Größer und glänzender und weißer

Ende November, ein eisiger Wind kommt aus Russland und Polen zu mir rüber, Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, ich gehe im Morgenfrost auf dem Bahnsteig an drei jungen Typen vorbei, die da rumstehen und rauchen. „You were bigger and brighter and whiter than the snow“, singt Robert Smith von The Cure in irgendeiner Frittenbude, und der eine Junge fragt in dem Moment: „Warum will sie mich nicht mehr sehen, was meint ihr?“ So ein kalter, grauer, sehnsuchtsvoller Morgen. „Wird eben für einen Monat deine miese Visage nicht mehr sehen wollen“, sagt ein anderer, ehe die Drei laut loslachen.

Es ist tatsächlich so, wie Rutger Kopland meinte – ich spüre es jeden Tag –: „Das Verlangen nach einer Zigarette ist das Verlangen selbst“.

Ein wohltuender Ausblick aufs Alter: die Frauenmüdigkeit. Müde der Frauen milde zu altern. Schön wär’s! (Schön war’s.)

Es ist soweit: Wir werden unsere eigenen Puppen. Bei „Saturn“ bieten sie jetzt dreidimensionale Plastikfiguren an, die jeder von sich selbst erstellen kann. 76 Kameras und ein 3-D-Drucker reichen, 300 Euro, und du hältst dich selber in der Hand. „Lass dich drucken!“ Viva Las Vegas!

Er war nicht nur hart im Nehmen, er war auch hart im Geben.

In Keuschheit und Demut

Einmal, erinnere ich mich, ging ich schon sehr früh am Abend in die Musikkneipe, in der ich seinerzeit, vor fast 35 Jahren, mein Leben beschließen wollte und die bezeichnenderweise „In Keuschheit und Demut“ hieß, und um nicht haltlos der an mir nagenden Langeweile ausgesetzt zu sein, nahm ich Hemingways Storys „Männer ohne Frauen“ mit und las darin an einem Tisch, an dem gegenüber zwei ältere, da noch immer junge, heute bestimmt sehr alte Mädchen saßen und, wie mir lange nicht auffallen wollte, mich aufgrund meiner Lektüre schallend auslachten und mit gespielt traurigem Winken, wenn nicht obszönem Tanzen vertrieben. Morawazweifel Ich bin dann am Abend darauf wieder dorthin gegangen, setzte mich, keusch und demütig, wie ich war, an denselben Tisch und las auch wieder, diesmal Hemingways Storys „Der Sieger geht leer aus“, weil mir der Titel zugleich unschuldig, melancholisch, wehrhaft und doppelbödig erschien, und auch die Frauen waren da, aber das Lachen war ihnen vergangen. Und ich? Mir war mindestens ebenso viel vergangen.

Selten durch einen so dichten Nebel gefahren wie vorgestern durch die Suppe bei Hagenow. Eine weiße Weite. Die tiefstehende Sonne eine zerzauste Corona im Dunst. Kräne, Brücken, die ins Nichts zu führen schienen. Überhaupt alles ringsum Schein. (21.11.)

Das Bundesministerium des Erinnerns?

Wie ich die ein halbes Jahrhundert alte Strickjacke ansehe, fällt mir ein, was ich als Junge manchmal dachte, wenn mein Großvater vor mir stand und ich die Leiste seiner Metallknöpfe sah: „Kein Mensch außer ihm hat Markstücke an die Jacke genäht.“

Große Morawa

Wer Handke liest, der weiß: Es gibt ein situatives Lesen, das sich frei von allem, allem theoretischen Eingezwungen-, Zurechtgezwungensein macht – und so auch von Peter Handke, dem Unglücksritter, dem Befreiungsfabulierer, dem Prinzen von Nirgendwo. Hier, mitten in der „Morawischen Nacht“, die ich seit einem Jahr lese: „Jeder ist, wie er ist. Und alle die Schuhbänder, die nicht aufgehen. O Gerumpel der Morgengedanken. Das Singen meiner Mutter hat verhindert, daß ich Sänger wurde. Ich störe, aber ich möchte nicht stören. Den verlegenen Geber liebt Gott noch mehr als den fröhlichen, und den aufgeregten Geber liebt er am meisten. Wie man herumirrt im Universum. Ich liebe zu wenig. Es ist keine Schande, zu atmen. Grün war schon lang nicht mehr. Vor lauter Schauen sehe ich nichts mehr. Eigentlich sollte man öfter sterben. Niemand beherrscht die Welt. Die Sorge, sie ist nicht episch. Wenigstens bin ich allein. Es ist entsetzlich, wie man sich aus den Augen verliert. Alles ist Irrtum. Wörter nehmen, nicht Farben! Nichts ist gesund! Kauf nichts! All die Zeit! Und morgen geht’s weiter …“

Fotos: Westliche und südliche Morawa fließen ineinander: Morawazweifel (1); Die Große Morawa, nicht schiffbar (2)

Wirklich vereinigte Staaten

Schnitzler schreibt: „Ich freute mich, daß ich lebte …“, Kafka schreibt: „Traum an einem nächtlichen Tag.“

Da gibt es Leute, die drehen mit ihren Telefonen Filmchen von ihren Haustieren, die senden sie an eine Radiostation, die eine Sendung produziert, in der ein handysüchtiger Zehnjähriger unablässig Haustier-Videoclips auf sein Smartphone gesendet bekommt. – Das hören sich die Leute an und warten, dass sie selber an die Reihe kommen. Viva Las Vegas!

Die Neuigkeitenrepublik!

In der Zentralbibliothek gebe ich einen Band Gryphius zurück – lege das Buch in ein Lesegerät, das es einsaugt – es rollt auf einem Fließband hinter eine Glaswand – es rollt weg nach links, reiht sich ein in die Stafette der Bücher aus den anderen sechs Lesegeräten – wird nach Kennziffer geordnet auf ein Seitenfließband gesaugt – rollt nach oben auf das Hauptrollband – verschwindet. „Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten / Als schlechte nichtikeitt / als schaten staub und windt. Als eine wiesen blum / die man nicht wiederfindt.“

19. November, noch immer Mücken und Wespen.

Wo ich leben könnte: les états-unis de toi et moi

Versagistan

Das Beste, was du nach dem Ende einer 29 Jahre währenden Freundschaft erwarten kannst, ist nicht Aufrichtigkeit, sondern Abwesenheit. Jedes kolportierte Wort zeugt von Lüge und Missgunst, Vorurteil und Dünkel. Hör nicht hin! Bleib deinem Glauben treu, dass was so lange andauerte wirklich Freundschaft war und nicht einseitig.

Nach meiner Lesung aus „Wie wir verschwinden“ kommt eine sehr alte Dame am Arm ihrer Tochter zu mir und erzählt vom 5. Januar 1960 – als sie morgens im Klassenzimmer saß und ein Mitschüler hereinplatzte und rief: „Camus ist tot!“ (Darmstadt, 12.11.)

Die obere Donau bei Sigmaringen, von unbegreiflichem Dunkelgrün.

Meine Jugend – ein Witz. Die Liebe in den Zeiten der Kohl-Ära.

Am Mittag über Sonnenbühl gefahren, Sonne und Nebel, blassgrün, blassbraun und blassrötlich die Herbstfarben auf der Wacholderheide. Ein großer Dunst.

Der Ort Killer, dessen Ortsschilder alle drei, vier Monate in der Nacht abgeschraubt und weggetragen werden von „Sammlern“.

Von wem er gelernt habe, die Welt zu hinterfragen, wird der Regisseur gefragt, und er antwortet ohne Zögern: „Sicherlich von meinem Vater!“ Von wem also hast du das Welthinterfragen gelernt? Gar nicht? Ist es deshalb, weil keiner da war, eher ein Zweifeln, sogar eine Verleugnung, wie bei Gryphius, der Welt? (17.11.)

„Versagistan“, sagt das Kind und zitiert damit seine Mutter. „Dein Vater, weißt du, der arbeitet in Versagistan.“

Lima

Die Überschwemmung von Passau,
da sie unabwendbar ist, was bringt sie
auf dem Weltklimagipfel, was trägt
sie ein? Schneller als die Alpen-
gletscher schmelzen, werden Dürren
in Australien, kalifornische Buschbrände,
Bangladeshs Überflutungen und der Untergang
des Inselreiches Tuvalu verschachert
und zu Profitmasse. Klimawandel,
Klimahandel. Ein grüner Himmel
steht über Lima am Abschlusstag
der Konferenz, so leuchtet das Meer,
und Wolken aus Staren durchrauschen
den Hafen Ancon, bei deren Anblick einer
wie Auden dächte, ein jeder sollte gleichgültig
wen lieben, oder wir alle sterben, was allerdings
Auden etwas drastisch erschien, weshalb er schrieb:
Lieben müssen wir einander und dann sterben.

Für Uli Schreiber

Die Manchfaltigkeit

Hinterm Haus liegt ein torloses Fußballfeld, und über den Rasen staken stundenlang zwei Störche in einem unerklärlich langsamen Spiel.

Der Weg, auf dem ich gehe, ist ein „vom Winterdienst nicht betreuter“! Also ein nicht bestreuter? Indem ich hier gehe, hinein in die Stadt, betreue ich den Weg, und er betreut mich. (Greifswald, 6.11.)

„Die Schwalben fliegen und fliegen und fliegen, sie sammeln Beiträge zur Geschichte der Freude.“ Radka Denemarková

Hut ab. Haut ab.

Die Fotografin geht um den Tisch und knipst die Männer und Frauen, jede und jeden einzeln und mehrmals, nur die in die Jahre gekommene Dichterin mit der auffälligen Oberweite ignoriert sie, als wäre die Frau aus Luft. Gefragt, warum, antwortet die Fotografin verächtlich, zornig und hässlich: „Bei ihr platzt mir die Linse!“

Manchmal bin ich mir fast sicher: Das schönste Wort, das ich kenne, ist dieses „manch“, „mancher“, „manche“, und weiß manchmal, es stammt ab von „mannig“ (das englische „many“ ist seine Schwester), ist gesprochene Verkürzung, vielfältiger Dialekt, und von so manch anderem will es mir an manchen Tagen erzählen (aus der Tiefe der Zeit): vom Vielfältigen, Mannigfachen, der Manchfaltigkeit. (9.11.)

„Und die Literatur ist noch unentdeckt und nicht geboren.“ Auch das: Radka Denemarková

Beton, konkret

An der Salzach ein so warmer Novembertag, wie ich keinen erinnere: novemberwarmer Wind, die Vorstadt im Föhn, die Berghänge gelb, grün, golden und braun im milden Pulsen der Luft. Auf flattern die Vögel überm Fluss, und am Ufer sitzen die Frauen und essen aus hellen Tüten das Licht. (Salzburg, 4.11.)

Die Mauerseglerhitze?

Sobald sie mit ihm telefoniert, fällt ihr sein Geld ein und sucht sie nach Lücken, um es ihm aus der Tasche zu ziehen.

„Die schönen Puppen aus Maiskolben mit den hellen Haaren aus Maiskolbenfäden!“, sagt die alte Dame im Radio, die jahrzehntelang Kinder in Favelas von Rio betreute.

Es muss alles, jeder Fleck, jedes taschentuchgroße Stück Rasen, jedes ERDREICH, solange es nur braun oder grün ist, zuasphaltiert werden, damit wir Beton draufsetzen können. Concrete. Während jede Begegnung, ob die der Liebe, der Freundschaft oder einer anderen Zugewandtheit, ein interstellares Ereignis ist.

Gespenster beim Baden

„Ich weiß nicht, wie oft ich schon gestorben bin“, sagt das Kind zu sich selbst, und zu seiner Spielfreundin: „Und du, bist du auch gestorben?“ – „Ich hab aus Versehen meine ganze Welt gelöscht, ausgerechnet meine Lieblingswelt.“ – „Echt?“

Nicht mehr lange, und die Mädchen stehen Schlange.

Schlagzeile: „Eingang zu Unterwelt entdeckt“ – noch besser wäre gewesen: „Ausgang aus Unterwelt entdeckt!“

„Krass, wie vorbei der Sommer ist“, sagt das Mädchen auf der Straße.

Die See so glatt, ein Spiegel. Und der goldene Wald und der grüne Wald bis an den Küstensaum gewachsen. Am Herbststrand Alte und Kinder. Und Gespenster, die im Spiegel baden. (Hohwacht, 31. Oktober)

In dem alten Garten saßen wir vor fünfzehn Jahren als junge Fremde. Heute sind wir alte Freunde und sitzen jeder anderswo. (Rendsburg, 2.11.)

Im Licht unter den Herbstbäumen stehen rotbefrackt die Flötisten und üben. Du gehst vorbei, und du kannst von Glück reden. Denn du kannst aufbrechen, wohin du willst.

Sei der Regen

Du machst die Tür auf, und es ist Herbst. (Du schließt die Augen, und da ist Sommer.)

Der Briefkasten, voll von den Büchern der Freunde.

Nicht die Welt ist undankbar, ich bin es.

Apropos Welt: „Der letzte Mensch auf der Welt wird aussehen wie ein Pfannkuchen“, sagt das Kind.

Apropos Kind: „Am unglücklichsten machen mich die Tränen“, sagt das Kind.

Deutliches Zeichen: In der U-Bahnstation klemmt eine halbe Brotstange unter dem Telefonhörer. (Klosterstern, 28.10.)

„HoGeSa“ – ja da hat aber mal einer eine Abkürzungsidee gehabt! Ihr lachhaften Idioten. „Hooligans gegen Salafisten“. Viva Las Vegas!

„Be the Rain.“ Neil Young