Ein langes Gespräch über einen Strauß gelber Narzissen, und dann das Quittenprojekt!
Du kommst
mit fünfzig Fernen
und gehst
ohne Nähe im Tausch.
Ein langes Gespräch über einen Strauß gelber Narzissen, und dann das Quittenprojekt!
Du kommst
mit fünfzig Fernen
und gehst
ohne Nähe im Tausch.
„Wegrationalisieren“ – im Grunde ein schöner, sprechender Ausdruck. Er verrät die Angst, als irrational dazustehen, weshalb man sich als einzig vernünftig ausgibt. Zu Anmaßung und Unmäßigkeit der Vernunft schreibt Albert Camus: „Das griechische Denken wurde immer durch die Vorstellung der Grenze aufgehalten. Nichts wurde bis zum Ende fortgetrieben, weder das Heilige noch die Vernunft, weil es nie etwas leugnete, weder das Heilige noch die Vernunft. Den Schatten durch das Licht ins Gleichgewicht bringend, hat es vielmehr alles einbezogen. In die Eroberung der Totalität geschleudert, ist unser Europa dagegen die Tochter der Unmäßigkeit. Es leugnet die Schönheit, wie es alles leugnet, was es nicht anbetet. Und sei es auch auf verschiedene Weise, betet es nur das eine an, nämlich den künftigen Sieg der Vernunft. In seinem Wahn versetzt es die ewigen Grenzen, und düstere Erinnerungen stürzen sich in diesem Augenblick darauf und zerreißen es. Nemesis, die Göttin des Maßes, nicht der Rache, wacht. Wer immer die Grenzen überschreitet, wird unerbittlich von ihr gestraft.“ – Camus zeichnet in „Helenas Exil“ (1948) eigentlich nicht den Missgriff der Vernunft nach, sondern vielmehr die Maskierung der Unvernunft mit dem Flitter der Ratio. Unterm Deckmantel der Vernunft mogeln sich Angst und Abscheu eine Welt hin, die das Alte und das Schöne verdammt, indem es das eine wegrationalisiert und das andere zu Tode bagatellisiert.
„Da sind wir also“ – der neue Papst auf dem Balkon: scherzt.
Das den lieben langen Sonnentag die vom Frost gesprengte Abflussrinne hinablaufende Schmelzwasser: flüstert.
Seit Jahren und Jahren dasselbe: die weißen, leeren Flure mit hunderten Türen, von denen ab und an eine aufgeht und ins Schloss fällt. Eine graue Gestalt in verwaschenen Jeans erscheint, schlurft vorbei und verschwindet. Über einem Eingang brennt ein rotes Licht – Ruhe. Es riecht nach Wischmopp, und vor den Fenstern ist keine Jahreszeit, nur der leere Raum, durch den die Radiowellen schwirren. Es gibt mich nicht. Es gibt nichts und niemanden, aber alles ist auf Sendung (NDR, Rothenbaumchaussee).
Der Schnee auf dem Balkongeländer (dem Schneegeländer) – so hoch, dass du (dir) einen Kopf kleiner erscheinst.
Harsch – du schönes Wort. Du schönes Wort für alten Schnee, das kaum noch jemand sagt. „Harsch“ – sagt der krustenüberzogene Schnee, wenn Einer auf ihn tritt, „Harsch“, das Eis, das weiß, wie spät es ist, und „harsch!“ die Vögel, frierend in den Bäumen, wo sie warten und zu Recht (12.3.).
Das Quecksilberthermometer in der Frostnacht: tickt.
In die Höfe stürzt der Schnee. An den Schneestraßen, in den Schneeeingängen hocken in den Büropausen die Raucher und blicken ins Gestöber – die Schneeausstellung, die Schneezeitschrift, der Schneekatalog. In die Höfe wirbeln die Flocken, in die Augen stürzt der Schnee (11.3.)
Foto: „Albrecht-Schachten“ © Ralf Müller
„Alles muss warten.“ – „Worauf?“ – „Alles wartet auf dich.“ – „Auf mich … was soll ich denn?“ – „Komm!“ – „Wohin. Wohin denn?“ – „Sei da!“ (10.3., im Schneetreiben über den Hügeln von Fehrbellin)
Meine Schuhe und ich
„Believability“ heißt eine Abteilung in der Ausstellung, die die Geschichte des Trickfilmstudios „Pixar“ nachzeichnet, und das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe übersetzt den Begriff mit „Glaubwürdigkeit“. Kann man das glauben? Are you able to believe that? Is it believable! Ich denke an Peter Handke, der irgendwo schrieb, in der deutschen Sprache gebe es keinerlei Synonyme, und ich stehe vor diesem Wort, umringt von gezeichneten und gekneteten Trickfilmfiguren: Ja, warum sollte eine Figur wie Buzz Lightning nicht wert sein, dass man ihr glaubt, also unglaubwürdig sein? Geht es da nicht vielmehr um Glaubhaftigkeit? Wo ist der Unterschied: Bin ich glaubwürdig? Bin ich glaubhaft? Ist der Unterschied selbst glaubhaft oder glaubwürdig?
Es ist nicht vollbracht – die Winterrückkehr.
Mit einem so sanften „Genau“, dass mir das Blut in den Adern gefror, beschloss er jeden Satz und alle Antworten. „Ist dieses Haus …“ – „So ist es …. Genau.“ – „Sind Sie …?“ – „Ich bin … ja, das bin ich. Genau.“ Im Nebenraum schnarrte ein Radio. Bono von U2 sang:
I have kissed honey lips
Felt the healing in her finger tips
It burned like fire
This burning desire
I have spoke with the tongue of angels
I have held the hand of a devil
It was warm in the night
I was cold as a stone –
„Genau“, sagte er und hielt den Kopf gerade, „genau.“
Und in Schweigepausen, während er bedächtig über die Schneereste im Innenhof hinschritt, entfuhr ihm mit einem Mal wieder, was er sich nicht verbeißen konnte und was ihn bis in die Träume verfolgte: „Genau!“ Und Gott lachte.
Was ist das eigentlich – Streit? Wirklich der Zusammenprall zweier unterschiedlicher Auffassungen? Im Streit bist du nur du allein, d. h. du bist allein, mehr noch (oder weniger?), schlimmer (oder besser?): Du setzt dich mit niemandem auseinander als dir. Streit: Strecke, die zurückzulegen ist, solange du zurückgeworfen bist auf dich (sonst keinen), ehe man dich wiederaufnimmt ins Verständnis. Du erkennst den Augenblick: Auch du, du selbst, verstehst dich wieder (7.3.).
Ein Textbaum, den es zu stutzen gilt? Das Stutzen ist vorbei. Mit fast achtundvierzig will ich noch mal wachsen.
Im Kloster das Langhaus aus Bäumen. Der von der Weltausstellung durchs Land gefahrene und wiederaufgebaute Christuspavillon mit seinem nach außen verlagerten, um ihn herum verlaufenden Kreuzgang. Der bellende Hund, der brüllende Esel, der stumme Pfau, die singenden schwarzen Tupfer in der schwarzen seit tausend Jahren stummen Eiche und die Kinder auf der einzigen Straße, die jeden Vorübergehenden grüßen (Volkenroda, 6.3.).
Langgezogene Hügelkämme, scharf gegen den hellen Vorfrühlingshimmel begrenzt. Zu ihrem silbernen Saum hinauf erstrecken sich Hänge, noch voller Schnee. Und Bäume sind auf dem Kamm wie Federn oder Korallen, silbrig im Licht und sehr fein, hinter denen die Ebenen und Täler weitergehen, still, schon blässlich grün – Türen, Thüringen.
Werde noch zum Sonnenanbeter … Den Zementhimmel über dem zahnlückigen Berlin könne seine Frau nicht länger ertragen, sagt Günter Herburger am Telefon, und Florjan Lipuš, fünf Jahre jünger als Herburger, Lipuš, den ein anderer lieber Freund mir zu lesen ans Herz legte, schreibt in seiner „Verweigerung der Wehmut“, dass „da ein Wetter herrschte, daß ein Hund sich hätte aufhängen mögen.“
Könntest du dir die Unmenschlichkeit des Bürgerkriegs in Syrien vorstellen – dein Leben könnte so nicht weitergehen. „Was sollen wir nun tun?“, würdest du dich fragen. Ich tue nichts, ich kann sie mir nicht vorstellen – und kann ebenso wenig vertrauen auf Bilder, Meldungen, Meinungen, Nachrichten. Der schwarzen Gestalt, gekrümmt vor Qualm, einem von Geschossen getroffenen Hauses, kann ich trauen, ich erkenne sie, sie rührt mich, rührt mich an als meinesgleichen. Was tun? Füll den Scherenschnitt mit Leben – sprich ihm Leben zu! (3.3.)
Foto: Damaskus, März 2013. © Reuters
Noch immer sind die Teiche zugefroren, doch an den Ufern spielen schon die Kinder, Sonnenbrille auf der Nase, im knisternden Gras. Und die Gärten öffnen sich und stehen auf. Laubfeuer. Holzrauchqualm in kahlen Wipfeln (1.3.13).
Klammer, feuchter, kühler Tiefennebel, der bis zu den Hauseingängen und niederen Ästen hinunter hängt – die „Waschküche“ des Hamburger Volksmunds. Ist sie nicht auch wirklich ein Bild für einen Raum, in dem gewaschen wird? Was wird da gesäubert, gereinigt, geputzt? Die Stadt. Wir. Ich.
„Nur die Natur“, schreibt ein Freund, „die kann mir niemand verleiden. – Das sah ich nun auch wieder in S.: wie wohltuend es sein kann, nichts zu verstehen.“ (RKM, 28.2.)
Auch in der Nacht gibt es Spaziergänger, nur dass sie – sagte ich das schon? – viel langsamer gehen, bedächtig, vorsichtig wie Untote oder: wie lebendig.
Vorm Fenster stand der alte Rundbau der Schilleroper, einsturzgefährdet, mit dem großen Graffito an der Mauer: ES IST ALLES KAPUTT. Und hinter dem Fenster die beiden Arbeitslosencoaches warnten vor Behördentücken und Vollpfosten auf den Ämtern. Es ist so viel möglich. So viel, viel zu viel ist kaputt.
Ein schwarzer kühler Würfel aus würziger Luft, aus eisigem Frühlingsduft, so steht die Winternacht über den Gärten. Erste Biene am Nachmittag, Hin-und-her-Getaumel, und die wartende Musik der Mücken, und der Schlaf in die Wärme hinein, und die letzten kalten Worte! „Komm, Schnee, geh.“ (27.2.)
You can trust your car to the man with the star. Geben Sie ihr Auto gern dem Mann mit dem Stern.
Und der Mond,
der Ort aus fremdem Licht,
wo niemand wohnt,
nur Blicke,
aber Augen nicht.
Noch immer Schnee, noch immer bitter kalt, der Nachmittag so grau gefroren wie der Morgen. Zwei Jungs rennen dick eingemummt über den Parkplatz, klettern über ein Gitter, jagen sich durch den Schnee, der eine mit einer gezückten Pistole, der andere bereit, getroffen zu werden, in sich zusammenzusacken und, liegen gelassen, zu erfrieren. Während auf einer überquellenden Mülltonne wie ein Schatten eine mächtige Krähe aus einem Plastiksack Essensreste säbelt, ehe sie stumm unter den weißen Ästen davonhuscht.
„Mach mich unmüde!“, ruft das Kind. – „Wie denn? Wie soll ich das machen?“ – „Mit deinen Knien! Bau mir ein Bett aus deinen Beinen!“
Der Rachepomp in Shakespeares „Titus Andronicus“ – unfreiwillig komisch nicht aufgrund der an den Tag gelegten Verzweiflung, sondern weil keine der Figuren je verzweifelt ist. Römische Pappkameraden, die verstümmeln,
vergewaltigen, morden ohne (Ab-)Grund und ohne Tiefe der Psyche, der Seele, Figuren ohne Seele. Ein Racheräderwerk für Racherädchen, die sterben wie die Fliegen – sodass nicht verwundert, wenn die einzige lebendige und poetische Figur eine Fliege ist, zerdrückt auf einem Teller in einer Szene, deren Urheber nicht mit Sicherheit William Shakespeare war: „What dost thou strike at, Marcus, with thy knive?“ (23.2., Keats‘ Todestag)
Foto: Laura Rees als „Lavinia“ © Shakespeare’s Globe, London 2006
Es ist der goldene Glanz, der widerschimmert im Gedicht – auf ihn kommt es an; im Grunde ein Abglanz: der des Lichts, des hellichten Tags. Der ihn nicht sieht, nicht liest oder ihn sogar verspottet, kann schwarz werden unter seiner Sonnenbrille (22.2.).
Im Interview bricht die russische Künstlerin und Aktivistin Joulia Strauss in schallendes Gelächter aus, als sie gefragt wird, ob der Widerstand von Gruppen wie Pussy Riot gegen die Politik Vladimir Putins vergleichbar sei mit früheren Aktionen der deutschen Rote Armee Fraktion. „Nein!“, lacht Strauss, „was wir machen, ist gewaltiger, aber nicht gewalttätig. Wir setzen auf allmähliche Zermürbung, punktuelle Destruktion. Wir haben das Opferdenken hinter uns gelassen.“
Die Doppelwirklichkeit!
Der Ritt über den Bodensee – der Ritt über den Boden sein.
Ein junges Mädchen, an der Leine ein weißes Hündchen, kommt mir im leichten Flockenfall unter den großen Bäumen entgegen – blässlich, scheuen Blicks, und brüllt mit einem Mal, keine zwei Meter vor mir, los, als wäre ich unsichtbar: „Oh mein Gott! Oh mein Gott! Mein Gott!“ – und als ich mich verstört umblicke, kommt eine Freundin oder Schulkameradin auf ihrem Fahrrad angefahren, und keine zehn Sekunden nach dem Schreien – das wem galt? welcher Nachricht? –, schreiten die beiden stumm nebeneinanderher mit dem Hündchen davon (Ohlsdorf, 20.2.).
Ein Tag im Bett, mit Kopfschmerzen, taumelnd ins Bad, wankend in der Küche, ein Morgen, Mittag, Nachmittag, Abend im Bett, ein unfreiwilliger, dem Körper, der Leiblichkeit abgetretener Tag – ein guter Tag. Er zeigt dir deine Grenzen auf. Er zeigt dir, dass er gut auf dich verzichten kann.
Am Seeufer in dem Wäldchen, wo deine Jugendliebe zu Ende ging (und die Liebe zu deiner Jugend), dort ist heute ein Hochseilgarten, und in zwanzig Jahren bestimmt ein Vergnügungspark – hurrah! (17.2., Amelinghausen)
Zum Abschluss des Seminars hatte jeder Teilnehmer einen Brief an sich selbst zu schreiben, in dem er klarstellen sollte, was er künftig zu tun gedachte. Alle hatten viele Pläne, alle teilten ihre Pläne sich selber mit. Eine junge Frau schrieb einen Abschiedsbrief.
Gefragt, ob er noch einmal so würde leben wollen, antwortete der krebskranke Christopher Hitchens auf dem Sterbebett: „Yes, probably“ – und auf die Frage, warum er so viel getrunken, so exzessiv geraucht habe: „to enhance the moment“. Um den Augenblick auszudehnen, ihn in die Länge zu ziehen – wesentlich, die Zeit ins Mark treffend, und doch so vergeblich wie desolat. Sicher, der Impetus verschafft kritischen, freidenkerischen Stimmen wie Hitchens‘ Raum – nur wozu? Es ist ein leerer Raum, seine Erfüllung bloß Genuss geschuldet. Die Alternative – Genügsamkeit, Gelassenheit, Vertrauen (nicht Selbstvertrauen, sondern Vertrauen auf Andere und Gottvertrauen) – erscheinen davor lachhaft (15.2.).
So haben sie also als Lasagne, Döner und Köttbullar tote Pferde verschlungen, ohne davon gewusst zu haben – und wollen sich auch noch beklagen? Schert euch weg, Gaulfresser. Beklagen könnten sich – wären sie so jämmerlich – nur die Pferde, die es überlebten, dass halb Wahnsinnige alles fressen, was noch lebendig ist. Nur ein Schritt noch, und erste kannibalische „Skandale“ werden publik. Shakespeare (ob er so hieß oder nicht, eine lebendige Hand schrieb unter seinem Namen) wusste, warum er eine seiner blutrünstigsten und skrupellosesten Figuren, König Richard III., nach dem Tier rufen lässt: „A horse, a horse! my kingdom for a horse!“
Bild: Anthonis van Dyck, Reiterporträt Karls I., 1637-38, National Gallery London
Die vierköpfige Lilie, die sie mitbringt, in eine Zeitung eingeschlagen vom Februar 2006, und auf dem Blatt dein Bild, dein Name, und der Name des Schiffs, auf dem du aus dem Buch lesen würdest (in ein paar Tagen, vor sieben Jahren) – dort liegt es (noch immer): das Schiff in der Nacht. Zufall. Bricht ab von der Zeit und fällt dir zu – so ein Geschenk! (13. Februar)
Im Aufzug:
ÜBER BRAND
LAST FALL
Hoch über dem Hafen, nachts um halb vier: das goldene Licht dort, wo sie arbeiten, die Maschinen, die noch löschen. Und am Morgen, auf einem Dach im Schnee, zwei junge Männer, warten, rauchen, frösteln ein bisschen. Sie gehen umher. Einer zeigt. Einer guckt in die Ferne. Alles: Ferne (11./12.2., St. Pauli).
Alle, fast alle Fußballklubs der oberen österreichischen Klassen führen heute ihren Sponsoren im Namen: einen Energydrink, eine Molkerei, einen Gabelstaplerfabrikanten, weiß der Teufel, was nicht alles. Allein der FC Tirol heißt jetzt wieder Wacker Innsbruck – und führt im Namen, wie es ist.
„Die Elbphilharmonie!“ – „Die Äpfelharmonie?“
In der Winternacht ist alles Zeichen: das Baumknacken, das im Frost stehende Licht, die aus der Balkontür in deinem Rücken herausflutende Wärme – Überleben (10.2.).
An einer Straßenkreuzung am Salzachufer warte ich auf grünes Licht, als eine junge Frau das Seitenfenster ihres Wagens herunterfahren lässt, den Schrei eines Tiers ausstößt in meine Richtung – und davonrast.
Von Graz kommend rollt der Zug noch einmal mit mir über die Salzach, dort, wo ich vor zwei Tagen noch im abendlichen Schneefall ging: am Fernwärmekraftwerk, erbaut auf den früheren Schlachthöfen, und immer stehen hier – sieh nur! – Georg Trakls „rosenfarbene Moscheen“. © Foto: eweht