Lübeck

Immer wieder, nach langer Pause, gut – von großer Güte: Härtling zu lesen. So schreibt er in seiner Zeichnernovelle über den Nazarener Carl Philipp Fohr, bisher sei es Fohr noch nicht gelungen, in ein Bild hineinzugehen. „Das Fräulein suchte eine Zeit lang seine Nähe. Und er übte sich in Unsichtbarkeit.“ Das Süße. Das Zaudern. Die Saumseligkeit und das Zaghafte. Bei Peter Härtling kann man davon noch lesen. Wie gut. Von Güte.

An einem Mittwochmorgen tritt aus deinem Dorothea-Schlözer-Zimmer im Altstadthotel auf eine der Gassen, die hinunterführen zur Trave. Stumm und verlangsamt queren vereinzelte Leute auf dem Weg zur Arbeit die Straße. Kopfsteinpflaster. In Lübeck ist man pünktlich. Der frühe Januar wie ein März. Das Herz eine Handelskammer. Warum gibt es keine Pferdefuhrwerke mehr. Kein Mann ist hiergeblieben. Der Himmel mit niedriger Decke. Die backsteinerne Luft. (Lübeck, 7.1.)

Bremen

„Grün wie die Kirschen“, sagt die Taxifahrerin, als sie bei Rot über die Ampel fährt, um mich hinunter zum Osterdeich zu bringen. Im Dunkel der Nacht scheint das Weserstadion in der Flussmitte zu schwimmen. Etwas weiter nördlich Lichter am anderen Ufer, das Café Sand. Vor zehn Jahren setzte ich dort mit den Kindern über den Strom. Wieder so ein heller Sommertag, 25 Jahre nach den Nachmittagen an der Oldenburger Hunte. Die Kinder spielten unter den Obstbäumen. Und werden für mich immer dort spielen. (Bremen, 6.1.)

„Wer sich allerdings näher mit Hyde befasst, wird feststellen, dass entsetzt und dennoch beherrschend ein Rest Jekyll über ihm schwebt, eine Art Rauchring oder Glorienschein, als wäre dieses schwarze konzentrierte Böse aus dem übrigen Ring des Guten herausgefallen, wobei dieser Ring des Guten jedoch bestehen blieb: Hyde möchte wieder Jekyll werden. Das ist der springende Punkt.“ Vladimir Nabokov über Robert Louis Stevensons Novelle

Oldenburg

In Oldenburg in Oldenburg, wo ich heute las, und zwar aus einem Roman, in dem meinem im Juni 1944 mit 19 Jahren getöteten Großonkel, dem Lieblingsbruder meiner Großmutter, eine wichtige Rolle zukommt, in Oldenburg in Oldenburg, das stand mir heute seit langer Zeit wieder deutlich vor Augen, war ich Ende der Siebzigerjahre einige Male mit meiner Großmutter bei ihrem ältesten Bruder zu Gast. Schon damals sehr alt, bewohnte er ein Haus mit großem Garten, der sich bis hinunter zum Ufer der Hunte erstreckte. Sommererinnerungen. Das goldene Flimmern auf dem Gras, das hellbraune Wasser des durch die Wiesen schießenden Flusses. Ein Ruderboot an einem zum Grundstück gehörenden Steg. Und mein Bruder und ich, dreizehn, vierzehn Jahre alte Hemden, wie wir in die Hunte sprangen, ganz und gar furchtlos vermeintlich, gemeinsam mit anderen Kindern, Jungs und Mädchen, aus Oldenburg in Oldenburg, von denen mir nichts in Erinnerung blieb als ihre Gegenwart und ihr Jubeln. Schwimmen in der Hunte, sagte man heute zu mir, das müsse sehr, sehr lang her sein – verloren wie alle Tage und doch absolut wahr, besinnungslos machend und Furcht einflößend war die Kraft des Flusses, der mich davonzog, sodass ich minutenlang durch die Wiesen schoss und wie im Rausch der Angst standzuhalten versuchte. (Oldenburg, 5.1.2014)

Die Geschichte des lebendigen Menschen

Warum du deinem Gedicht nun kaum noch traust, beschreibt Lars Gustafsson schon Anfang der Siebziger Jahre in seinem Essayroman „Herr Gustafsson persönlich“, aus dem Schwedischen übersetzt von Verena Reichel: „… als könnte die Lyrik nicht mehr selbstverständlich einen Platz in der Welt beanspruchen“, nennt Gustafsson einen Zustand, in dem er sich mit fast physischem Schmerz an alles erinnert, was ihn die eigene Lyrik einmal gekostet hatte, „wie ich langsam, langsam versucht hatte, sie das Sprechen zu lehren, wie ich sie zu lehren versucht hatte, einen Zustand festzuhalten, eine Unruhe, ein Glück, eine Trauer, weil diese festgehaltenen Zustände auf eine erschreckende Weise das letzte waren, was mich mit mir selbst und mich selbst mit der Geschichte verband, mit der Geschichte des lebendigen Menschen, des kommenden Menschen. – Und wie zuletzt, als sie sprechen konnte, niemand zugehört hatte. Und hatte ich ihr etwa selbst zugehört?“

Ein schwarzer Zug donnert vorbei. Spürst du das Feuer?

Wo wir es finden.

Heute ist Helga M. Novak gestorben. (24.12.2013)

„Looking out a window that isn’t there
Looking at the carpet and the chairs“
Bill Callahan

„Ich sehe was, das du nicht siehst, und das sehe ich eigentlich genauso wenig.“

Auf Madeira (5)

Das afrikanische Licht, das jede Nacht über die See bis nach Madeira leuchtet: Durchs Fernglas betrachtet ist es ein achtzig Seemeilen entfernter Häuserblock irgendwo an der Küste, vielleicht Marokko, oder auch Lanzarote. Mitunter löscht die Dünung das Licht. Mitunter stelle ich mir Kinder vor, die da in der linden Seeluft am Strand spielen. Oder ein Hund steht in der Dunkelheit auf dem Sand und wittert die Leere.

Über zweihundert Meter fährt der Klippenlift hinunter zu Mango-, Papaya- und Avocadobäumen, zu Bananen, Strelitzien, Surinamkirschen, auf die die Gischt der Brandung Salzwasser sprüht. „Insel auf der Insel“ nennt sich das von Jesuiten angelegte Fajá dos Padres, ein Obstgarten am Meer. (22.12.)

Mein Wein kommt aus dem Dão; dem Tag.

Auf Madeira (4)

Esskastanien- und Eukalyptusbäume. Mit dem Wind von Norden wehen Wolken heran und spülen die Hänge hinauf, wälzen sich hinüber, ziehen hinaus auf See. Dunkelblau in der Ferne ein schmaler Streifen: Land in Sicht.

Die Alte im Obergeschoss vertreibt den Betrunkenen auf der Straße – in der Linken hat er eine Flasche, in der Rechten eine Sichel – mit zwei Eimern Wasser, unter deren herabrauschenden Ladungen er sich krümmt und fluchend davonmacht. (Fontes, 19.12.)

Im Laub der Árvores do fogo, der Flammenbäume über dem Mercado dos Lavradores, sitzen die Trichterspinnen und warten auf Kundschaft.

Als würden zu jeder Zeit hunderte Türen auf- und wieder zugehen, so knarren und quietschen die sich im Wind aneinander reibenden Stämme der Eukalyptuswälder oberhalb von São Vicente. Und sie gehen ja auf, die Eukalyptustüren, in jedem Augenblick, und im nächsten schließen sie sich wieder. (Encumeada, 21.12.)

Levada: die Bewässerin.

Auf Madeira (3)

Noch am dritten Tag auf der Insel den Film der Unwirklichkeit auf den Pupillen.

Am Horizont ragen die Ilhas desertas, die Verlassenen Inseln, aus dem Meer – wie überall.

Heute gingst du einmal durch die Wolken. Und der Regendunst im Lorbeerwald sammelte sich und sprudelte herab durch die Levada. (Ribeiro Frio, 18.12.)

In Ponta Delgada die lärmenden Kirchturmglocken im Rauschen und Brechen der Atlantikwogen.

Am Morgen das Licht als hellblaues Meer.

Vor der Telefonzelle mit Blick auf den Ozean schläft ein Hund in der Sonne. (Campañiero, 19.12.)

Auf Madeira (2)

Wasser will überall Wasser.

Im Mercado dos Lavradores von Funchal liegen in der Fischhalle wie seit Jahrhunderten und wie die blauen Wandfliesen es zeigen die tiefschwarzen Degenfische auf den steinernen Tischen aus, das Maul voller Nadeln totenstarr offen, die lange wie gefiederte Schwanzflosse zu Boden hängend. Ein alter Brite fragt mich, ob ich wisse, wie der Fisch heißt, „Espada, scabbard“, antworte ich, und er sagt, indem er nicht mich ansieht, nur die übereinander gestapelten, beinlangen, gespenstischen Raubfische: „Mit so großen Augen müssen sie in sehr großer Tiefe leben. Dunkel ist es da“, sagt der alte Herr, „dunkel wie sie selber sind“, und er zeigt in einen niedrigen Raum unter der Treppe. Darin steht ein Arbeiter mit schwarz gesprenkelter Schürze und enthäutet die Degenfische. Weiß leuchtet ihr Fleisch.

Ein abgebrochener und in der Sonne auf dem Basalt liegen gebliebener Silberdistelzweig: Eidechse. Regt sich nicht. Hält die Luft an. Spürt deinen Blick. Wartet. Flieht durch ein Loch im Licht. Während du zwinkerst. (Ponta de São Lourenço, 17.12.)

Auf Madeira (1)

Der glatte Atlantik ganz silbern, ein leeres Blatt. Und die einzige dunkle Zeile darauf am Horizont die afrikanische Küste. (Funchal, Madeira, 16.12.)

Vor 99 Jahren lag Shackletons „Endurance“ ein paar Tage lang vor Funchal, um für die Überfahrt nach Buenos Aires verproviantiert zu werden. Im heutigen Hafen gibt es keinerlei Spuren mehr vom Leben vor einem Jahrhundert. Beton, Zement, Stahl und Glas allenthalben. Zwei Kreuzfahrtschiffe an der Mole. Nur die Gesichter und Laute der Männer, die auf der Pier stehen und im Hafenbecken angeln, erzählen.

In Monte der Pulk der Korbschlittenlenker. In Ermangelung von Touristen schlagen die wie Gondolieri gekleideten jungen Männer, sie haben Schuhsohlen aus Autoreifenstücken, mit Kartenspielen die Zeit tot. Auf einer Mauer, die zur Basilika hinaufführt, in der der letzte österreichische Kaiser begraben liegt, schläft ein Hund. Blasse Dezembersonne, Langsamkeit, Warten.

Am Abend das Meer aus hellblauem Licht.

Der Äquator

Ein nachkoloriertes Foto aus dem Jahr 1889 zeigt Robert Louis Stevenson an Bord des Handelsschoners „Equator“, mit dem er von Hawaii zu den Gilbert-Inseln fuhr. Gemeinsam mit fünf Seeleuten steht Stevenson auf dem Klüverbaum am Bug des unter vollen Segeln übers Meer preschenden Schiffs. Es ist ein Bild mitten aus dem Leben des schon schwer tuberkulosekranken Dichters, keinerlei Zeichen von Gestelltheit sind darauf zu erkennen. Ein Matrose zeigt mit ausgestrecktem Arm über den Ozean, und alle Blicke folgen ihm. Stevenson wirkt glücklich, er hat den Augenblick in sich und ist Teil der Welt, die ihn umgibt. Er ist 39. Fünf Jahre lang wird er noch leben. Er ist barfuß. (Lissabon, 15.12.13)

Unverzagt

In Schlangenformation, in sich schlängelnd, zieht ein Schwarm aus achtzig, hundert Wildgänsen übers Haus nach Südwesten. Ein milder Dezembertag, der erste seit Wochen ohne Regen. Ein Fenster.

Poetische Aktion, die den Lügner entlarvt und bloßstellt: Während der Trauerfeier für Nelson Mandela im Fußballstadion von St. Johannesburg übersetzt ein Gebärdendolmetscher Barack Obamas Rede – doch seine Gesten sind erfunden, scheinen sinnlos und erweisen sich als absurd. Und noch zwei Tage nach dem Eklat weiß niemand, wer der Mann war. (Am dritten will man einen Kriminellen aus ihm machen.) Hab keine Angst!

„Sei dennoch unverzagt“ nennt Jana Simon ihre Erinnerungen an die Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Gibt es denn einen Grund, überhaupt einen Grund, zu verzagen? Ich glaube es mit jedem Tag weniger. Jedenfalls will ich nicht mehr Angst haben müssen. Schluss damit!

„Sei dennoch unverzagt“ – Auftakt von Paul Flemings 380 Jahre altem Sonett „An sich“:

Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren;
nimm dein Verhängnis an. Laß alles unbereut.
Tu, was getan muß sein, und eh man dir’s gebeut.
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.

Was klagt, was lobt man noch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
dies alles ist in dir. Laß deinen eitlen Wahn,

und eh du fürder gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles untertan.

*

Keine Angst!

Der Hahn und das Pferd

Im Kreuzgang des Rigaer Doms stand ich vor dem Gerippe des alten Wetterhahns. Es ist ganz aus verwittertem Kupfer, beschichtet mit Goldlack nur noch dort, wo die Krähen ihn übrigließen. Groß wie ein Fohlen, mit stumpfen und doch wie lebendigen Augen und einem Dutzend Schwanzfedern, die dreihundert Jahre lang im Wind sangen. Herder hörte sie. Und Wagner hörte sie, während er die ersten Noten von „Rienzi“ schrieb. Ich sah eine vergilbte Schwarzweißfotografie vom Turm des Doms, auf seiner Spitze, vor dem milchigweißen Himmel an einem Dezembertag 1923, den Wetterhahn.

Das Schicksalspferd, an das die alten Letten glaubten, ein schöner Schimmel: Trat er auf den über den Weg gelegten Ast und zerbrach ihn, so war ein schweres Jahr zu erwarten. Die Kinder am Wegrand feuerten das Pferd an, die Hufe zu heben, höher, höher, die Augen aufzumachen, schau, Pferd, schau, aber wussten, nur der Schimmel entschied. Den Zufall gab es nicht. Alles erzählte, wusste, war Zeichen, gab Antwort.