Antoinette Flegenheim

Es ist mir unmöglich,
Ihnen mitzuteilen, wie
plötzlich das alles war,
wie unerwartet, erwiderte

die Titanic-Überlebende
Antoinette Flegenheimer,
die sich Flegenheim nannte,
als werde alles immer kürzer,

noch bis zuletzt auf Fragen
zu ihrem Leben und Alltag
nach der Tragödie 1912,
jedes einzelne Begebnis

sei wie ein Blitzeinschlag
an einem helllichten Tag
an der Bockenheimer Warte
oder in Tutbury, Staffordshire.

Madame Tanguy

Die alte Amerikanerin,
die mich ansprach vor
dem Monoprix in Arles,
bat mich um ein pièce,

also gab ich ihr 2 Euro
und fragte sie, woher sie
kam, Drummond, lautete
ihre Antwort, Wisconsin.

Hinter uns, an dem Kreisel,
wo es vom Regionalbahnhof
zwischen zwei Wehrtürmen
hinauf zur Altstadt geht, stand

früher das gelbe Haus, in dem
1888 Vincent van Gogh lebte,
kurz auch mit Gauguin, bevor
der ihn zum Idioten erklärte.

Aber das Haus zerfiel, man
riss es ab und baute es nicht
wieder neu, alle Welt kennt ja
Vincents Zimmer darin, Bett,

Stuhl, Waschtisch, Fenster,
weil er alles malte, denn so
wurde für ihn alles lebendig.
So steht das gelbe Haus da,

wie sie einmal Pianistin war,
die Amerikanerin im grünen
Kleid, mit Silberblick, sie sei
beglückt von unserem kleinen

Gespräch. Nie stattgefunden
habe es, ihr Konzert in Arles.
Aber sie sei geblieben, denn
sie warte. Worauf, fragte ich,

und ob sie immer noch spiele.
Und ob, rief sie, ein Nachbar,
der habe manchmal ein Piano.
Danke Ihnen für den Moment.

Jeden Tag wanderte ich darauf
zu dem Monoprix, aber fand sie
nicht, den Silberblick, das Kleid,
erst in einem Van Gogh-Katalog,

und immer nachts träumte mir,
ich sehe ein Ohr schwimmen
in einem Fläschchen voller
gelbem Pinselterpertin.

Rimbaudnotizen

Gewitter sollte man mieten können.

„Amazone“ – der Dampfer, der Rimbaud 1891 zurückbrachte von Aden nach Marseille.

Der äthiopische Gouverneur von Harar, Ras Makonnen, mit dem Rimbaud bekannt war und verhandelte, ist der Vater des späteren Kaisers Haile Selassie.

Er war schon als Kind ein Forscher. Aber wie sollten sich Ingenieursneugier und Literatur miteinander verbinden? Unmöglich. Das Bindeglied wäre die Liebe gewesen? Ebenso: unmöglich.

Als sie die Fensterläden aufstieß, sagte sie gleich: „Es ist so heiß, dass das Blau des Himmels verbrannt ist.“

Jeder Wasserturm, wie alt oder jung er auch ist, heißt im Französischen chateau d’eau, Wasserschloss.

Die Spatzen überleben die Hitze der Hundstage in Wassernähe – im Ufergras fast vertrockneter Flüsse und Flüsschen, im Gebälk über Tränken, unter Tankstellendächern, von wo sie sich in die Scheibenputzeimer stürzen. Schatten und Wasser brauchen sie tagsüber. Es gibt keine einzige Wespe mehr – alle auf Wassersuche ausgemerzt von den Hornissen und Spatzen.

Oscar Wilde trifft im November 1891 in Paris Paul Verlaine in einem Café. Es ist der Monat, in dem in Marseille Rimbaud stirbt, Verlaines verhasster Liebling. Weiß Verlaine, wie es um Arthur steht? Erzählt er Wilde von Rimbaud? Es gibt dafür keine Hinweise.

1874: War Wilde zu der Zeit, als er in Oxford zu studieren begann, zu Besuch in Reading? Die Stadt, in deren Zuchthaus er 21 Jahre später einsaß, liegt auf halbem Weg zwischen Oxford und London. Warum sollte ein junger Student nach Reading fahren? Rimbaud lebte 1874 dort und gab Französischstunden. Er war 19, vier Tage jünger als Oscar Wilde.

Argent liquide. Flüssigsilber.

„Jeder Mensch ist ein Dichter, der im Hôpital de la Conception von Marseille stirbt.“ Christian Bobin

Der Nektarinentraktor kommt und fährt duftend an dir vorüber. (Manosque, 1.8.)

Der Alte mit den aufgemalten schwarzen Augenbrauen sagt zu seiner Frau, die rotweißes Haar hat: „Mein Leben wird stündlich absurder.“

Einige Städte und Landschaften in Oscar Wildes Märchen erinnern an Beschreibungen in Rimbauds Briefen aus Abessinien.

Kein Tag ohne Tiefschlag. Bitte weiter so! Immer besser scheitern? Wer scheitert denn hier? Ich verfolge meinen Weg, und läuft er auch vor mir davon, ich gehe ihn, solange es geht.

Kleines graues Dreieck, das fliegen kann, Motte, lichtsüchtig, zu welchem Zweck gibt es dich? Keinem. Du vollkommene Antwort. Motte. Winziges Wort. Ja.

Auf dem Weg liegt die Ruine einer Orange.

Rimbauds äthiopische Wahlheimat Harar liegt 1800 m hoch in den Bergen. Colm Tóibín schreibt über Oscar Wilde, auf der Tretmühle im Zuchthaus Reading habe er jeden Tag einen Berg von 1800 m Höhe erklettert.

Die „Amazone“ im Hafen von Marseille, vor 1883.

Aden 1900, die „Sichel“ mit Hafen und Promenade, dort auch Rimbauds bevorzugte Unterkunft, das Hôtel de l’univers, das Hotel Universum.

Arthur und Oscar nach einer durchzechten Nacht, 1874 in Reading. Fotofiktion.

Das Fallana-Tor von Harar, 1885.

Die Einsamkeitsvereinbarung

„Die Einsamkeitsvereinbarung“, sagt im Radio eine Psychologin, und ich schalte das Gerät aus.

„Mercurochrome“ – den Begriff kannte ich nur aus einem Songtext von Christine and the Queens, lese ihn aber jetzt als Name von Pailletten auf einer französischen Paillettenpackung. Quecksilber oder Chrom, dachte ich stets, wenn ich das Lied hörte. Aber nun … die Pailletten. Quecksilber und Chrom. Oder der Anschein von beidem. Schönheit, schön.

Bittere Wahrheit im fortschreitenden Alter: Du musst alles augenblicklich notieren, was dir durch den Sinn geht, zwei Minuten später ist es verschwunden im Orkus der Vergesslichkeit.

Unerklärliche weiße Lichtflecken im Wasser der Warnau, die braungolden war. (Walsrode, 16.6.)

Ein großer Roman, wäre er nicht von mir: „Seeland Schneeland“.

Die Blumen schlafen, ich glaube, sie sind glücklich.

Vergesslichkeit ist doch eigentlich Reizüberflutung. Sie ist die Fortschreibung der Zerstreutheit. Und zerstreuen können mein Denken einzig Erinnerungen. Wellen auf dem See Genezareth, der auch See Gedächtnis heißen könnte.

Jedes Buch, das du schreiben willst, musst du zunächst träumen.

Als ich die Zigarettenkippe aus dem dritten Stock werfe, geht unten auf dem nächtlichen Parkplatz der Bewegungsmelder an. (Frankfurt, Main, 6.7.)

Das Erschütterndste in Charleville: Alles bei Rimbaud ist Architektur. Sein ganzes Leben lässt sich architektonisch erhellen. Am alten Quai de Madeleine, der inzwischen natürlich Quai Rimbaud heißt, führt das Treppenhaus heute direkt hinauf in die Familienwohnung, jetzt ein Museum. Zu seiner Zeit aber ging Arthur durch einen engen Flur erst in den Innenhof und von dort eine schmale Stiege hinauf in die Wohnung der Mutter, die er Schattenmund nannte, bouche d’ombre oder le crocodile. Flur, Innenhof und Stiege gibt es noch. Die Zimmer sind dieselben. Der Weg dazwischen aber ist zugemauert, unterbrochen. (Charleville, 10. Juli)

Nach der zweistündigen Fahrt über die nächtlichen Berge sehe ich von einem dunklen Parkplatz aus zum ersten Mal das Sternbild des Skorpion am Firmament stehen. Den Kopf, den Stachelschwanz, darunter, erleuchtet, die Festung von Sisteron. (14.7.)

Ein junges Mädchen, lächelnd Trisomiemensch, möchte mir am Eingang zur Kirche Saint Firmin unbedingt – ja, unbedingt: ohne an Anderes dabei zu denken – die Hand schütteln. Fest glaubt das Kind daran, dass wir einander gleich begrüßen. Und es behält unbedingt recht. (Gordes, 17.7.24)

„Der Schlüssel ist heilig, über 130 Jahre alt“, sagt mein Herz.

Das Kommende

Allein in dem Palast, aber über den See kommen die Lichter und scheinen nach einer Bleibe zu suchen. Dunkel wie die Täfelung ist das Wasser, eine Stille unterbrochen nur von Kühlaggregaten. Wenn ich hinunter zum Seeufer gehe, muss ich in Schlangenlinien gehen. Und weiß schon auf den Serpentinen, dass unten niemand sein wird. Dann blick, sag ich mir, über den schwarzen Spiegel, schon schimmert darin das Künftige auf – wohin ich mich auch wende, die Nacht, die Widerspiegelungen, alles Zukunft. Ich möchte sofort ein Gespräch mit einem Freund führen. Ich bin ohne Töchter angekommen und ohne Hast, mein Zimmer hat Sarggröße, aber über dem See liegt weiter das versöhnliche Dunkel. Berliner weltverengendes Gespräch ohne Vorstellung, wie es irgendwem geht. Häppchen Chicoréeschiffchen.
Ein Freund sagt dir endlich ernste Worte, bevor er aufbricht zur U-Bahn, weil es keine Betten gibt. Jenseits der moosigen Bahnsteige das Seeuferdunkel. Licht leuchtet, wo geschlafen werden muss. In diesem Palast habe ich mit dem Mondgesicht getanzt, hier war die Vergangenheit jedes Mal zu Ende und hängen immer noch Trugschlüsse an den Wänden. Und auch darin schimmert das Kommende auf.

Ich zähle die Zahlen

Ich zähle alles ab: die Zigaretten am Tag, die Gläser Wein, die Zuckerwerte. Die Regengüsse und die Mohnblumen an den Straßenrändern. Die Straßen. Die übersetzten Gedichte, die redigierten Gedichte, die geschriebenen und ungeschriebenen Bücher, die Regenfäden und die Spiegelungen des aus den Traufen in die Straßen stürzenden Wassers. Die schlaflosen Nächte. Die Träume. Die Filme. Die Laternen und ihre Lichterkegel. Die gesammelten Lieder. Die vergessenen Tage. Die ungezählten Jahre. Die Erinnerungen an den Mohn auf den nördlichen Inseln und den südlichen. Deine Finger. Meine. Herzschläge. Einschläge. Die bösen Worte und guten. Die Freunde, die gingen, und die, die blieben. Ich zähle die Zahlen. Ich zähle die ungezählten, die unzählbaren Augenblicke, in denen ich noch glaubte und glaube und glauben werde. Woran? Nicht an die Summe. Nicht ans Zählen und nicht an das einzelne Stumme. (20.5.)

Fahnenflucht.

Falscher Jasmin.

Blossom.

Rimbauds Klavier: Da der Mutter das Geld für eines zu schade war, schnitzte er sich die Tasten in den Küchentisch und spielte darauf stumm.

Peter Tschaikowsky – Dornröschen

Mit der Hitze werden die Morgenvögel kommen, die hellblauen Zwischenräume, Musik.
Ich weiß es schon jetzt, der ewige Sommer geht weiter. Diese Wolkenschiffe sollen bitte die ganzen Kellerrolltreppen auf den Schrottplatz für Dunkles verfrachten. Winter war es sieben Jahre lang.
Totentänze. Immer im Kreis. Immer im Kreis. Im Kreis. Immer. Immer. Sommer.
Immer Sommer, der Sommer, der jetzt kommt.

Midlake – The courage of others

Immer öfter sehe ich Tote – Menschen auf der Straße oder im Bus, die Gestorbenen zum Verwechseln ähneln. Was wollen sie mir sagen? Dass der Tod nichts als Schein ist?

Die Felder, Feldwege, die Weide im Wald und die Häuser in dem Dorf, wo du vor 30 Jahren gelebt hast, alles wirkt altgeworden, widerständig zwar, aber angegriffen von der Zeit und ihren Vergänglichkeitsstrategien. Alles wirkt, wie du dich selbst empfindest, und so frag dich: Sind die Felder und Wälder und die Häuser ein Teil von dir, oder bist du noch ein Teil von ihnen? Beides wohl. Und damit das so bleibt, musst du immer wieder dort hinfahren – in das Dorf, mit dem letzten Haus vor der Weite.

Crow

Why be only cinder,
says the crow to the cranes,
when you stand in light, why
is my song a caw. Waa!

skyscrapers, trams.
I had feathers as motley
as clouds Waa! in the icy
wind. Had rivers as plumage,

claws that etched the sounds
of the trees into the ground, so
Waa! was a path to the warmth
of the summer street. It was a fire.

Was flames, a red blaze,
ghostly Waa! a burning
window. I flew through it,
and it was the eagle, was Waa!

the god who blackened me,
left me mute and searing.
Song and map and mantle,
in crow dreams Waa! they

are one. I came to a morning.
And treetop was the great light.

For Tony Birch

(Translated by Mirko Bonné)

Fontaine

Fontaine (2024)

In Fontaine de Vaucluse im Luberon schrieb Petrarca seinen Canzoniere, Liebesgedichte an Laura, wo es in Sonett CXXIV heißt:

Lasso, non di diamante, ma d’un vetro
veggio di man cadermi ogni speranza,
et tutt’i miei pensier romper nel mezzo.

Aus Glas gefertigt, nicht aus Diamant,
seh aus der Hand ich gleiten jede Hoffnung,
und mit fällt all mein Denken und zerbricht.

Francesco Petrarca bestieg zusammen mit seinem Bruder den Mont Ventoux, er schrieb darüber einen Aufsatz und gilt seither unfreiwillig als Begründer des Alpinismus. Fontaine liegt an der Sorgue, die hier entspringt – die mächtigste Quelle Europas, ihr Wasser birst in Quellzeiten aus dem Gebirge, das es kilometerweit talwärts durchflossen hat. Es ist um zehn Grad kalt. Links am Hang sieht man ein bungalowartiges Gebäude stehen. Dort befindet sich der Sommersitz des französischen Staatspräsidenten Lamartine – in meinem Roman „Fallingwater“, an dem ich schreibe.