47 Winter

Gesetzt den Fall … Quatsch. Stell dir vor, an alle Wintertage wie diesen könntest du dich erinnern: an einen milchigen Himmel 1967 – den Schneematsch an einem Dezembertag 1973 – Wildgansschwirren eines kalten Abends 1986 – das erste plötzliche Graupeln 1995 – die schmale Sonne Ende November 2002 – – was würde es ändern? Nichts als siebenundvierzig durchlebte und nur mehr virtuelle Winter hättest du vor Augen. Erleben ist anderswo: hier. Erinnerung ist leblos (9.12.)

Eindrücke

Äußeres Ansehen – inneres Erleben: Angst um Geltung – drängendes Sichäußern: Der Stau an dieser Membran sorgt immer wieder (seit Jahrzehnten unaufhebbar) für Eindrücke von Unwirklichkeit.

Weitwach

Schlafen – im Zug, der durch verschneite Landschaft fährt, so lange, bis du aufwachst, hellwach (weitwach: wide awake) neu beginnen willst und aussteigst, ohne zu wissen, wo (Berlin – Hamburg, 7.12.).

Schnee

Die Tage lärmen grau, die Abende sind schwarz, die Nächte, wenn die Kälte kommt, weiß vom lautlosen Schnee.

Schnee – die Besinnung. Schnee – das Feierliche. Schnee – die Ruhe. Schnee – die Pause. Es – was? – schneit. Es hat aufgehört zu schneien – was hat aufgehört?

Überall tropft der tauende Schnee, das schmelzende Eis mit leisem, plinkendem Aufprallen, Aufklopfen, sodass es exakt wie das Knispeln der Meisen an Körnern, ihr Aufknacken klingt (6.12.).

Landkarte ohne Meer

James Blakes berückender Dubstep von „The Wilhelm Scream“: Das Elektronische setzt neu an zu empfinden und will erzählen, nicht immer nur tanzen. Es ist die hörbare Ablösung, die Bilder der Lyrics noch ganz medial: „like a waterfall in slow motion, like a map without an ocean“ (4.12.).

James Blake, „Klavierwerke“ (0:00) und „The Wilhelm Scream“ (6:28), Haldern Pop Festival 2011

Drei Stimmen

„Ich hatte Freundinnen, und meine Freundinnen hatten Geschwister. Meine Geschwister waren Tiere.“

„Angehörige von bereits Verstorbenen“, sagt die Stimme im Radio und gehört offenbar zu Einem, der sich für einen Untoten hält – so wie uns alle.

Lebendigkeitsgeräusch, Klang: das Tropfen von tauendem Schnee in der unerwartet warmen Dunkelheit der Nacht (3.12.)

Eine Vielzahl von Ursachen

„Ein Vielzahl von Ursachen, die früheren Zeiten unbekannt waren, wirken jetzt mit vereinter Gewalt, um die Unterscheidungskräfte des Geistes abzustumpfen und ihn, indem sie ihn zu jeder spontanen Anstrengung unfähig machen, zu einem Zustand von beinah roher Stumpfheit degradieren. Die am stärksten wirksamen dieser Ursachen sind die großen nationalen Ereignisse, die sich täglich abspielen, und die zunehmende Ansammlung der Menschen in den Städten, wo die Gleichförmigkeit ihrer Beschäftigungen ein Verlangen nach außerordentlichen Vorfällen hervorruft, welches die schnelle Mitteilung von Nachrichten stündlich befriedigt.“ (William Wordsworth, Vorwort zu den „Lyrical Ballads“, 2. Ausgabe, herausgegeben mit Samuel Taylor Coleridge, Bristol 1800).

Gitter und Rückwand

Nichts verwandelt den Garten im Lauf des Jahres außer der Garten selbst – bis der erste Schnee fällt (1.12.).

Schwarze Vögel, weiße Vögel – im kahlen Geäst die hängengebliebenen Äpfel, eine Handvoll Meisen. In der dunklen Voliere wehen mit jedem Windzug Tauben hin und her zwischen Gitter und Rückwand (2.12.).

Überallhin

Kurz vor Abschluss eines Romans und Figuren- und Empfindungsgewebes wie nun nach zweieinhalb Jahren von „Nie mehr Nacht“ tauche ich aus einem Tunnel auf und stehe zurückgekehrt zur Lichtwelt an einer hellen Kreuzung, von der hunderte Straßen und Wege abzweigen. Überall Häuser, mit überall offenstehenden Türen, Fenstern, Einfahrten, Durchgängen und Eingängen. Überallhin kann ich gehen – darf nur nicht vergessen, dass ich nicht allein, sondern dutzende bin (30.11.).

Recoleta

Fünf Jahre her, da liefst du am dem Namen nach dunkelsten Tag des Jahres, am 29. November, durch Buenos Aires, und es war heiß, hell, Hochsommer am Rio de la Plata. Du warst ein Verlorener und bist es heute nicht mehr, so grau und dunstverhangen der Tag in Hamburg („Amburgo! Amburgo!“) auch ist. „Zurückgekehrt zur lichten Welt“ bist du, und den Ausweg aus dem Inferno, den Noteingang, fandst du heute vor fünf Jahren unter den großen alten Bäumen auf einem anfangs gehetzten, dann immer langsameren und schließlich endlosen, bis heute andauernden Spaziergang durch die fremde Stadt hinauf nach Recoleta (29. November, 2007 / 2012).

Kalenderblätter

Gut, es zu sehen: Dein Arzt altert im selben Tempo wie du – und wie deine Kinder älter werden, so auf den monatlich wechselnden Kalenderblättern auch seine.

„Wenn du fürwahr dein Licht vom Himmel hast, / Dann, Dichter, leuchte mit dem Himmelslicht“ – (William Wordsworth – heute beginnst du deine Exkursion zu ihm und mit ihm)

Die Nachbarn motten ihre Sommerwohnmobile ein – oder verproviantieren sie, um noch diese Nacht auf und davon zu fahren.

Einbildung

„Ab heute darf geschmückt werden“ – was ist damit gemeint? Etwa alles? Und wie lang darf geschmückt werden? Von wem? Von allen? Für immer?

Einbildung – dass diese Stille im Krankenhauspark eine abwartende ist? Worauf würde sie warten? Oder ist es umgekehrt: Wartest du auf die Stille im Krankenhauspark? (Bergedorf, 27.11.)

Unter Verlorenen

Der Perlentaucher ist ein Wracktaucher.

Eine Dreiviertelstunde im Nieselregen über dem Vorstadtbusbahnhof. Alte, Kinder, Mädchen, Halbstarke, umherirrende Leute, unter zwei Dutzend Verlorenen du. Lass dir nichts weismachen (von niemandem und nichts, auch nicht deiner Angst): Sie leben, suchen Wärme, sind neugierig-freundlich, sehen das Glück und beglückwünschen (Niendorf, 25.11.).

Bestattungen

Da stand sie wieder, die grüne Lok mit dem Kranwaggon für die durch die Wipfel fahrenden Motorsägen. Am späten Abend war die ganze Bahndammbaumreihe gefällt. Im Flutlicht, im Novemberdunst verbissene Zerstörungswut (24.11.).

„Ich bin ein Eventmanager des Todes“, sagt der Beerdigungsunternehmer.

Unter den Fingernägeln die Geschichte

Die Frau von der Katzen-Nothilfestation: Vierzig Tiere leben bei ihr und ihren zwei Kindern in der Dreizimmerwohnung. Von jeder Katze kennt sie die Geschichte.

An der Supermarktkasse steht ein junger Mann und legt jedes Lebensmittel fünfzigmal aufs Band: 50 Bananen, 50 Packungen Margarine, Brot … Die Kassiererin lächelt, scannt alles ein Mal ein und drückt die 50, während der Käufer das Geld abzählt mit zehn blau unterlaufenen Fingernägeln (Alsterdorf, 22.11.).

Dein Lebensweg als aufgegebene Bahnstrecke: Du besuchst verlassene Stationen, Bahnhofsgebäude, Übergänge, Signale und Weichen. Was war dort? Wie lang ist das her? Warum nicht mehr? Was suchst du noch hier?

Das Gegenteil von Schnee

In der Kälte am Millerntor sitzt in eine weiße Daunendecke gehüllt im Hochparterre am offenen dunklen Fenster eine junge Frau und raucht zur Straße hinaus. Sie wirkt eingeschneit, als hätte es stundenlang nur in ihr Fenster geschneit, doch ist genau das Gegenteil der Fall (St. Pauli, 21.11.).

Das fremde Gesicht

Ein Blick durchs Türglas in das fremde Gesicht: Einer kommt, und einer geht. Die Sekunde, da die Blicke sich begegnen, verbindet – für alle Zeit, die das Gedächtnis euch lässt.

Ein Zuwendungsförderungssystem!

„Woher nehmen Sie diese allumfassende Resignation?“, fragt nach der Lesung ein junger Mann im Publikum. Antwort: Ich nehme sie nicht, sondern nehme sie wahr und weise sie zurück – schon indem ich dennoch weiterschreibe. (Auch hierzu Handke: „Wer sagt, daß das Scheitern notwendig ist?“) (Kiel, 20.11)

Weiter

Sei immer wieder auch gewiss: Der Fluchtweg, den du fandst, war der einzig mögliche (für dich) und damit der richtige. Weil, so simpel sich das sagt und so schwierig es anzuerkennen: Da ist kein Weg zurück. Weiter und weiter, und dann weiter, und weiter. Und geht es nicht weiter, geh weiter. Krabble, krieche. Und liegst du, zucke. Wie der Hund zuckt im Schlaf, wenn er träumt, er läuft (19.11.)

John Dowland leaning forward

„Das Gewicht der Welt“ (Handke): nicht, der Welt das Gewicht nehmen, der Welt ihr Gewicht lassen!

Wirbel

Oben am Bahndamm hängen wie große seltsam unnütze Lampions Arbeiter in orangegelben Warnanzügen in den Bäumen. Eine kleine grüne Lok bewegt das Gerüst, das sie von Astwerk zu Astwerk fährt, und noch tief in der Nacht leuchten ihren Sägen die Scheinwerfer und schälen die Gärten, Hecken und Bäume lebendig aus der Dunkelheit: Knacken von Ästen, heller Sturz auf Metall, und das Lachen der Männer in der Schwärze (17.11.).

Laubbläserquintett

„… dann gingen sie in den Vergangenheitswirbel hinein.“ – „Und wie sah der aus?“ – „Er war blau.“

Selbst für kurze Zeit

Dieser Tag, ein diesiger 16. November, war vor 37 Jahren mein erster nach dem Umzug vom Tegernsee an die Elbe, in die neue Welt – und noch immer dauert er an. Erst gestern Nacht sah ich zum ersten Mal das dunkle Haus, die leeren Zimmer, den grauen Garten, die fremde Straße, die schnurgerade ins Marschland hinauslief und sich dort zwischen lauter Treibhäusern verlor (Curslack, 16.11.).

„Man darf sich nicht vor der Zeit ängstigen, sich nicht quälen lassen von dem, was noch nicht ist, so bedrohlich, so nahe es auch sein mag.
Einfach nur schreiben, damit es vor sich hinsummt. Stärkende Worte; nicht um zu beeindrucken, sondern um zu schützen, zu wärmen, zu erfreuen, selbst für kurze Zeit.
Worte, um den Rücken wieder aufzurichten; wenn man schon nicht in den Himmel entrückt wird wie die Gerechten.
Bis ans Ende, entknoten, selbst mit gichtknotigen Händen.“
(Philippe Jaccottet, aus: „Notizen aus der Tiefe“, übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz)

Automático

„Eine kluge Frau, im Körper eines Mädchens.“

„Automático“ steht, hellblau, handgeschrieben, auf jedem elektrischen Händetrockner in den Toilettenräumen des portugiesischen Lokals, so als wollte einer daran erinnern, dass dort aus der Wand nicht etwa der warme Wind, der Mistral kommt (Hamburg-Neustadt, 15.11.).

Ein junger Mann mit einem hoch erhobenen Bogen Papier in der Hand übt allein mit seinem Spiegelbild in den Waggonfenstern Walzerschritte auf dem leeren Bahnsteig. Als er abgefahren ist, tänzelt in der Kälte eine Schaffnerin von einem Bein aufs andere.

Ein Tag

Am Morgen, im schönen Licht und draußen bei klarer Luft (o herrlicher November!), da wirbeln dir mit einem Mal die Verse nur so durchs Gedankengeäst. Rote Baumkronen, gelbe, blauer Spätherbsthimmel – ein Tag zum Gedichteschreiben, an dem du aber keins schreibst: ein Tag, nur ein prächtiger Tag (13.11.).

Das helle Treppenhaus wartet, bis du kommst, die Tür öffnest und auf den Stufen bist. Dann wird es dunkel –.

In dieser Kälte

Mitte achtzig ist der Vermieter, der in der Schreibmansarde – Dienstmädchenzimmer, als er ein Junge war –, die Heizung repariert: „In dieser Kälte können Sie nicht arbeiten“ (12.11.).

Im Garten der Erdreichgeruch unterm Ahornlaub. Die Meisen. Und ihre Vorfreude.

„Da kommt der Kellner“, sagt laut die Mutter über ihren Sohn, den Dichter, der in weißem Hemd und schwarzer Hose aufs Podium klettert.

In der Dunkelheit, es klingt wie auf dem nächtlichen Friedhof, läutet ein Schulgong. Da – ein Fahrrad mit dem Sirren einer Wildgans.

Unter Saturn

„Auf der Balustrade, unter der großen Saturn-Leuchtreklame warte ich auf dich“, sage ich ins Telefon zu N. H., als ich ihn am Hauptbahnhof abhole. „Bis gleich, unter Saturn.“ Vor sieben Jahren übersetzten wir gemeinsam Yeats, auch sein Gedicht „Under Saturn“. Mir fiel der Zufall, das laut gewordene Unbewusste gar nicht auf, N. augenblicklich – Sprache der Welt! (Hamburg, 11.11.)

Zu Ende gehen fünfzig Jahre in der Geschichte der Innviertler Bauernfamilie Goldberger mit der Beschreibung eines (weiteren) Sonnenaufgangs über dem alten Land, vermeintlich menschenleer (bis ich dachte: Einer muss das Licht wahrnehmen. Wer? Du!): Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman „Roter Flieder“.

Die Augen deiner Augen

„Wusstest du, dass wir Geschmacksnerven nicht nur auf der Zunge haben, sondern fast überall am Gaumen und im Rachen?“ – „Nein, wusste ich nicht. Aber ich schmecke es.“ – „Ja, ich auch!“ – „Aber weißt du, dass wenn du die Augen schließt, nach innen die Augen deiner Augen aufgehen?“ – „Hab davon gehört.“ – „Und ich stand am Rand des nächtlichen Brunnens in mir und sah hinunter bis auf den Grund innen auf meinen Fußsohlen.“ (10.11.)

Draußen

Draußen harken die Nachbarn ihr Laub zusammen. Ich harke hier drinnen mein Laub zusammen. Draußen beschneiden sie Bäume. Drinnen lasse ich sie blühen, pfropfe und kappe. Es ist Herbst, Sommer, Winter und Frühling zugleich. Draußen mäht einer noch ein letztes Mal den Rasen. Mein Gras hier drinnen hält keiner auf.

Je älter wir werden, umso langsamer gehen wir nach Haus.

Illusion: Gemeinsamkeit. Illusion: Gemeinsamkeit.

Asyl

„Die Bibel ist ein Märchenbuch“ – seit Jahren ein Wandspruch auf den Plakatwänden der Stadt, immer in derselben Handschrift. Ein Ein-Satz-Evangelium.

Optivit fortissimum!

In Wolgast demonstrieren Rechtsradikale. Was? Ihren Stumpfsinn. In Wolgast wurde Runge geboren, dort lebte und malte er. Raus mit Runge? Asyl den Verlorenen. Asyl uns allen. (9. November 2012)

November

An der Rückwand des Küchenpavillons lehnte Kent Nagano und tastete mit Blicken fragend mein Gesicht ab, ob ich ihn erkenne. (Ich ließ mir nichts anmerken, ging vorüber und hörte stumm Brahms‘ Dritte.)

Ein ganzes Feld voller Kraniche, grau, in Wellen sich über das graue Gras bewegend wie der Novembertag (Bei Fehrbellin, 9.11.).

Bild: Kent Nagano © Merkur

Instandhaltung

Verwirf (endlich!) die Vorstellung von der Möglichkeit zur Wiederholung. Weder ist etwas zu wiederholen noch wiederzuholen. Rekonstruktion, Instandsetzung, kommt nicht in Betracht (kannst du vergessen). Erinnerungen: Instandhaltungswerk. Und nicht du hältst schreibend Erinnerungen instand, sondern sie dich – eine, deine Vorstellung von dir, deiner Geschichte, deinem Geschichtetsein (8.11.).