Was soll das?
frage ich die
Kastanien, da
sie knospen.
In Kastanien
hineinblicken,
immer wieder
neues Dach.
Wir feiern den
Wiederaufstieg,
ruft eine voller
Blüten zurück.
Was soll das?
frage ich die
Kastanien, da
sie knospen.
In Kastanien
hineinblicken,
immer wieder
neues Dach.
Wir feiern den
Wiederaufstieg,
ruft eine voller
Blüten zurück.
Nach 53 Jahren des Umherirrens im Weltall ist heute die sowjetische Raumsonde Kosmos 482 in den Indischen Ozean gestürzt und wahrscheinlich augenblicklich darin versunken. Venera 9 war 1972 vom Weltraumbahnhof Bajkonur mit Ziel Venus gestartet, verlor aber ihre Trägerrakete und umkreiste seither elliptisch die Erde. Ich war sieben, als das Kosmos 482 zustieß – Venera 9 wurde umgetauft und als Satellit ausgegeben, als der Kreml ihr Scheitern akzeptierte. Желаю тебе удачи. Viel Glück auf dem Meeresgrund noch immer desselben Planeten, Kosmos 482 / Verena 9.
Die einzige Erinnerung
an meine Urgroßmutter
Carla May aus Radebeul
zeigt mir sie, da bin ich
vier, mit dem Marsriegel,
den sie mir gekauft hat,
in ihrer uralten Faust.
Wir überqueren 1969
einen unbeschrankten
Bahnübergang irgendwo
in der Stadt Schriesheim.
Warum habe ich diesen
Moment nie vergessen.
Wann aß ich das Mars.
Als im Gewitterunlicht
halb Arles davonfloss,
da flüchtete ich mich
über die Place de la
République in die alte
Sankt-Annen-Kapelle.
Dort sah ich mir in den
durchblitzten Nischen
die Fotoausstellung an.
Ich sah sie lang an, alle
Gesichter aus Äthiopien,
Frauen, Männer, Kinder,
am längsten aber in dem
Gleißen ein Doppelprofil.
Vor der tiefen Schwärze
der Nacht trug Mitin ihren
kleinen Enkel Kalemwork
auf dem Rücken wohin?
Der junge Mann auf dem sommerlichen Markt scheint in einen leuchtend grünen Telefonhörer zu sprechen – dessen leuchtend grünes Kabel aus seiner Hosentasche kommt. Wichtig wirkt er, im Auftrag scheint er zu sprechen. Du glaubst ihm nicht? Ruf ihn an. Ich verbürge mich für ihn. Wir sprechen täglich. Er ist mein Bruder.
Kurt Vile – Smoke ring for my halo
Die Allee entlang fliegen für einen Kilometer vier Tauben exakt über der Fahrbahn – in Wipfelhöhe der Platanen –, bevor sie unvermittelt abdrehen, wie hinein in die Bäume. (Manosque, 6.8.)
The House of love – The house of love
Mylène Farmer – Blue noir
Patti Smith hat das Rimbaud’sche Anwesen in Roche gekauft – das, was übrig ist von Land und Hof, den kaiserdeutsche Truppen vor ihrem Abzug sprengten. Beschreib nicht, was davon übrig ist. Der Raum des Verlorengegangenen ist der Rimbaud’sche Raum. Patti Smiths Geste bewahrt ihn auf.
Midlake – The courage of others
Christian Bobin schreibt in „Les ruines du ciel“, Pascal habe zeitlebens die Vorstellung gehabt, links von ihm verlaufe ein Abgrund. Des öfteren habe er deshalb unter Schwindelgefühlen gelitten und sei der fixen Idee entgegengetreten, indem er einen Stuhl links neben sich stellte und sich setzte. Pascal wusste, schreibt Bobin, dass seine Bedrängnis eingebildet war, konnte die Empfindung aber nicht verhindern. Das Denken sei ein über einem Abgrund stehender Stuhl. Und darüber: die Ruinen des Himmels. (Volx, 11.8.24)
Im Gefängnis, wo er selbst einsaß und wo er heute Schreibwerkstätten für Häftlinge abhält, habe er gelernt, dass es besser sei, zu leben und zu schreiben statt zu leben und nicht zu schreiben, sagt René Frégni.
Vergiss nicht Rimbauds Klavier, eingeritzt seine Tasten in den mütterlichen Esstisch.
„Das Krokodil“ und „Schattenmund“ nannte Rimbaud seine Mutter, „Loyola“ nannte er Verlaine und „Lumpenpack“ die Menschen einschließlich seiner selbst.
„Ein Pessimist ist ein Individuum, das unter Optimisten lebt.“ Emmanuel Bove
Zu Haus bei einem Gewitter.
Es ist mir unmöglich,
Ihnen mitzuteilen, wie
plötzlich das alles war,
wie unerwartet, erwiderte
die Titanic-Überlebende
Antoinette Flegenheimer,
die sich Flegenheim nannte,
als werde alles immer kürzer,
noch bis zuletzt auf Fragen
zu ihrem Leben und Alltag
nach der Tragödie 1912,
jedes einzelne Begebnis
sei wie ein Blitzeinschlag
an einem helllichten Tag
an der Bockenheimer Warte
oder in Tutbury, Staffordshire.
Die alte Amerikanerin,
die mich ansprach vor
dem Monoprix in Arles,
bat mich um ein pièce,
also gab ich ihr 2 Euro
und fragte sie, woher sie
kam, Drummond, lautete
ihre Antwort, Wisconsin.
Hinter uns, an dem Kreisel,
wo es vom Regionalbahnhof
zwischen zwei Wehrtürmen
hinauf zur Altstadt geht, stand
früher das gelbe Haus, in dem
1888 Vincent van Gogh lebte,
kurz auch mit Gauguin, bevor
der ihn zum Idioten erklärte.
Aber das Haus zerfiel, man
riss es ab und baute es nicht
wieder neu, alle Welt kennt ja
Vincents Zimmer darin, Bett,
Stuhl, Waschtisch, Fenster,
weil er alles malte, denn so
wurde für ihn alles lebendig.
So steht das gelbe Haus da,
wie sie einmal Pianistin war,
die Amerikanerin im grünen
Kleid, mit Silberblick, sie sei
beglückt von unserem kleinen
Gespräch. Nie stattgefunden
habe es, ihr Konzert in Arles.
Aber sie sei geblieben, denn
sie warte. Worauf, fragte ich,
und ob sie immer noch spiele.
Und ob, rief sie, ein Nachbar,
der habe manchmal ein Piano.
Danke Ihnen für den Moment.
Jeden Tag wanderte ich darauf
zu dem Monoprix, aber fand sie
nicht, den Silberblick, das Kleid,
erst in einem Van Gogh-Katalog,
und immer nachts träumte mir,
ich sehe ein Ohr schwimmen
in einem Fläschchen voller
gelbem Pinselterpertin.
Gewitter sollte man mieten können.
„Amazone“ – der Dampfer, der Rimbaud 1891 zurückbrachte von Aden nach Marseille.
Der äthiopische Gouverneur von Harar, Ras Makonnen, mit dem Rimbaud bekannt war und verhandelte, ist der Vater des späteren Kaisers Haile Selassie.
Er war schon als Kind ein Forscher. Aber wie sollten sich Ingenieursneugier und Literatur miteinander verbinden? Unmöglich. Das Bindeglied wäre die Liebe gewesen? Ebenso: unmöglich.
Als sie die Fensterläden aufstieß, sagte sie gleich: „Es ist so heiß, dass das Blau des Himmels verbrannt ist.“
Jeder Wasserturm, wie alt oder jung er auch ist, heißt im Französischen chateau d’eau, Wasserschloss.
Die Spatzen überleben die Hitze der Hundstage in Wassernähe – im Ufergras fast vertrockneter Flüsse und Flüsschen, im Gebälk über Tränken, unter Tankstellendächern, von wo sie sich in die Scheibenputzeimer stürzen. Schatten und Wasser brauchen sie tagsüber. Es gibt keine einzige Wespe mehr – alle auf Wassersuche ausgemerzt von den Hornissen und Spatzen.
Oscar Wilde trifft im November 1891 in Paris Paul Verlaine in einem Café. Es ist der Monat, in dem in Marseille Rimbaud stirbt, Verlaines verhasster Liebling. Weiß Verlaine, wie es um Arthur steht? Erzählt er Wilde von Rimbaud? Es gibt dafür keine Hinweise.
1874: War Wilde zu der Zeit, als er in Oxford zu studieren begann, zu Besuch in Reading? Die Stadt, in deren Zuchthaus er 21 Jahre später einsaß, liegt auf halbem Weg zwischen Oxford und London. Warum sollte ein junger Student nach Reading fahren? Rimbaud lebte 1874 dort und gab Französischstunden. Er war 19, vier Tage jünger als Oscar Wilde.
Argent liquide. Flüssigsilber.
„Jeder Mensch ist ein Dichter, der im Hôpital de la Conception von Marseille stirbt.“ Christian Bobin
Der Nektarinentraktor kommt und fährt duftend an dir vorüber. (Manosque, 1.8.)
Der Alte mit den aufgemalten schwarzen Augenbrauen sagt zu seiner Frau, die rotweißes Haar hat: „Mein Leben wird stündlich absurder.“
Einige Städte und Landschaften in Oscar Wildes Märchen erinnern an Beschreibungen in Rimbauds Briefen aus Abessinien.
Kein Tag ohne Tiefschlag. Bitte weiter so! Immer besser scheitern? Wer scheitert denn hier? Ich verfolge meinen Weg, und läuft er auch vor mir davon, ich gehe ihn, solange es geht.
Kleines graues Dreieck, das fliegen kann, Motte, lichtsüchtig, zu welchem Zweck gibt es dich? Keinem. Du vollkommene Antwort. Motte. Winziges Wort. Ja.
Auf dem Weg liegt die Ruine einer Orange.
Rimbauds äthiopische Wahlheimat Harar liegt 1800 m hoch in den Bergen. Colm Tóibín schreibt über Oscar Wilde, auf der Tretmühle im Zuchthaus Reading habe er jeden Tag einen Berg von 1800 m Höhe erklettert.
Die „Amazone“ im Hafen von Marseille, vor 1883.
Aden 1900, die „Sichel“ mit Hafen und Promenade, dort auch Rimbauds bevorzugte Unterkunft, das Hôtel de l’univers, das Hotel Universum.
Arthur und Oscar nach einer durchzechten Nacht, 1874 in Reading. Fotofiktion.
Das Fallana-Tor von Harar, 1885.
„Die Einsamkeitsvereinbarung“, sagt im Radio eine Psychologin, und ich schalte das Gerät aus.
„Mercurochrome“ – den Begriff kannte ich nur aus einem Songtext von Christine and the Queens, lese ihn aber jetzt als Name von Pailletten auf einer französischen Paillettenpackung. Quecksilber oder Chrom, dachte ich stets, wenn ich das Lied hörte. Aber nun … die Pailletten. Quecksilber und Chrom. Oder der Anschein von beidem. Schönheit, schön.
Bittere Wahrheit im fortschreitenden Alter: Du musst alles augenblicklich notieren, was dir durch den Sinn geht, zwei Minuten später ist es verschwunden im Orkus der Vergesslichkeit.
Unerklärliche weiße Lichtflecken im Wasser der Warnau, die braungolden war. (Walsrode, 16.6.)
Ein großer Roman, wäre er nicht von mir: „Seeland Schneeland“.
Die Blumen schlafen, ich glaube, sie sind glücklich.
Vergesslichkeit ist doch eigentlich Reizüberflutung. Sie ist die Fortschreibung der Zerstreutheit. Und zerstreuen können mein Denken einzig Erinnerungen. Wellen auf dem See Genezareth, der auch See Gedächtnis heißen könnte.
Jedes Buch, das du schreiben willst, musst du zunächst träumen.
Als ich die Zigarettenkippe aus dem dritten Stock werfe, geht unten auf dem nächtlichen Parkplatz der Bewegungsmelder an. (Frankfurt, Main, 6.7.)
Das Erschütterndste in Charleville: Alles bei Rimbaud ist Architektur. Sein ganzes Leben lässt sich architektonisch erhellen. Am alten Quai de Madeleine, der inzwischen natürlich Quai Rimbaud heißt, führt das Treppenhaus heute direkt hinauf in die Familienwohnung, jetzt ein Museum. Zu seiner Zeit aber ging Arthur durch einen engen Flur erst in den Innenhof und von dort eine schmale Stiege hinauf in die Wohnung der Mutter, die er Schattenmund nannte, bouche d’ombre oder le crocodile. Flur, Innenhof und Stiege gibt es noch. Die Zimmer sind dieselben. Der Weg dazwischen aber ist zugemauert, unterbrochen. (Charleville, 10. Juli)
Nach der zweistündigen Fahrt über die nächtlichen Berge sehe ich von einem dunklen Parkplatz aus zum ersten Mal das Sternbild des Skorpion am Firmament stehen. Den Kopf, den Stachelschwanz, darunter, erleuchtet, die Festung von Sisteron. (14.7.)
Ein junges Mädchen, lächelnd Trisomiemensch, möchte mir am Eingang zur Kirche Saint Firmin unbedingt – ja, unbedingt: ohne an Anderes dabei zu denken – die Hand schütteln. Fest glaubt das Kind daran, dass wir einander gleich begrüßen. Und es behält unbedingt recht. (Gordes, 17.7.24)
„Der Schlüssel ist heilig, über 130 Jahre alt“, sagt mein Herz.
Allein in dem Palast, aber über den See kommen die Lichter und scheinen nach einer Bleibe zu suchen. Dunkel wie die Täfelung ist das Wasser, eine Stille unterbrochen nur von Kühlaggregaten. Wenn ich hinunter zum Seeufer gehe, muss ich in Schlangenlinien gehen. Und weiß schon auf den Serpentinen, dass unten niemand sein wird. Dann blick, sag ich mir, über den schwarzen Spiegel, schon schimmert darin das Künftige auf – wohin ich mich auch wende, die Nacht, die Widerspiegelungen, alles Zukunft. Ich möchte sofort ein Gespräch mit einem Freund führen. Ich bin ohne Töchter angekommen und ohne Hast, mein Zimmer hat Sarggröße, aber über dem See liegt weiter das versöhnliche Dunkel. Berliner weltverengendes Gespräch ohne Vorstellung, wie es irgendwem geht. Häppchen Chicoréeschiffchen.
Ein Freund sagt dir endlich ernste Worte, bevor er aufbricht zur U-Bahn, weil es keine Betten gibt. Jenseits der moosigen Bahnsteige das Seeuferdunkel. Licht leuchtet, wo geschlafen werden muss. In diesem Palast habe ich mit dem Mondgesicht getanzt, hier war die Vergangenheit jedes Mal zu Ende und hängen immer noch Trugschlüsse an den Wänden. Und auch darin schimmert das Kommende auf.
Ich zähle alles ab: die Zigaretten am Tag, die Gläser Wein, die Zuckerwerte. Die Regengüsse und die Mohnblumen an den Straßenrändern. Die Straßen. Die übersetzten Gedichte, die redigierten Gedichte, die geschriebenen und ungeschriebenen Bücher, die Regenfäden und die Spiegelungen des aus den Traufen in die Straßen stürzenden Wassers. Die schlaflosen Nächte. Die Träume. Die Filme. Die Laternen und ihre Lichterkegel. Die gesammelten Lieder. Die vergessenen Tage. Die ungezählten Jahre. Die Erinnerungen an den Mohn auf den nördlichen Inseln und den südlichen. Deine Finger. Meine. Herzschläge. Einschläge. Die bösen Worte und guten. Die Freunde, die gingen, und die, die blieben. Ich zähle die Zahlen. Ich zähle die ungezählten, die unzählbaren Augenblicke, in denen ich noch glaubte und glaube und glauben werde. Woran? Nicht an die Summe. Nicht ans Zählen und nicht an das einzelne Stumme. (20.5.)
Fahnenflucht.
Falscher Jasmin.
Blossom.
Rimbauds Klavier: Da der Mutter das Geld für eines zu schade war, schnitzte er sich die Tasten in den Küchentisch und spielte darauf stumm.
Peter Tschaikowsky – Dornröschen
Mit der Hitze werden die Morgenvögel kommen, die hellblauen Zwischenräume, Musik.
Ich weiß es schon jetzt, der ewige Sommer geht weiter. Diese Wolkenschiffe sollen bitte die ganzen Kellerrolltreppen auf den Schrottplatz für Dunkles verfrachten. Winter war es sieben Jahre lang.
Totentänze. Immer im Kreis. Immer im Kreis. Im Kreis. Immer. Immer. Sommer.
Immer Sommer, der Sommer, der jetzt kommt.
Midlake – The courage of others
Immer öfter sehe ich Tote – Menschen auf der Straße oder im Bus, die Gestorbenen zum Verwechseln ähneln. Was wollen sie mir sagen? Dass der Tod nichts als Schein ist?
Die Felder, Feldwege, die Weide im Wald und die Häuser in dem Dorf, wo du vor 30 Jahren gelebt hast, alles wirkt altgeworden, widerständig zwar, aber angegriffen von der Zeit und ihren Vergänglichkeitsstrategien. Alles wirkt, wie du dich selbst empfindest, und so frag dich: Sind die Felder und Wälder und die Häuser ein Teil von dir, oder bist du noch ein Teil von ihnen? Beides wohl. Und damit das so bleibt, musst du immer wieder dort hinfahren – in das Dorf, mit dem letzten Haus vor der Weite.
Why be only cinder,
says the crow to the cranes,
when you stand in light, why
is my song a caw. Waa!
skyscrapers, trams.
I had feathers as motley
as clouds Waa! in the icy
wind. Had rivers as plumage,
claws that etched the sounds
of the trees into the ground, so
Waa! was a path to the warmth
of the summer street. It was a fire.
Was flames, a red blaze,
ghostly Waa! a burning
window. I flew through it,
and it was the eagle, was Waa!
the god who blackened me,
left me mute and searing.
Song and map and mantle,
in crow dreams Waa! they
are one. I came to a morning.
And treetop was the great light.
For Tony Birch
(Translated by Mirko Bonné)
In Fontaine de Vaucluse im Luberon schrieb Petrarca seinen Canzoniere, Liebesgedichte an Laura, wo es in Sonett CXXIV heißt:
Lasso, non di diamante, ma d’un vetro
veggio di man cadermi ogni speranza,
et tutt’i miei pensier romper nel mezzo.
Aus Glas gefertigt, nicht aus Diamant,
seh aus der Hand ich gleiten jede Hoffnung,
und mit fällt all mein Denken und zerbricht.
Francesco Petrarca bestieg zusammen mit seinem Bruder den Mont Ventoux, er schrieb darüber einen Aufsatz und gilt seither unfreiwillig als Begründer des Alpinismus. Fontaine liegt an der Sorgue, die hier entspringt – die mächtigste Quelle Europas, ihr Wasser birst in Quellzeiten aus dem Gebirge, das es kilometerweit talwärts durchflossen hat. Es ist um zehn Grad kalt. Links am Hang sieht man ein bungalowartiges Gebäude stehen. Dort befindet sich der Sommersitz des französischen Staatspräsidenten Lamartine – in meinem Roman „Fallingwater“, an dem ich schreibe.
Immer Amateur bin ich geblieben, wie im Schreiben so im Leben, wie dem Dichten so dem Alltag gegenüber. Meine Bildung ist die Einbildungskraft, und es gibt mich, weil ich empfinde und damit ich fühle und spüre. Ja, denke ich: Du mein Denken langst mir nicht oder warst mir fremd von Anfang an.
Podium zu Joseph Conrads 100. Todestag. Ich begegnete Rainer G. Schmidt, mit dem ich nett, innig binnen Sekunden sprach über Rimbaud. Seine schönen Augen würdevoll. Er hat den Schalk im Nacken. Er sagte, er vermisse sein Leben am Nikolassee, wo er täglich die Vogelzüge habe beobachten können. Alt ist er geworden – oder ist älter, als ich dachte. Ich sah mich in ihm. Dabei war er ganz da. Übersetzt weiterhin Thoreau. (LCB, Berlin-Wannsee, 7.5.)
Sein 90. Geburtstag. Seit acht Jahren ist er tot – und bin ich erleichtert. Zum ersten Mal in all der Zeit denke ich milder an ihn, vergleiche, urteile nicht ab, denke ihm nach, gedenke. Der Mistkerl. Der Verlorene, nicht der Versager. Ich weiß ja gar nicht viel ihm – sein Versagen. Wie gern säße ich heute Abend mit meinem alten Herrn in einem Lokal seiner Wahl am Hafen und hörte ihm zu. Nie gab es dazu die kleinste Chance.
Dichtung, ohne Egomanie – was wäre sie? Dichtung.
Entwurf: Allein in dem Palast, / über den See kommen die Lichter und bleiben. / Dunkel wie die Täfelung ist das Wasser, eine Stille unterbrochen nur von Kühlaggregaten. / Ich bin angekommen ohne Hast, das Zimmer winzig, der Blick über den See in sein versöhnliches Dunkel. Berliner Gespräch, Berliner Coolness. Keiner hat eine Vorstellung davon, wie es irgendwem geht. Häppchen, Chicoréeschiffchen. / Das Dunkel. Die Lichter, wo geschlafen werden wird. Hier habe ich mit dem Mondgesicht getanzt, hier war die Vergangenheit jedes Mal zu Ende und hängen noch immer dieselben Trugschlüsse an den Wänden.
Im Gegensatz zur Luftgitarre gibt es das Luftgewehr nicht nur in der Vorstellung (aber auch). Beide sind dennoch gleich wirklich.
Die dunkelhäutige Schönheit hinter der Kasse kommt um den Tresen herum und hinkt durch den Laden nach hinten. Als sie zurückgehumpelt kommt, erscheint sie mir liebreizend. (Manosque, 17.5.)
Saumselig, die Mohnblumen.
Die graue Katze, die schwarze Katze, junge Schwestern, du erkennst es an ihrer Augenscheu.
Und ich seinerzeit! Ich war 14, die zweite Ehe meiner Eltern ging in die Brüche. Ich erfand die Geschichte eines Fußballvereins. Erste Höhepunkte. Politik? Poesie? Eher Musik, „Follow you, follow me“, die Kunst der Geheimhaltung und die der Lust. Joy Div hörte ich nicht, solange es die Band gab. Bei Michelle am Hamburger Hauptbahnhof sah ich zum ersten Mal das Cover von „Love Will Tear Us Apart“ und den Engel darauf, der zu Stein geworden war aus Kummer. Ich schrieb noch keine Gedichte, aber ich erfand die Geschichte eines Fußballvereins. Ian Curtis nahm sich im Mai 1980 das Leben. Als ich an seinem Grab stand – ich kam aus Schottland und fuhr nach Wales –, lagen darauf lauter hellblau-weiße Schals. Ian war loyal supporter der Cityzens, von Manchester City, das 1979 kein Aktienverein war, sondern Team der Vorstädte, vom Rand. Am Boxing Day, dem 26. Dezember ’79, spielte Man City zu Hause an der Maine Road 1:1 gegen Stoke City. „Love Will Tear Us Apart“ und alle Songs von „Closer“ können zu Weihnachten 1979 entstanden sein.
Foto und Facebookbeitrag verdanke ich Sven Meyer.
Ich kann mich auf mich noch verlassen: Ich weiß noch, in welcher Manteltasche ich das Haargummi deponiert habe, das den kaputten Regenschirm zusammenhält.
Die Zeit, in der du lebst, versucht dich davon zu überzeugen, dass du weniger weißt als andere. Was nicht stimmt. Kein Mensch wusste je mehr als der, der neben dir an der Straßenkreuzung steht.
„Das Leben ist: seine Ungenauigkeit.“ Wilhelm Genazino, „Mittelmäßiges Heimweh“
Du musst unbedingt begeistert sein beim Schreiben eines Romans – und die Begeisterung in Balance halten.
Das Mädchen, das nur einen Moment lang sichtbar wird im Licht ihrer Displayleuchte – du siehst es in diesem Augenblick.
Genugtuung ist das höchste der menschlichen Gefühle. („Fallingwater“)
„I almost believed I am real“ Daft Punk
Plattformtragkraft 6000 kg.
Schreib noch „Winter in Ventura“, die Prosagedichte, und dräng auf den Band mit den zweiten Aufsätzen – und dann ist auch genug. Wenn die Freiheit erreicht ist, bist du frei. Sollen die Kinder sehen.
House of love – Babe rainbows
The Walker brothers – Nightflights
Tropischer Regenwald – als ich in dem Spaßbad das Schild las, stand für mich dort Optischer Regenwald.
DAS HAUS VERLASSEN. Nur wenig mitnehmen.
Eine Handvoll Schatten, den Umriß von Tisch und Stuhl.
Die Schlüssel liegen lassen, die weißen Seiten
zwischen den ungelebten Jahren deines Lebens.
Dieses Leben. So, wie man die Sprache verläßt,
um mit der Stille zu reden. Einziehen in Trauer
und Schnee, auf die sich unser Herz verläßt.
Sich niederlassen in einem Wort, das man noch
nicht gefunden hat, um das man erst
mit dem Tod würfeln muß.
Christian Saalberg
(10.12.1926–25.5.2006)
And the gates / Of the town closed as the town awoke.
Dylan Thomas
Die Wellen, die draußen ertrinken wollen,
laufen zum Schlafen alle in die Dünen.
Und du bleibst? Meinetwegen. Gut, bleib.
Die Strände lang versinken grauenvolle
Schätze im Schlamm, und zwischen ihnen
führt deine Spur, als wär sie selber Welle.
Kennst du am Ortsende die Engeltankstelle?
Der Küstensaum ist Küstenwall. Alles treibt
gut oder übel sonst her. Schon ist es weg.
Binnenland so ein Backsteinort, der träumt
von krummem Regen. Such ein Versteck
am Sonnenheizofen, und du findest keins.
An den Himmelsfäden runter hängt eins.
Vorm Ortsende kommt die Engeltankstelle.
Jeder Schuppen ein Käfer, die Beine Pfähle
mit Muschelpocken, wo Jungs hämmern.
An Leinen knallen blau Röcke. Die räumt
der Wind in die Luft, wenn es dämmert.
Die See kommt nicht zu Besuch, fast nie.
Sie kennt ja alles, nur keine Diplomatie.
Aber am Ortsausgang die Engeltankstelle.
Und in den Zimmern aus Zwieback und Ale
Häher-Gourmets, Möwen-Versteherinnen.
Kinder-Krähen. Mit Glück knospt ein Kahn
in einer Bö. Alles was zählt, ist drinnen,
draußen ist zu. Nimm dich jemandes an,
und bist’s nur du. War’s das? Dann geh.
Am Ortsende siehst du die Engeltankstelle.
Für Jan Wagner
Seit acht Jahren wollen die drei verstaubten Stühle unter der Dachschräge mir etwas sagen, aber bekommen kein Wort heraus.
In Oraison gibt es nicht nur das unsichtbare Hippodrom. Es gibt in Oraison auch den elektrischen Fluss. Und die Scheintankstelle.
Ein riesiger Greifvogel über Moustiers, zwei Junge in seiner Rufweite. Der Einheimische sagt mir, es sind Geier, des vautours.
Die Dohlen sind da. Sommer. Obwohl es noch gar keine Früchte an den Bäumen gibt. Sie stimmen sich ein. Sommer. Warum waren sie letzten Sommer nicht da – wo wart ihr?
T. Rex – Electric warrior
Hinter lauter Tulpen lehnt an der Hauswand eine Sonnenuhr voller Moos oder Flechten: 1961.
T. Rex – The slider
Schnecke eins kriecht über den Zement zu den Pfützen des Schauers von gerade eben, aber bevor sie das Wasser erreicht, ist alles verdunstet.
Briefe an den erfundenen Freund.
Langsamer, uralter Igel ohne Stacheln. Schnecke zwei kriecht den Feigenbaum hinauf, mitten durch die verblüfft wirkenden Ameisen und unentwegt untersucht von Hornissen, echte Ungetüme. Wohin will sie?
Beim Tanken in Bresse-en-Bourg tschilpen unterm Dach der Autobahnraststätte hunderte Spatzen – derselbe Ton wie am Abend in dem Wäldchen am Schwimmbad bei Freiburg. (30.3.24)
Saharasand. Bei Grenoble war er ockerbraun und vermischte sich spielend mit dem Dauerregen über den Alpes-Haute Provence. Er sorgte für ein gelbes Licht, das alle Grüntöne hervortreten ließ und das Grau auffächerte, damit es noch grauer erschien.
Wer noch die Zeit findet und den Mut dazu hat, kommt immer wieder zurück zu Rimbaud, um sich zu befragen – nicht nur zu fragen –, wie es sein kann – was? Trotz allen Stumpfsinns da zu sein, noch und wohl auch zumindest morgen. Wie es, nein wie sie sein kann, diese umfassende Gewaltverwicklung der Welt und immer näher rückend sogar bis zu dir hineinverwickelt in deine Umwelt oder Unwelt – wo doch zurselben Zeit in dieser Um-, Un- oder Ohnwelt auch ein Sperling tschilpt. Von drei Menschen weiß ich, dass sie Rimbaud aufrichtig zu verstehen und zu begreifen versucht haben – und dass Henry Miller, Enid Starkie und René Char Jahrzehnte benötigten, bis sie ihre Annäherungen annähernd auszudrücken vermochten. Mich macht der Junge mit der inneren Hydra ebenso ratlos wie der Mann mit den Sohlen aus Wind. Rimbaud ergreift mich und stößt mich im selben Augenblick ab. Er ist die sternenklare Nacht der Poesie, ein Schwarzes Loch, in dem die Dichtung zusammengebacken wird zu einem Diamanten, der so scharfe Kanten hat, dass er dir die Hände zerschneidet, sobald du danach greifst.
Problèmes des riches.
Schon indem ich sage, ich will die Welt behalten, wie sie ist, desavouiere ich mich. (Und die Welt.)
„Wir schätzen den Wert Ihrer Immortelle“, las ich, auch wenn dort Immobilie stand. (Neuss, 14.3.)
Die Straßennamen weisen uns nicht nur hin, ebenso weisen sie zurück in die Geschichte der Straße. Impasse des oliviers. Olivenbaumsackgasse, Olivenbaumstich oder -stieg. Am Ende der Impasse liegt ein Hof, umstanden von einstöckigen, geziegelten, gelb getünchten Wohnhäusern. Wo standen die Bäume? (Endlich wieder in Volx, 16. März 2024)
Abgesehen davon, dass „die Welt“ gar nicht behalten werden kann, wie sie ist – ich hätte sie ansonsten ja behalten, wie sie war. Behalten wann? Als die Welt so mir gehörte wie ich ihr.
Genesis – We can’t dance
Wann? Als es in den Dörfern und den Vorstädten noch die Stille gab, wenigstens zuweilen. Als die Kinder (wir) noch auf den Straßen spielten, in den Wäldern, auf den Feldern – wo ich überall herumlag und Löcher starrte in die Luft.
Ich sehe zur Uhr, als die Glocke schlägt. Ich sehe zur Uhr, weil die Glocke schlägt. Ich sehe zur Uhr, bis die Glocke schlägt.
Wenn es erst kein Münzgeld mehr gibt, was machen dann die Bettler? Womöglich werden sie ein Kartenlesegerät haben, und wir überweisen ihnen dann – online – einen Euro. Mein Herz sagt, dann ist die Zeit angebrochen, um ihnen Brot zu geben, einen Saft, ein Stück Obst. Die Münze ist ein Austauschmittel, non? Sie ist eine Währung, die Währung und Wahrung der Geste, und wenn sie ausbleibt – was folgt?
Franz Schubert – 9 Impromptus (Karl Schnabel, 1939 und 1953)
Mein Vater war Kranführer in Heidelberg. Heute ist er Kranführer in der Unterwelt.
Die Postbotin rumpelt auf ihrem gelben Rieseninsekt vorbei – hörbares Zeichen, dass die Packtaschen leer sind, die Briefe verteilt. Der Tag ist versendet und kann gehen.
„Du zahlst bar für die Wahl deines eigenen Schicksals.“ Tomas Venclova
Heute sah ich im Frost einen Lastwagen vor dem Fenster sich heben und senken, als atme er auf seinen sechs Achsen, als hole er Luft, atme ein und aus. Er hatte Arme, die er kurz vor Abfahrt verschränkte, dann fallen ließ und versenkte, tief wie in Hosentaschen.
Im eiskalten Pfützenwasser der Schneeschmelze baden die Tauben.
Grizzly Bear – Yellow house
The Sea and Cake – One bedroom
Am frühen Morgen den alten Wasserstrahl wiedergetroffen: „Ah, da bist du ja.“
Grizzly Bear – Horn of plenty
Band of Horses – Infinite arms
Grizzly Bear – Painted ruins
Niemand wird es je vernehmen – oder hat es je vernommen –, das unhörbare Orchester des Windes, wie es des Nachts den Busch vor dem Restaurant vis-à-vis hin und her schwanken lässt. Jeder einzelne Ast eine Stimme für sich, alle aufeinander abgestimmt. Dazu trommelt leise der Regen. Dezemberregen. Hin und her. Und dazu das Dunkel, der Gesang des Dunkels.
Katze: fleischfressende Fellrose.
„In diese Zeit also mußte ich zurück mit meinen Träumen.“ Klaus Mann