Geheimkonferenz der Hässlichkeit

Das Akronym AfD habe ich vor etwa zweieinhalb Jahren, als ich meinen Roman „Alle ungezählten Sterne“ schrieb, mit „Angst für Dumme“ übersetzt, ein Euphemismus, den ich heute, in diesem bitterkalten Januar 2024, vermiede und für den ich mich schäme. Mein Romantitel stellt seinerseits, neben seiner in der Handlung und im Denken und Fühlen meiner Figuren verankerten Metaphorik, ein Akronym dar: „Alle ungezählten Sterne“ steht, da es um die Lebensbilanz meines Erzählers geht, auch für dessen Aus.
Die Hetze der selbsternannten „Alternative für Deutschland“ hat in der aufgedeckten Potsdamer Geheimkonferenz die Hässlichkeit ihrer Fratze in aller Deutlichkeit gezeigt. Diese Alternative, das sollte nun jedem Menschen klar sein, der sehen kann, ist keine verkappt, sondern eine offen neofaschistische. Das Ansinnen dieser Leute, die keine Menschen sind, da sie nichts Menschliches an sich haben, gründet auf Herabwürdigung und Verächtlichkeit. Erbarmungslos hat sie Ausgrenzung und Abschiebung, Spaltung und Säuberung zum Ziel.
Niemand, der morgen nicht in einer Diktatur aufwachen will, sollte sich mit Beginn dieses bitterkalten Jahres schlafen legen, um schweigen zu können. Zum ersten Mal, seit ich denken kann, hat der nie vergangene, der stets latente deutsche Fremdenhass Einzug gehalten in bis heute für integer gehaltene Kreise von Kultur, Kunst, Literatur, Musik und deren Betriebe und Verwaltungen. Das braune Netzwerk breitet sich darin mühelos aus, da es überall Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen findet. Der endlich erwachte Widerstand durch große, wenngleich noch viel zu geringe Teile der Bevölkerung macht mir Mut und gibt mir Zuversicht. Ich hoffe, auch die Künste wachen jetzt auf aus ihrem Corona-Dämmer und Profitschlummer und stellen, ohne sich zu verleugnen und ohne sich zu instrumentalisieren, eine unmissverständlich menschliche Barrikade auf.
Erinnert sei an Klaus Mann, der vor genau 90 Jahren seinen ersten Exilroman veröffentlichte, „Flucht in den Norden“, in dem es gegen Ende hin über unser Land heißt: „Es ist so lächerlich unbegabt für das Leben, dieses Volk mit seiner dünkelhaften Extraproblematik, daß es niemals, niemals eingetreten ist in den Kreis der Zivilisation. Das ist der Grund, das ist der einzige Grund, warum es unsere Zivilisation bedroht, zu der es den Zutritt nicht hat. Und nun ist es wieder einmal aufgestanden und will alles kaputtschlagen, und alle Welt muß zittern und sich Sorgen machen und höflich sein mit diesen bösen Narren. Was für ein Volk! Pfui, es macht ja eine große Übelkeit, sich’s vorzustellen – ekelhafd ist es, an ihre Tüchtigkeit zu denken, die sich immer in den Dienst der Gemeinheit begeben hat, an all ihr Talent, das kein moralisches Rückgrat besitzt. Wenn mir ihre Professoren und Zeitungsleute einfallen, wird mir womöglich noch übler, als wenn ich mir ihre Generale und Henker ausmale, denen die Professoren eine ,Weltanschauung‘ liefern, gebrauchsfertig, in tadelloser Verpackung. Und nun, da dieses Volk endlich das dünne Mäntelchen abwirft, das es bis jetzt noch pro forma vor seine kolossalische Mißratenheit halten mochte, und da es nun hervorspringt in seiner ganzen unseligen Frechheit – warum sollte man denn da so sehr den Überraschten spielen?! Das ist keine Überraschung für einen, der zu sehen verstand.“

The boy who ran down to the docks

„Roger Shattuck entwickelte im Gespräch mit John Cage die Theorie, dass der Ursprung für Saties Sinn für musikalische Rhythmen und die Möglichkeiten von Variationen innerhalb der Wiederholung, für den Effekt von Langeweile im Organismus in seinen endlosen Fußmärschen in der immergleichen Landschaft, tagein, tagaus, hin und her, zu suchen sei. Ich wollte genau die Strecke gehen, und das nur, um mir Notizen zu machen: Ich wollte ein Buch über das Gehen schreiben, das war eine gute Idee, die Wahrheit lautete, sie interessierte mich nicht mehr. Ich nahm den Zug aus der Stadt. (…) Ich vergaß Erik Satie, das Paris, durch das er gegangen und in dem er zu Hause gewesen war, gab es nicht mehr. (…) Was hatte ich erwartet? Wiesen und Gras? Pferde und Felder, Stille und Idylle? Die Musik der Gegenwart hatte längst Schnelligkeit und Lärm, Großstadt und Verkehr in sich aufgesogen, ich bewegte mich in einer imaginierten Vergangenheit, in einer Stadt, die es nicht mehr gab, ich folgte einem gewissen Monsieur Satie, einem Gespenst im braunen Samtanzug, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf. Ich war eine lächerliche Gestalt.“ Tomas Espedal, aus „Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“, Matthes & Seitz, Berlin 2011.

Vage Erinnerungen – Tautologie. Viel, woran du noch denkst und was du vergeblich wiederzufinden versuchst, ist unerinnerbar, ist Unerinnerung. (Bury St. Edmonds, 15.7.)

Noch einmal in Greenstead Green.

38 Jahre später besitzt das Gainsborough House in Sudbury einen technifizierten dreistöckigen Anbau, von dessen Dachgeschoss aus du über das ganze Städtchen blickst – und in dem, anders als in Benns Elternhaus, Gainsboroughs hängen, wenn auch sehr wenige und unbedeutende echte. Da ist mit einem Mal ein Café mit veganem Raspberry Cake in dem Garten, der in meiner Erinnerung ein alter Innenhof, ein alter Erinnerungshof war. Im ersten Stock ein Spinettlautsprecher. Als Junge hat mich hier die verfallene Wucht der Bilder in eine vergangene Zeit gehoben, und nirgends finde ich sie wieder als in den Fetzen, die von der Plakatsäule meines Gedächtnisses hängen und die schon Thomas Gainsborough gemalt hat.

„When they blitzed London I was a boy and ran down to the docks“, sagt der Alte neben mir in Westminster Abbey zu seinem Sohn aus Tennessee.

Bishop Stephen Conway verlässt die Kathedrale von Ely – sie ist 1300 Jahre alt – und übergibt Stab und Tiara seinem Nachfolger. Am Ende seiner letzten Predigt – ich sitze zufällig unter den Zuhörern und harre anderthalb Stunden lang aus, ehe wir flüchten – weint der beleibte Bischof mit dem freundlichen, teigigen Gesicht, entschuldigt sich und weint weiter. Er habe, heißt es in den endlosen Dankreden und Fürbitten, die sich anschließen, die Temperatur in ganz Suffolk gesteigert, sodass im Winter sogar das Wasser aus den Hähnen wärmer gewesen sei. (Cambridge, 17.7.)

Hyperoptic2011

„Merkst du, dein Pferd ist tot, steig ab.“ Weisheit der Sioux

Weil er nicht imstande war, sich in diesem Leben zu entfalten, darin behindert vor allem von jenen, an denen er zu lange festhielt, in deren Schatten er zugleich verkümmerte und doch im Innern seinen Groll auswuchs – … weil er nicht fähig war, einen glücklichen Menschen aus sich zu machen, ohne dass andere ihm dazu die Absolution gaben, ließ er die ihm entgegengebrachte Zuneigung an sich abprallen, verhärmte sich, verbarrikadierte sein Herz, bekam kleine, enge, rote Augen, böse kummerpralle Äuglein, und ein aufgedunsenes Mondgesicht auch von den Pillen, die er ablehnte, aber eine Zeitlang schluckte, während er die heimtückische Ironie der Frau, die er liebte oder zu lieben glaubte, stimmlich aufs Vollkommenste nachahmte, und planvoll alles daransetzte, sich bei denen, die ihn vermissten und die er vor den Kopf stieß ein Mal, sieben Mal, immer wieder, unvergesslich zu machen durch die Leerstelle, die in diesem vertanen Leben sein Platz zu sein schien.

Vergangenheit und Zugluft.

Die Londoner W-LAN-Adresse: HYPEROPTIC2011

Ein Mikrowellengerät von Russell Hobbs. (London, 10.7.)

Auch das Keats House in Hampstead ist inzwischen mit Videokameras ausgerüstet. In Keats’ Parlor, seinem Arbeits- und Wohnzimmer, gibt es zudem eine Klanginstallation: Jemand (nicht John Keats) schenkt sich Tee ein, trinkt aus der Tasse, stellt sie ab, tunkt seine Feder ins Tintenfass, schreibt einen Vers der „Ode on Melancholy“. Da wir die Tiefe nicht mehr verstehen und sie deshalb fürchten, klammern wir uns an die Oberfläche, um eine Ahnung davon zu bewahren, was uns verlorenging.

Die Grashügel von Hampstead Heath im Sommerwind sind noch dieselben. (Ja, das Gras ist nicht das gleiche, sondern dasselbe.)

Das alte Zuchthaus von Reading hinter seiner Backsteinmauer wie vor 130 Jahren – am Innenstadtrand, hinter Park und Abtei, nur dass es seit neun Jahren geschlossen ist. Keine Eingeschlossenen mehr hinter der „Rieselwand“, nur noch Ausgeschlossene wie ich. Banksy hat zum Andenken an Oscar Wilde eine Zeichnung an der elenden Wand hinterlassen, ein über die Mauer geworfenes Leintuch, das sich aus einem Schreibmaschinenblatt entwickelt, an dem sich ein Gefangener hinablässt in … die Freiheit? Die Kunst? Das Schrankenlose jedenfalls. Ich kann um Reading Goal herumlaufen – es gibt nur einen einzigen Ein- und Ausgang: das Gefängnistor, dahinter, durch ein Wärter*innen*fenster zu sehen, die Durchfahrt in den Innenhof, auf dem Wilde zwei Jahre lang im Kreis zu trotten hatte. – Der Ort wirkt magnetisch. Er ist ein Kraftfeld, doch wohl nur, sobald man weiß, dass hinter dieser Mauer „De Profundis“ entstanden ist und ein Ausgestoßener, einer der erstaunlichsten Dichter aller Zeiten, allein kraft seines Schreibens überlebte und sich wandelte zu dem, was Wilde „nicht einen besseren, sondern einen tieferen Menschen“ nennt. (Reading, 11. Juli 23)