Warum, Tier, hast du keine Angst vor dem Wind?

Zweiter Januar, und du bist schon
mitten im Jahr, nur verwundert,
wie dunkel der Nachmittag war.
Kein Wunder, wenn du staunst,
wie plötzlich etwas loslegt und
abrupt abbricht, zu Ende, kaum
dass es so unmerklich begann.
Sitz da, bleib stehen. Blick
dich um: Kein Wunder außer
dem langen Weg hierher, den
alles von Anfang auf sich nahm.
Der Baumreihe im Dunkel, Rehen,
dem Weg um den Teich, Kindern,
die nach Böllern suchen im Gras
und mit Glück etwas anderes finden,
allem sind sie eingeschrieben, auch
dir: neuer Neubeginn erster Januar,
erste Januarnacht und Tag danach.

254

Die „Hoffnung“, sie hat Federn –
Und nistet in der Seele –
Nie endet ihre Melodie –
Auch wenn ihr Worte – fehlen –

Und klingt – bei Böen – besonders süß –
So sehr der Sturm auch lärmt –
Der so ein Luftding fast verdrießt
Weil es so viele wärmt –

Ich lauschte ihm im kältsten Land –
Und auf dem fernsten Meer –
Doch, selbst in größter Not, wollt es
Kein Krümelchen – von Mir.

Emily Dickinson

Juni

Wieder in den Wicken erwacht,
am Morgen, auf der blauen
Bank im Gras. Schlaf,
Jelängerjelieber.
Immer noch war
der Bienenmonat,
in dem ich zur Welt kam,
am längsten der mir liebste.
Siebenundvierzig Sommeranfänge,
und zu erinnern nicht einer,
Juniwärme, Juniaugen,
Blicke, ich, allein,
und überall du
du, der Duft.

Obstgarten

Wörter wissen von sich selbst nicht, wozu sie
gemacht sind – und so ist es mit allem auf der Welt
nichts weiß, wozu es da ist
und auch wir wissen es nicht

ich schau aus dem Fenster in den Obstgarten und seh, wie
Wörter für Vögel, Bäume, Gras, für das, was dort ist
dort nichts bedeuten und auch der Obstgarten selbst
hat keine Bedeutung

in meinem Kopf sucht jemand nach Wörtern für
etwas, das noch kein Gefühl ist und noch kein Gedanke

und langsam beginn ich zu fühlen und zu denken
dass auch der Obstgarten danach sucht – dass wir
dasselbe suchen, der Obstgarten und ich

Rutger Kopland

Changning/长宁

1/一
Wenn die Vögel anfangen zu sprechen, sprechen sie Mandarin.
当鸟儿开口说话时,它们说普通话。

Sie werden sich beklagen, dass sie uns gleichgültig sind,
您会抱怨,它们对我们漠不关心,
wir ihre Küken in Karamell tauchen und essen am Stiel.
就像雏鸟潜身太妃奶糖并在枝桠上啄食一样。

Achtet auf ihr Schweigen! Klingt es nicht vorwurfsvoll?
小心它们的缄默!听起来难道不是充满了谴责?
Zehntausend Dynastien alt, das Sperlingsgedächtnis.
千朝万代般古老,那麻雀的记忆。

2/二
Der Lärm aus den Platanen scheint eine Aufgabe zu haben.
梧桐发出的噪音好像带着一个任务。

Durch das Knarren der Zikaden fällt als künstliche Nacht
拨浪鼓般的蝉鸣让人工之夜的静藹
die Stille auf den Zhongshan-Park, und wir unter Bäumen,
悄然降落到中山公园,我们站在树下,
stumme, hektische Falter, müssen lesen im Schattenbuch,
无语、紧张地皱眉,要在树影之书中阅读,

in Gesichtern der für alle Besinnung Verlorengegangenen.
读出那些已在脸上悄然失踪的念想。

3/三
Tanzen wir! Wie schwarze Falter, für die Zeit Musik ist,
起舞吧!如黑暗中的皱眉,当乐声响起时,
taumeln wir übers Pflaster, brechen durch die Masken,
让我们在石子路上踉跄吧,撕下那些面具,
fliegen als schlafende Kiesel durch verlassene Pavillons.
像沉睡的卵石一样飞越被遗忘的凉亭。

Wir werfen unsere Kinder, werfen sie hoch in die Luft!
我们把孩子们抛出去,高高地抛向空中!
Türme aus Erinnerungen bauen sie, wenn sie fallen,
当他们落下,他们建起的是记忆之塔,

doch wir fangen nur den Sockel, den schwarzen Stiel.
但我们只抓到那个底座,那黑色的枝桠。

Für Wang Anyi
献给王安忆

Ins Mandarin-Chinesische übertragen von Gan Wei

471

Die Nacht – dazwischen Tage lagen –
Der Tag der Gestern war –
War Eins – mit einem Tag von Morgen –
Und jetzt – war Nacht – war’s hier –

Blick sie hinweg – Nacht – wird nicht müde –
Ist wie der Sand am Meer –
Zu unscheinbar die Unterschiede –
Bis nie mehr – Nacht sein wird –

Emily Dickinson

Wenn du mit deinem Duft

Wenn du mit deinem Duft zu mir kommst,
seh ich deine jungen Augen, seh in die Zeit
und fühle dich, wenn du mit deinem Duft
dich zu mir legst. Ich atme ihn und dich,
ein Glück, ich atme. Es kommt eine Zeit
ohne dich, und eine Zeit wird es geben
ohne mich für dich. Jetzt bist du da.

Ground Zero

Ein Früher, ein Nachher
scheint jetzt ein öder Ort,
als könnte dort bloß mehr,

bloß weniger von allem sein,
gelebt ein Leben, weil es ja
ein Leben ist, wenn schon nicht mehr.

Und vor der Tür Verkehr
genauso wie vorher.
Wenn ich schon Jahre nicht mehr bin,

stellt sich ein Anderer hier hin
und öffnet sie vielleicht,
sieht nach, was draußen ist –

selbst wenn da gar nichts ist,
nie etwas war,
nur alles irgendwie verlorenging.

Bleibt stur, macht weiter, glaubt.
Und wenn uns bloß zu träumen bleibt,
ganz gleich, was einer glaubt

von Welten, ganz gleich, wo –
es warten Leute da,
erkennen uns, die kommen,

wenn aller Streit vorüber ist,
trist aller Kampf verlorn oder gewonnen
und alles Staub.

Robert Creeley

Die Bienen von Fuhlsbüttel

Über Nacht, so scheint es, über Nacht
sind alle Blüten gekommen. Die Bienen
schwärmen aus, sie fliegen, beschwingt
vom ersten dünnen Aprillicht über den
silbernen Rollbahnen. Wissen Bienen,
dass die schöne Saumseligkeit eine
vorgetäuschte ist?
mmmm mmmmmFlughafenbienen!
Erhöhte Schadstoffbelastung der Luft
lässt sie in ihren Kästen bleiben, Licht,
Duft weitgereister Flugbegleiterinnen,
den Margeriten in Kübeln zum Trotz.
Fliegen die Bienen, fliegen Maschinen.
Über Nacht, so scheint es, über Nacht.

O Sommer, o Chateaus!

O Sommer, o Chateaus!
Welch Seele wäre makellos?

Kenn ich doch die Zauberschrift
Dieses Glücks, das jeden trifft.

Lebwohl ihm, gleich, wie spät
Der Gockel Galliens kräht.

Bah! was ist das Leben leer:
Keinen Neid verspür ich mehr.

Reiz auf Reiz packt Leib und Seele,
Bloß damit das Kleinste quäle.

O Sommer, o Chateaus!

Tag seiner Flucht, hurra!
Und der Todestag ist da.

O Sommer, o Chateaus!

Arthur Rimbaud

Down Time’s quaint stream

1656

Stromab die fremde Zeit
Ohne ein Steuer
Heißt man uns segeln
Geheim der Hafen
Einzig Böen Regeln
Was für ein Käpt’n
Riskierte das
Welcher Korsar sucht Breiten
Ganz ohne Sicherheit des Winds
Und Plan von den Gezeiten –

Emily Dickinson

Phlox und Kamille

Immer bleibt da eine Stelle,
die niemand kennt – der Phlox.
Ein Feuer, und dann dieses helle
Leuchten, das dort brennt –
Kamille.

Die Stelle lieb ich fast wie dich,
weil du das weißt – du, die Kamille.
Du linderst, und du lässt uns sein,
wenn er mich mit sich reißt –
der Phlox.

Im Bienenkeller

Summ weiter, erzähl,
was du noch keinem sagtest,
spreiz sie, zeig
die dunkle Flügelmitte

tief in der Nacht im Bienenkeller,

dein Kind im Bett,
im Honigschlaf,
doch du bist wach, komm zeig,
was du dir erzählst.

Eine Levitation

Die jubelnde Frau
auf der Ehrentribüne,
in dem grasgrünen Kostüm
die Kanzlerin springt,
schwebt und hebt ab
hoch in die Luft,
ein Ball, Ballon,
ein Kohlkopfluft-
schiff über Toren,
dem Anstosspunkt,
Mittelkreis, Rasen
und dem Stadiondach
ins finstere Nichts
der Nacht und ist
in Sternbildern
und Starwolken
unbezahlbar
nirgendwo funkelnd,
nirgends mehr zu finden.

Als Belgien furchtbar war

Als es darum ging, etwas
zu sagen. Als wir hineinstarrten
in das Himbeergebüsch. Als keine,
keine Antwort kam. Als die Nacht
nicht aufhören wollte. Als sie
aufhörte ohne Klagen. Als
die Schmerzen nachließen,
als keiner mehr etwas wusste
gegen Schmerz. Als ich wieder nur
dich liebte. Als du mich fast vergaßt.
Als die Kirchen einstürzten. Als er starb,
der Elefant, der Angst hatte vor der Umsiedlung
nach Belgien. Als wir endlich verstanden,
warum. Als einer das Gras mähte.
Als das Gras weiterwuchs.

Schilder

Lass uns langsam die Tage zählen,
die zu zählen bleiben.
Du deine bei den Tieren,
den Schildern,
die du ihren Namen gemalt hast,
Glanzstare, ich
zähle die Tage der Namen,
von allen Robinien herausgerufen
und flüsternd im Gras.
Die Bücher und ich,
wir haben sie übersetzt
für dich bei deinen Schildern.

Folegandros

Komm mit mir nach Folegandros,
am Strand dort in den ewigen Wind.
Ich will deine Haut rot werden sehen
unterm billigen alten Himmelsblau.

Die Griechen und Geld, von mir aus.
Geld wird überbewertet. Wir mieten
ein einfaches Zimmer im Zweifel,
wir trösten uns mit Kargem, komm.

Von Milos geht ein Fährschiff.
Brandseeschwalben – ihnen nach.
Und haben wir abgelegt, dann
ist der Ägäis das völlig egal.

Lass uns nach Folegandros fahren,
an den warmen Steiß von Europa.
Ich übersetze Keats‘ Endymion,
du liest in den Augen der Esel.

*

Veröffentlicht in der heutigen Ausgabe der ZEIT
im Rahmen der poetischen Aktion „Dichten für die Griechen”