Die Wildgans

Das zweite Jahr „Gras“ ist vorüber. Ich denke, ein drittes werde ich noch folgen lassen, ehe ich dann genug habe – wovon? Wofür? Wogegen? Und wie hört das Gras zu wachsen auf? (4.6.)

Werbung: zur Hälfte Abklatsch, flache Unterhaltung, zur Hälfte groteske Infantilisierung, wenn nicht zielgerichtete Verdummung. Was denn hättest du von Werbung je gelernt, außer das, worauf du reinfällst? „Dein Schluck Freiheit! So schmeckt die Freiheit!“

Von ihrem Preisgeld für den Anton Wildgans-Preis hat sie sich einen großen schönen, schneeweißen Motorroller gekauft: die Wildgans.

Schild: „Schadnagerköder“ – aus der Schadnagerköderfabrik? „He, sind Sie hier der Schadnagerköderfabrikbesitzer?“

„Die Vergangenheit ist ein fremdes Land: Dort machen sie alles anders.“ L. P. Hartley

Je näher du den Kindern bist, desto ferner bist du den Gedichten. Und kannst ihnen zugleich nicht mal beim Schreiben so nah sein. (9.6.)

In Solothurn

Das Schönste hier in der Kantonshauptstadt ist die Aare, die mitten durch die Häuser fließt, schnell und still, und dabei von grasgrüner Farbe ist. Im Sommer, erzählen die Leute, schwimmt man darin, lässt sich flussab tragen, bis dort, wo an den Ufern rot-weiß geringelte Geländer angebracht sind, davon muss man eines zu fassen bekommen, dahin muss man mit kräftigen Zügen kraueln, um noch aussteigen zu können, sonst trägt die Aare dich weiter und immer weiter, bis du verschwindest. Und tauchst du, sagen die Leute, dann hörst du unter Wasser das Kieselbett rauschen, kollern und knirschen. (Solothurn, 31.5.)

Die Glocken läuten, in den endlosen Himmel hinein geht das Licht. Die Sterne unsichtbar, immer da. In der Ferne sehe ich hellblau die Berge stehen. Meine Kindheit ist immer bei mir.

Wie voll die Stadt auch ist von Leuten, die den ganzen Tag lang über Dichtung diskutieren und einander vorlesen – vor ihrem Geschäft in der Sonne, die Blumenverkäuferin dort mit der Gießkanne in Händen lässt uns alle im Regen stehen.

Spinat

Als wäre es ein Mantra, fällt in jedem, aber auch jedem Gespräch zweier älterer Herren, die etwas auf sich halten, nach kurzer Zeit der Begriff „Aufsichtsrat“. Es ist ein Mantra. Und auch mit Aufsicht hat es viel zu tun. Nur mit Gespräch nichts. (Lübeck, 24.5.)

Der vorübergehende us-amerikanische Präsident Barack Obama bekräftigt den weltweiten Führungsanspruch der Vereinigten Staaten. Ich bekräftige die Unvermittelbarkeit nicht zu vereinigender Einzelinteressen. Der derzeitige us-amerikanische Dissident Edward Snowdon bekräftigt seinen Patriotismus. Ich bekräftige, ein Einmannfreistaat mitten in Europa zu sein. (Basel, 29. Mai 2014)

„Ich bin glücklich“, sagt das Kind am Telefon. – „Ich bin auch glücklich, wenn ich deine Stimme höre.“ – „Ich bin immer glücklich, wenn ich Spinat gegessen habe“, sagt das Kind.

Unterwegs zu den Füchsen

„Lieber ein Ende mit Schnecken als Schnecken ohne Ende“, sagt das Kind.

Die alte Türkin in der S-Bahn zwischen Friedenau und Friedrichstraße, sie telefoniert, indem sie sich das Handy zwischen Schläfe und Kopftuch klemmt. Und lacht.

Oben auf dem Dach ihres Turms messen die Meteorologen die Sonnenlichtdauer eines jeden Tages. Ein schmaler schwarzer Pappstreifen mit Stundenskala ist in ein halbrundes Gehäuse hinter einer Glaskugel gesteckt, die die Sonnenstrahlen bündelt und auf den Streifen lenkt. Als ich auf die Skala blicke, sehe ich dort eine winzige Sonne, gleißend gelb, die sich seit sechs Uhr an diesem Tag durch die Pappe gefressen hat. Ich sehe die Zeit, wie sie vergeht, die Zeit aus Licht, das Leuchten der Zeit.

Wieder in der S-Bahn, Potsdamer Platz, spricht dich aus heiterem Himmel dein Sitznachbar an. Er hat einen grauen Schnauzbart. „Und“, sagt er, „auch unterwegs zu den Füchsen?“

Mit jedem Tag wird das Kind größer, mit jedem Tag hübscher, schöner, d.h. älter. Woran mag das liegen. An jedem Tag?

Es ist ein Weg

Als das Flugzeug hundert Meter durch den Sturm über Indonesien in die Tiefe sackt – als in der Kabine die Frauen schreien – als dein Inneres sich umdreht und dir schwarz vor Augen wird – was hast du da gedacht? „Weiter nichts.“

Im Innenhof das Gelächter der Maurer, die da unten in einer offenen Garage stehen, rauchen und in den Himmel blicken: ein Hagelschauer Mitte Mai. Minuten später scheint wieder warme Sonne, Schwalben kurven durchs Licht. Ich habe das Englisch, das Australisch der vergangenen Wochen im Gemüt, träume, spreche mit mir noch in der Fremdsprache, „Burundjeri“, „Brunswick Street“ und „Yarra River“ denke ich am Donauufer. Es ist ein inneres Wegschmelzen, wie von Schneeresten auf einer Lichtung. (Ingolstadt, 13.5.)

Als ich den Regenschirm aus dem Koffer nahm, kam er mir feucht vor, und als ich ihn zum Trocknen aufspannte, war er voller weitgereister Tropfen: australischer Regen.

Die Angstlust?

Ein Radiogespräch über Stress und Gelassenheit. Eine Anruferin fordert weniger Entspannung, weniger Zerstreuung, weniger Unterhaltung. Erst am Ende des Gesprächs gibt sie sich als Gründerin eines Komitees gegen Steinigungen zu erkennen.

Auch in der so immens schwierigen Klimawandeldebatte von zentraler Bedeutung, die Frage: Wie kann (wieder) Wirklichkeit werden aus dem, was unwirklich scheint? Die Frage nach der Brücke. Du gehst davon aus, dass sie Wirklichkeit wollen, „die Leute“. Aber ist dem so, wirklich? (18.5.)

„Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen ein Ozean“, sagt Newton. Genauso aber stimmt, dass ein Meer ist, was ich ahne. Und: Was ich noch weiß, ist ein Tropfen, ein Meer aber, woran ich mich nicht (mehr, nicht Meer) erinnere. (Potsdam, 21.5.)

Punkt für Punkt, Punkt für Punkt, und so immer weiter, und dabei singen, leise, für dich, für das Bild, das Bild vom Land, summen und Punkt für Punkt auf dein Bild setzen, damit es erst Bild wird, wie die Aborigenes es seit tausend Generationen machen, das versuch, auf deine Weise. Es ist ein Weg.

Elizabeth Street

Es ist schwer, wenn die Abschiede beginnen,
denn alles sagt es, Verschwindenmüssen,
Wiederkehr möglich, doch nie mehr so.
Darum dräng ihn zurück, den nächtlichen
Himmel, in den du hineinfliegen wirst. Geh,
zwischen herbstlichen Wohntürmen, und
in Gedanken nimm die Tram zur Bucht.
Red dir ruhig ein, dass es gut war, besser,
du sagst dir, es ist gut. Behalt keinen Kiesel.
Du vergisst bloß, wo er mal lag, auf dem Dach
eines dunklen Hotels, die Nacht, wie sie roch,
und im Regen die Ufer der Elizabeth Street.
Es wird Zeit. Bye bye pride! Es ist gut.
Nimm sie mit – jetzt ist es soweit –,
das große Licht, die Freundlichkeit.

Stiche

Mach dir ihren Blick auf die Dinge, auf dich, nicht zu eigen. Mach du dir den deinen zu eigen. Und lass ihnen ihren, ist er stimmig, ist er irrig.

Der Literaturbetrieb – Messerstecherei in einer Telefonzelle, heißt es in Australien.

Du kannst über ein Land, in dem du zu Gast bist, nichts Stichhaltiges sagen, gleich, wie groß, wie klein, wie fern, wie nah. Nur von deinem Besuch, dem deiner Sinne (deinem dich-Besinnen), von deiner Sicht kannst du erzählen – dir, mit Glück anderen. (Melbourne, vorletzter Abend, 10.5.)

In Australien dachte ich immer wieder: Woher deine Bekümmerung? Weil du, anders als sie, nicht zu leben verstehst? Weil sie nicht verstehen, wie du lebst? Dass du lebst gar? Es ist seit langen Jahren so, als würdest du verwundert dennoch leben – als wäre das Entscheidende, das Wirkliche abgestorben in dir. Und du (dir) nur noch wirklich als Reisender, um Unwirklichkeit nach Unwirklichkeit festzustellen (und zu manifestieren, du Narr). Das Australische, die Bäume, die Tiere, die Freundlichkeit, der Duft der Welt, sprengt dir die Sicht. Nimm das mit.

Crow

Warum nur noch Asche sein,
sagt die Krähe zu den Kränen,
wenn ihr im Licht steht, warum
ist mein Lied Krächzen. Waa!

Wolkenkratzer, Straßenbahnen,
ich hatte ein Gefieder, so bunt
wie die Wolken Waa! im eisigen
Wind. Hatte Flüsse als Federn,

Krallen, die ritzten Geräusche
der Bäume in den Boden, damit
Waa! ein Weg war zur Wärme der
Sommerstraße. Sie war ein Feuer.

Ein Flammen und rötliches Lodern,
gespenstisch Waa! ein lohendes
Fenster. Ich flog durch es durch,
und es war der Adler, war Waa!

der Gott, der mich schwärzen,
stumm sein ließ und verbrennen.
Lied und Landkarte und Mantel,
in Krähenträumen Waa! sind sie

eins. Ich kam in einen Morgen,
und Wipfel war das große Licht.

Für Tony Birch

Die Berge berühren

Der Geruch Melbournes: ein „Das-erinnert-mich-an-Melbourne-Geruch!“ – süßes Metall, in den Herbst hinuntergesunkene Sommerhitze, die Nähe Südostasiens. Ein Nachtgeruch, ein seltsamer Weihrauch. (6.5.)

Die Erlebnissee!

An einer Wand steht:

All that
Still
Lives,
Lives
Against
This
Society.

Jemand hat den Wandspruch verändert, mit wenigen Strichen und Punkten:

All that
Still.
Lives,
Lives.
Against!
This
Society.

(Melbourne University, 7.5.)

Exif_JPEG_PICTURE Die 104-jährige Lizzie Davis aus dem Volk der Coranderrk wurde gefragt, wie sie Regen voraussagen könne. Lizzie Davis antwortete: „Ich berühre die Berge.“

Eine Melbourner Radiostation: Radio SBS – Seven Billion Stories