Niemandshimmel

Der Leuchtturm blinzelt. Alpakas im Regen.

Das Unlicht!

„Ich habe mich nie erholt von dem Anruf Gottes.“ Marie Noël

Erdbeeren als Erinnerung an Erdbeeren. Süße als Erinnerung an das, was süß war. Liebe als Erinnerung an die Liebe. (Gammendorf auf Fehmarn, 5.8.)

Am Nachbarfrühstückstisch ein Streit zwischen Eheleuten, und an der Wand hinter ihnen kriecht hin und her eine dicke schwarze Spinne eine ganze Stunde lang. Der Streit. Die Spinne. Kriecht hin und her. Das Gespräch. Das Gewebe. Das Spinnennetz. Als der Streit endet und das Paar ermüdet geht, ist die Spinne verschwunden.

In der Abendsonne kam mir der vor sechs Wochen verstorbene Vermieter entgegen. Ich nickte ihm zu, als ich mit dem Rad vorbeifuhr, und er grüßte zurück und ging weiter Richtung Friedhof, im Arm eine Fremde. (Ohlsdorf, 6.8.)

„Kein Mensch war glücklicher. Seine geringen Ansprüche konnte er mehr als in ausreichendem Maße befriedigen. Freunde besaß er mehr als große Fürsten, Feinde hat er kaum gehabt. Warum sollte er nicht fromm sein?“ Julius Meier-Graefe über Camille Corot, und kurz darauf: „Gibt es noch Kinder in der Welt? Darf es sie geben?“

45 Tage lang hat das Kind gewartet und heruntergezählt, bis es heute so weit war und das Computerspiel in die Läden kam, das „Niemandshimmel“ heißt.

Ein grüner Abschleppwagen jagt vorbei, und vom oberen Fensterrand fällt im selben Augenblick ein Tropfen hinunter in den regennassen Garten. Unsere Gedanken suchen einander. Sie sind wie die Hände. Aber die meisten Leute stehen in den Hauseingängen oder im Schutz der Bushaltestellenhäuschen und können die Tristesse nicht fassen.

Zwei Schneewittchensärge an einem Abend.

Himmel

Jeden Abend, pünktlich wie die Heimkunft der Krähen zu ihren Schlafbäumen, schüttet es. Der verregnete Juli. Die monströsen Hecken. Die Bäume hypertroph. Verstummte Vögel. Jedes Haus wird zum Dampfer im Orkan. Es ist ein Herabstürzen von zuviel Wasser, ein Meer, das dem Himmel zuviel ist. (27.7.)

Um den Erdball kreisen rund 900.000 von Menschenhand gefertigte Objekte. Kritische Annäherungen des Orbitschrotts kommen für Satelliten im Durchschnitt zweimal die Woche vor.

Im Verlauf eines Gottesdienstes im polnischen Tschenstochau ist Papst Franziskus gestolpert und gestürzt, blieb aber unverletzt und konnte die Messe leicht humpelnd beenden.

Der Vorbeiflugabstand!

„Nie den ersten Eindruck vergessen, der uns bewegt hat.“ Camille Corot

Der liebe Freund – Aloha! – schwingt sich im Park an einem Baum empor. „Er braucht das zu seinem Glück“, sagt seine Frau und sieht ihm bei einem Dutzend Klimmzügen zu, lächelnd wie er. Bei Edgar Rice Burroughs, dem oft kleingeredeten Tarzan-Erfinder, lese ich den schönen Satz: „Nie hat ein Mensch mit weniger begonnen.“ (Wilhelmsburg, 31.7.)

Wieder auf Fehmarn. Wie oft noch willst du hierhin, hm? Große einzelne Wolken fluten über die Insel, die sind wie du. Und hunderte tieffliegende Schwalben über den Stoppelfeldern, die sind auch wie du.

Die Bäume sind schuld

Jahrelang dachte ich, es müsse doch eine Verbindung, und noch so winzige, zwischen Muhammad Ali und Ali MacGraw geben – und ich denke das noch immer, und schlage hier deshalb jetzt die unsichtbare Brücke.

Das Kind mit dem Gesicht eines Erwachsenen fragt dich nach dem Weg. Es hat eine tiefe Stimme. Es ist ausgesucht höflich. Aber es hat den Körper und die Gestalt eines Kindes. Es fragt für die ganze Familie. Vater, Mutter, die Großeltern und Geschwister, alle sprechen nicht deine Sprache, aber das erwachsene Kind tut es. Ist es ein Kind? (Frankfurt-Süd, 21. Juli)

„Die Bäume sind schuld“, sagt der zahnlose Alte auf dem Bürgersteig, nachdem die Nachmittagsgewitter durchgezogen sind. „Sie speichern den Regen. Es ist schon wieder sonnig, aber unter den Bäumen regnet es weiter! Sie sind hinterlistig und erfinderisch.“ (Alsterdorf, 22.7.)

Der Amoklauf von München. Der neunfache Todesschütze war 18, zwei Jahre jünger als mein Sohn, erschoss sich vor den Augen der Polizisten, nachdem er seine Opfer via Facebook in eine McDonald’s-Filiale gelockt hatte. Er beschaffte sich die Tatwaffe im Darknet, den Substrukturen des Internet, eine aufgesägte Theaterpistole. Wenn dem allen so ist – was hat es zu tun mit dem, was wir Wirklichkeit nennen? Es ist – in aller Deutlichkeit – die todbringende Unwirklichkeit.

Mit deinem kleinen Neffen allein nach draußen in den Garten geflohen vor der Enge der Familienzerrüttung. A figure in the sky, a figure in the sky! Die Kastanie zeigen bereits die Verwundung durch die Minierraupe – halb vergibtes Laub im Juli. „Schau die Flecken auf den Blättern!“, sagst du zu dem kleinen Mann, der dich anstaunt mit seinen fünf Jahren, seinem eigenen Blick, seinem Glück von Downsyndrom. Er zeigt auf seine Wunden am Unterarm – Flecken, kleine Kratzer. Das Kind und die Bäume, seine Freunde in diesem einen Augenblick.

the-chameleons

Wer ihre Musik nie hörte, der wird kaum verstehen, wie es zum zersplitterten Gemüt der nachmodernen Jahre kam: The Chameleons aus Middleton bei Manchester, die es von 1981 bis 1987 und 2000 bis 2002 gab. Das Akustikalbum „Strip“ von 2000 zählt zu den eindringlichsten musikalischen Darstellungen der um sich greifenden Verunsicherung und Zerrüttung, die ich kenne – wobei Sänger Mark Burgess und Gitarrist Dave Fielding immer wieder Klangräume schaffen, die von ganz anderen Möglichkeiten erzählen, von kristallener Wehmut, nächtlicher Klarheit. Das Aufbegehren der Chamäleons ist ein unbedingtes. „Oh, when you think of it, when you think of it / Try here / A word in your ear / You can’t go back to the trees“, heißt es in „Soul in Isolation“ von 1986.

Die alten Gesichter – von früher – die Visagen – Antlitze dennoch, fürwahr. Ist hier die Grenze der Poesie? Nein.

Woher der Glaube an die Macht der Vorbeugung?

Bojendorf

Das Dreieck Garten,
Bug im knisternden Laub,
ein Erlenschoner vorm Wind.
Halt Kurs, auf die Inselränder!
Dein Schiff, die alte Trübsal,
hat fünfzig Birnenkanonen,
Mauersegler folgen ihr,
Seemöwen melden: Herz!
Land! Schwalben schießen
durch die Scheune aus Bläue,
in der nachts die Fehmarner
die Sonne wegsperren.

Ein blasser Klüver
wächst aus dem Rasen:
die Stockrose. Wer meutert?
Lass die Korsarenerinnerungen.
Wieso will keiner tanzen?
Es gibt Wogen, die
sind tiefer und wilder
als alles zu Beweinende.
Vorm Gartenbug eine Stoppeldünung,
Füchse und einundfünfzig Sommer. Schau,
die Pracht, das Silber, das Schäumen
auf dem himmelgrünen Gras.

Für Hendrik Rost

Der Schädel am Brückenturm

„Die Welt besteht aus Licht.“ Camille Corot

Unter meinen Papieren die erste Sterbeurkunde.

Die wichtigsten Entscheidungen stellen keine Probleme dar, weil sie sehr einfache Lösungen verlangen: atmen oder ersticken, springen oder verbrennen, lesen oder dumm sein. Schwierig wird es im Entscheidungsdickicht, und ebenso, wenn du mit Lösungswerkzeugen behängt bist und keinen Freiraum hast, um nur eines zu benutzen. Beinahe jede Lösung ist genau das: eine Lösung – ein Loslassen oder Sich-Lösen oder Etwas-Herauslösen. Und so auch die meisten Entscheidungen: Sie sind ein Trennen, Voneinanderscheiden, Heraussuchen, -sammeln und -nehmen. Das oft so grausame Aussortieren, die Selektion. (Kassel, 19.7.)

cheever Der immer aufs Neue, von einem Satz zum nächsten verblüffende John Cheever: „Ich muss mich selber davon überzeugen, dass für mich, einen Mann mit meiner Veranlagung, das Schreiben keine selbstzerstörerische Berufung ist.“ Doch es geht Cheever nicht um das Breittreten des altbekannten Verhängnisses etwa Fitzgeralds, dass zu schreiben und dabei – oder deswegen – zu trinken nur kurz etwas von Güte zeitigt, dann aber rasch, tief, unaufhaltsam – und gähnend! – der Abgrund auf einen wartet. Cheever verfolgt in seinen Tagebüchern eine viel grundsätzlichere Analyse der eigenen Rauschhaftigkeit: „Ich hoffe und glaube, es ist nicht so, aber wirklich sicher bin ich mir nicht. Es (das Schreiben) hat mir Geld und Ansehen eingebracht, und doch habe ich den Verdacht, es hat etwas mit meinen Trinkgewohnheiten zu tun. Die Begeisterung für den Alkohol und die Begeisterung für die Phantasie sind sich sehr ähnlich.“

Fettmilch, Gernegroß und Schopp hießen die Räselsführer des sogenannten Fettmilchaufstands 1612 bis 1614 in Frankfurt am Main, in dem nackte Geldgier und unverhohlener Hass auf die Juden der Stadt sich miteinander paarten. Vinzenz Fettmilch wurde am 28. Februar 1616 in Aschaffenburg öffentlich hingerichtet, ihm wurden die beiden fettmilchSchwurfinger der Rechten abgetrennt, der Kopf abgeschlagen und sein Körper gevierteilt, bevor man ihn an den Galgen hängte. Das Haus Fettmilchs in der Frankfurter Töngesgasse wurde geschleift und eine Schandsäule an seinem Platz errichtet. Fettmilchs Kopf pflanzte man auf eine Eisenstange am rechtsmainischen Brückenturm, dort steckte er 185 Jahre lang, von 1616 bis 1801, als man den Frankfurter Brückenturm abriss. Goethe erinnert sich an den Anblick in „Dichtung und Wahrheit“, und durch seine Zeilen zittert der Schauder: „Unter den altertümlichen Resten war mir, von Kindheit an, der auf dem Brückenturm aufgesteckte Schädel eines Staatsverbrechers merkwürdig gewesen, der von dreien oder vieren, wie die leeren eisernen Spitzen auswiesen, seit 1616 sich durch alle Unbilden der Zeit und Witterung erhalten hatte. So oft man von Sachsenhausen nach Frankfurt zurückkehrte, hatte man den Turm vor sich, und der Schädel fiel ins Auge.“

„Niemand kann sich verstecken, wenn er kein Kind ist.“ Alissa Walser

Woran wir uns nicht erinnern

Der schöne Juli-Wind: Nach tage- und wochenlangem Regen und dem grauen Himmel scheint verhalten die Sonne, und es weht ein Wind, ah, frischer Westwind.

„I trust no emotion, I believe in locomotion.“ Wilco

Kind, das eine Fahrradpanne hat vor deinem Fenster. Gehst du hinaus zu ihm? Nein. Die Ruhe selbst, steigt es ab, überprüft, repariert, überprüft, steigt auf, steigt ab, überprüft, steigt auf, fährt, fährt weiter und davon. So warst du auch!

Wohin du auch gehst, nimmst du dich mit. Bleib stehen, und du lädst ab, was dir – an dir – zu schwer wurde. Freiheit, Freiheit, Freiheit! Aber der erste Schritt weiter lädt dich dir erneut auf deine Schulter.

Vorm Supermarkt wieder er, der mit den Bäumen spricht („He! Du Kastanie!“), den Briefkästen, Autos, Einkaufswagen, Gehwegplatten und Mülltonnenhäuschen und den Geldautomaten („Ha, da lacht er, der Automat! Ja, lach nur!“). Was willst du ihm sagen, hm? Viele Grüße!

Der Anschlag von Nizza – Ausverkauf der Barmherzigkeit. (14. Juli 2016)

Vereitelt, der angebliche Militärputsch in der Türkei, und der angebliche Präsident schwadroniert weiter, vermeintlich bestätigt, lässt er weiter verhaften und niederkartätschen.

Am Morgen die Amsel unter den Dotterblumen im Vorgarten – ihr Schnabel als Blüte.

Das Kind bringt einen Zettel nach Haus, auf dem als Gedächtnisstütze notiert ist: Streichquartett 15, op. 132. Eindeutig, das Kind hört Beethoven, den späten.

Und jeden Tag Regen: Juli 2016.

Der Klavierrestaurator zeigt mir hinter seiner Werkstatt seine kleine Wohnung und erzählt von den Bildern an den Wänden, von seiner Schwester und deren Gemälden, von seinem Vater und dessen Malerei, von Keramiken und Kindheitssommern auf Rügen. Eine Wohnungsführung, die kaum drei Minuten dauert, doch die ein wirklicher Rundgang ist, wie durch ein Klavier, voller verborgener Klänge, Holz und Bewegtheit. (Ottensen, 16.7.)

„Woran wir uns nicht erinnern, das hat nicht stattgefunden.“ Christoph Bangert

Foto: „Steps to nowhere“, Christoph Bangert, 2013, Naraha bei Fukishima