Der Regen in Vela Luka

Im Überlandbus von Vela Luka nach Korčula – voller Schüler, vielleicht, wahrscheinlich Gymnasiasten – beißen ein Mädchen und ein Junge im Wechsel von einer Tafel Schokolade ab. Und als die aufgegessen ist – man kann es ja nicht mitansehen –, fangen sie an mit Küssen. (Zwischen Blato und Žrnovo, 23.9.)

Heute wieder der Tag: „Ich habe am 23. September Geburtstag“, sagte zu mir im Sommer 1980, irgendwo im Harz, ein junges Mädchen, „mongoloid“, wie es noch hieß, als es uns gleich war, was wir den Mongolen oder denen, die uns an Mongolen erinnerten, mit einem solchen Wort antaten. Seit 35 Jahren denke ich an jedem 23. September – und nicht nur dann – an die Freundin aus der Mongolei meiner Vorstellung.

Keine Seltenheit und nichts Verwunderliches, dass man in Vela Luka sagen hört: „Ich wohne in den Olivengärten.“

Die zweite Nacht Starkregen, und ich höre das Prosagedicht von Francis Ponge, das die Geräusche der Regenmaschine abzubilden versucht: Zischen, Zischeln und Trommeln und Getrommel, Klopfen und Klöppeln, Rascheln, Rasseln, Rauschen, Rinnen, Klingeln, alle feinen Klänge. Aus sämtlichen Öffnungen der Geschäfte, Häuser, Schuppen, Baracken, Läden und Buden fließt das Wasser der Wolken heraus. Noch Stunden später tropft es in meinem Schlummer. Ponges Maschine ist eine lebendige, sein Gedicht eines, das lebt und unvergessen für mich bleibt.

Trogir

Eine ältere, sehr schmale und braungebrannte Frau geht baden im türkisblauen Wasser des Hafens von Trogir. Am Ufer unter den Pinien wartet ihr Hund, und sie ruft vom Wasser aus alle halbe Minute hinüber zu ihm, sodass er (damit er) weiter wartet.

Die Toten von Trogir – ihre Konterfeis werden in den Wochen vor der Bestattung an die Bäume im Uferpark geheftet.

Die Nächte in Split, Splitternächte. Zerstoßen, zerschunden, zermürbt vom Lärm in den Marmorgassen. Und immer die heulende, plötzliche Bora, die hier Bura heißt – ein feiner, aber sprechender Unterschied.

An Bord einer Auto- und Lastwagenfähre wie der „Kitty“ Überfahrt von Split nach Vela Luka auf Korčula. Immer wieder – viel zu selten – eine der schönsten und merkwürdigsten Empfindungen deiner Tätigkeit: etwas nachzuerleben, was du erfunden, dir ausgemalt und vorgestellt hast. Wo ist Lilith? „Ah, ich weiß …“

Wenn du an jeder Ecke, an jedem Felsenstrand denkst, gleich kommt Peter Handke hier lang, mit weißem Hemd und Cargohose – dann bist du auf dem Balkan, vielleicht nicht in Serbien, nicht in Bosnien, aber in Kroatien, in Dalmatien, immerhin!

Ich frage die Wirtin, wann es zuletzt geregnet hat in Vela Luka, und sie antwortet: „Kann mich nicht erinnern.“

Split

Ein bleibendes Bild: Bora Ćosić erzählt, immer wenn er nach Dalmatien fahre, kehre er heim mit einem Koffer voller Kartoffeln. (19.9., vor dem Abflug nach Split)

„Armes Deutschland“, sagt der deutsche Zollbeamte am Flughafen angesichts der endlos scheinenden Schlange aus Leuten, die nach Priština fliegen wollen.

Flughafen Split: „Bus Problem.“

Nachts in Split bricht über der Stadt ein solches Gewitter entzwei, dass du dir wie sein schwarzes Herz vorkommst. Dann der Starkregen, und das Getrommel und Geklopf aus allen offenen Rohren und in allen Mauernischen, stundenlang.

Dreibeinige Katze, die sich in eine Nische krümmt, Schutz suchend vor den Schuhkäuferhorden, meine Freundin.

Um den Wasserplaneten Split der breite Gürtel der „Trabantensiedlungen“.

„Wir mochten die Flüchtlinge, wir hätten sie gern hierbehalten, sie haben sogar ihren Müll eingesammelt und mitgenommen“, sagt die junge Kroatin. „Aber sie wollten nicht hierbleiben, sie wollten alle nach Deutschland.“

An der Riva von Split die Restaurantpromenade im ewigen Gestank der Kanalizacija, der Kloake Diokletians. (Split, 22.9.)

L’Europe

Nul homme n’est une île, un tout en soi; chaque homme est partie du continent, partie du large; si une parcelle de terre est emportée par les flots, pour l’Europe c’est une perte égale à celle d’un promontoire, autant qu’à celle d’un manoir de tes amis ou du tien. La mort de tout homme me diminue parce que je suis membre du genre humain. Aussi n’envoie jamais demander pour qui sonne le glas : il sonne pour toi. (John Donne)

Meine Sonnenlichtgeschichte

Im Bambuswäldchen das Rascheln und Klacken der hellgrünen Blätter und dunkelgrünen Stämme, wenn der Wind das ganze Gebilde bewegt. (Arboretum Ellerhoop, 5.9.)

Ich habe drei Bücher mit ihm geschrieben und vier übersetzt: Mein Laptop ist gestorben.

Es riefen auch mal Krähen an. „Bist du“, fragten sie, „der Entkryptisierer?“

Der Gesang der Gelbbauchunke.

Liebeserklärung zu Zeiten Corneilles: „Im Übrigen hasse ich euch nicht.“

Aus der Ferne lese ich die Schlagzeile DER ROBOTER ALS OVID, doch da steht bloß … ALS CHEF. (Berlin, 13.9.)

Die Einwohner der südlich von Myanmar gelegenen Andamanen-Insel North Sentinel, vor über 5000 Jahren wahrscheinlich aus Afrika gekommen, verwahren sich seit Menschengedenken gegen jedweden Übergriff durch Fremde, gleichgültig, ob Angreifer, Zufallsgäste, auf das Eiland Versprengte oder Besucher. Neugier scheinen sie nie gekannt zu haben, Toleranz – ein Fremdwort. Oder? Niemand weiß es – weil es niemanden etwas angeht. 1981 strandete der Frachter „Primrose“ mit 33 Mann Besatzung auf einem North Sentinel vorgelagerten Riff und musste evakuiert werden. North Sentinel Island Die mit Pfeil und Bogen bewaffneten Insulaner verweigerten jeden Zugang zum Strand und beschossen noch den Helikopter, der die Männer nach elf Tagen schließlich von Bord des Schiffes, das aufgegeben werden musste, rettete. Zuletzt wurden lebende Sentinelesen vor neun Jahren gesichtet, aus der Luft. Aber auch nach dem verheerenden Tsunami von Weihnachten 2004 verweigerten sie den Kontakt mit der Außenwelt und blieben – Innenwelt. Ja, haben sie denn etwa kein Recht auf das Eigene? Ihnen vermutlich egal. Ich vermute, da prallen wir und ebenso sie zurück vor dem bewaffnet jeweils Anderen. Na und? Bewehrtes Hau-ab.

„Chronischer Lichtschaden“, sagt die Hautärztin und betrachtet sehr ernst durch ihre riesige Lichtlupe deine Haut. „Ihre Sonnenlichtgeschichte bereitet mir Sorgen.“

„Einbaumstraße“, sagt das Kind.

Der milde Herbstwind, wie er in die noch vollen Wipfel fährt – mich macht das Wogen der schon nicht mehr sommerlichen Äste sprachlos. Vielleicht weil es selbst so schöne Sprachlosigkeit ist. (Klein Borstel, 17.9.)

Bevor wir vergessen zu träumen – was dann?

Atlantic City

Seine Bedeutung lässt sich ermessen an vier Zeilen: „Everything dies, baby, that’s a fact, / but maybe everything that dies someday comes back, / put your make-up on, fix your hair real pretty / and meet me tonight in Atlantic City.“ Bruce Springsteen

Gespräch im Zug: „Nur noch 37% Akku.“ – „Ich 41.“ – „Und, gestern, die Family-Guy-Folge?“ – „Gut. Zu lang.“ – „Wie Dragonball wieder, so übertrieben?“ – „Fast. 36.“ – „Ich 41.“

Dem meisterhaften Rezitator zittert während des Vorlesens beständig die rechte Hand. Seine Gelassenheit kehrt zurück im Lokal nach einem Bier und zwei Glas Wein. Jedoch: Ist es nicht die Intensität des Vorgelesenen, was ihn derart erschütterte?“ (Bad Oeynhausen, 28.8.)

Morgens, die wilden Augen, die durcheinandergeratenen Brauen, als wärst du in der Nacht durch eine Bucht geschwommen.

„Durst ist schlimmer als Heimweh“, sagte zu mir gestern der Wirt und wirkte traurig.

In der Luft über dem Waldrand, der das Amphitheater säumt – früher ein Baggersee –, taucht ein Fischreiher auf – und dreht ab, als er die Menschenmenge in dem Rund gewahrt, um sie in weitem Bogen zu umfliegen.

„Hilfe!“, ruft das Kind. „In meiner Klasse sehen alle gleich aus.“

Im Treppenhaus an den Wänden entdeckt, im Gegenlicht: übertünchte alte Wandsprüche, Liebesbekenntnisse, Flüche und Segen, Dinge, die nur die Wände verstehen: „A + B, 10.3.55“

Wer oder was ist es, der oder das da ruft im Hintergrund von Springsteens „Atlantic City“? Eine bestimmte Stimme? Stimme des Lebens? Der Erinnerung? Die Stimme dessen, was immer da ist?

Sehnsucht nach einer Senfsemmel

„You can’t stop growing old.“ Placebo

Die Leere, wenn die Kinder wieder weg sind, ist nie nur die nach dem mit Trubel und Leben erfüllten Wochenendtagen. Es ist immer auch die Leere von vor zehn, elf Jahren, immer auch die des Trauerschmerzes seither.

Ist es nicht auch schön, dass dir deine Augen immer schlechter werden?

Ah, bese(e)ligende Wehmut – Mut zur Traurigkeit –, spätabends durch die Innenstadt des Kindheitsvororts zu fahren. Musik läuft, die ist erst halb so alt: Without you I’m nothing. Und vorbeifliegen Orte, die es nicht mehr gibt, nur noch in mir (aber wer will das sagen), Einkaufszentrum, Busbahnhof – alles sah ganz anders aus, viel kleiner, viel schmächtiger, viel einfacher, so wie du selbst. Wo jetzt eine Glaswand ist, stand ich als Junge, mampfte die ritualisierte Senfsemmel und staunte wütend in die Welt. Und keinen hat es gekümmert. Wenigstens das ist unverändert geblieben.

Das Kind fährt nicht mehr Fahrrad – wegen des Helms, wegen der Helmfrisur.

Da ich nicht weiß, wie ich mit der Smartphone-Tastatur den Akzent auf meinen Nachnamen bekomme, tippe ich seit Monaten „José“ ein, weil das Programm den Namen vorgibt, und ändere dann das „Jos“ in „Bonn“. Langsam, merke ich, werde ich ein anderer. Wer bist du, Mirko José?

Hier ist kein Fenster zu irgendeiner Seele. Die Fenster zur Seele, wenn die Seele denn Fenster hat, sind mit Matratzen verbarrikadiert und dunkel hinter zugezogenen Vorhängen.

Das Gras ist ein rätselhafter Lichtspalt.