Ein Sehfehler

Mitunter möchte ich einfach schreien: Hilfe! Hilfe!! Hilfe!!! Aber wer soll da kommen. Du?

Über den Garten fliegen tausende Schneekristalle, funkelndes Blinken und mitten am Tag, ein Sehfehler, dachte ich erst, eine Irisirritation. Aber es war nur der Tanz eines winzigen Firmaments.

Das schönste Geschenk, das sie von ihrem Sohn je erhalten habe, sagt die Mutter, sei eine Salatschleuder aus durchsichtigem Plastik. „Und du“, fragt die Freundin sie, „was ist das Schönste, das du deinem Sohn geschenkt hast (diesem Nichtsnutz)?“ — „Sein Leben?“

Zug, Zug, Zug, Zug, Zug

Nachts stand ein Schimmel vor dem Rathaus des Städtchens und sah mir zu, wie ich am Hotelzimmerfenster rauchte. Kurz vor Tagesanbruch, als ich das nächste Mal hinausblickte, war das Pferd verschwunden. Man hörte ein fernes Klopfen, aber keinen Menschen. Vom Ziffernblatt des Kirchturms lösten sich die Zeiger und krochen das Mauerwerk hinunter, um am Brunnen auf dem Marktplatz zu saufen. (Rietberg, 23.1.)

Ein Gabelflug?

Wie im Mutterleib, die Behaglichkeit, die gedämpfte Stille, das wie von fern ins Ohr dringende Raunen der dich festhalten wollenden Musik, und alles im Grunde Schiffsinneres, denn draußen ist das Meer, die endlos offene See – auch wenn vis-à-vis nur das Theater steht, wo hinter den Fenstern unterm Dach Sekretärinnen Bühnenverträge aufsetzen. (Grandhotel Duisburger Hof, 24.1.)

Nach Mitternacht bei minus zehn Grad allein auf einem Bahnsteig in Uelzen. Aus dem Dunkel der Frostnacht rast ein Güterzug heran, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, vierzig oder fünfzig korrodierte Waggons voller Kohle oder Schotter jagen vorüber und verschwinden in der Nacht, und kaum tritt wieder Stille ein, Unbewegtheit, starrst du auf das Gleis und ringst eine grenzenlose Traurigkeit nieder.

Escheburg

Jahre lang, Sommer, Frühling,
Winter, Herbst, lief ich ihm nach,
dem Hund über die Gleisschwellen.
Und ich glaube, so fanden sie mich,
Verse: Ich schoss Schottersteine
und lief bis wo sie liegenblieben,
um sie weiterzukicken, Jahre,
Wochen, Stunden verspielt.

Was ist daran so unvergesslich.
Immer gleich lange Schritte, Hund,
Gras, Schotter. Und ich glaube, ich
versank in mir, aber teilte ja genauso
alles, oder fast: Gesänge der Grillen
Ende August, die Bisse des Frosts,
den Bus, der aus dem Nebel bog,
Wind, die Fasane bei Gryphius.

In der abgebauten Welt

Der junge Friseur, Deutschtürke, raspelt mir Bayerndeutschem 15 Jahre vom Kopf, bis ich in den Spiegel lächle und er mir in mein altes Jungsgesicht. Während sein Cousin im Blaumann auf der Leiter steht und die Salondecke verspachtelt. Ich auch, bitte verspachteln. (Dortmund-Hörde, 22.1.)

In der Dunkelheit am Phoenixsee. Wo das schwarze Wasser funkelt und die Jogger joggen, stand vor 15 Jahren noch das riesige Stahlwerk von Hoesch. Binnen einer Woche zerlegten es die Chinesen in Teile und transportierten es ab. Das Hörder Stahlwerk steht heute in China, aber irgendwie, nicht nur in der Erinnerung, ist sein Schatten, das rote Glühen am Nachthimmel, sind die ewig qualmenden Schlote, das Stampfen, Klingeln, Schlagen, die Züge voller Feuer, wie sie mitten durch die Stadt rollten, immer noch da. Nicht in der abgebauten Welt, aber in der reichen jenseits von allem und zugleich mitten unter uns.

Kahles denken

An der Bahnsteigkante hochgewirbelter Müll, als ein Schnellzug durchfährt – Bild für die Erinnerungen. Nur was fährt durch, und wo?

„Lovers alone wear sunlight.“ E. E. Cummings

In tiefer Nebelnacht aufgewacht, stehst du hoch droben in deinem Hotelturm und siehst unter dir, mit Nachtvogelaugen, den leeren, hell erleuchteten Bochumer Hauptbahnhof liegen. JESUS CHRIST SUPER, riesige hellblaue Leuchtbuchstaben an einer Fassade in der dunklen Ferne, das Einzige, was es zu lesen gibt. (Bochum, 21.1.)

Kleider aus Sonnenlicht hat nur wer liebt.

In Bochum Herbst, in Dortmund Winter. Dazwischen die grauen Felder, Nebel, kahle Bäume. Kahles Denken. Kahles denken?

Die unerfüllte Hast

Was kann es sein, das dem Wolf der Wall Street in seinem Leben fehlt? In Martin Scorseses Film hat der Broker Jordan Belfort so viel Geld, dass er nicht weiß, wie es ausgeben, er nimmt alle erdenklichen Drogen, hat Sex mit wem er will, hat aber ebenso Freunde, eine Familie, Kinder und Eltern, sogar eine Aufgabe, wenn nicht Mission: Geld zu machen und allen in seinem Umfeld dasselbe zu ermöglichen. Was fehlt ihm? Als unglücklich schildert ihn Scorsese nicht – doch Leonardo DiCaprio gelingt es, die unerfüllte Hast, die Rastlosigkeit, das nackte Jagen nach Lust und nach Bestätigung als zermürbenden Mangel darzustellen. Solidarität, Maß, Liebe, Innigkeit, Aufrichtigkeit, Überlieferung, Gottvertrauen, Glaube – wirklich? Mangel erst, Verzichten und Sichbescheiden, lässt Wirklichkeit zu? (18.1.)

Was ich Arno Schmidt immer schon gern gesagt hätte: Die Welt der Kunst & Fantasie is a nightmare, the rest ist das Wahre.

Wie dir dann doch immer wieder die Gedichte zu Hilfe eilen – nicht deine eigenen (die Stubenhocker, die Schlafmützen), sondern die der anderen, die unten am Feuer sitzen, rauchen, reden, lachen und Rachmaninow hören, um dann rauszurennen, wie Katzen, in die neblige Januarnacht und im Garagenhof Fußball spielen, night soccer, angeschickerte, aufs Spielen Versessene, die ein Loch schießen ins Treibhausglas des ganzen Gefasels. Während du oben am Fenster stehst und nicht mal Orion dich rührt. „Und es ist eben dies kein Sarkasmus.“ (Elke Erb)

Der Reiher und der Löwe

Fregattvogel, verirrt aus der warmen Thermik über Rio in den kalten Januar: Mit seinen langen Beinen kreist ein Reiher durch die graue Luft über dem Haus.

Vom Grab des Hamburger Tierparkgründers Carl Hagenbeck haben Unbekannte den lebensgroßen schlafenden Bronzelöwen gestohlen. Inzwischen ist die Plastik bestimmt zersägt und eingeschmolzen. In der spinnerten Vorstellung des Dichters – ach Traumtänzer – kann der Löwe aber auch aufgewacht, von seinem Sockel gesprungen und davongelaufen sein, nachts durch Ohlsdorf streifender, hungrig Joggern auflauernder Bronzelöwe. Und ist so auch Bild für die Poesie selbst, schlafende Bronzedichtung, Figur auf dem Friedhof, lebendig und tot zugleich – Erinnerung. (15.1.)

Hannover

Und dann mit einem Mal (und vielen schönen Makeln) ein vertrautes Gesicht, seit 35 Jahren unvergessen.

Dieses sich mehr und mehr verdichtende Gefühl von Verlorenheit während einer Woche auf Lesereisen – du bist nicht verloren, nirgends. Da sind ja überall freundliche Leute, Geschichten, erstaunliche Dinge. Dennoch kommst du dir Stück für Stück abhanden. Was dem entgegensetzen? Lesen. Liebe Wörter. (Hannover, 9.1.)

„Du weißt, was dich in Leer erwartet?“

Lüneburg

Meine Literatur sei stark philosophisch, sagen mir Studentinnen und ihr Professor. Strenggenommen sei ich ein Konstruktivist: Meine Welt, das Denken und Sprechen meiner Figuren gründe auf Konzepten, sei dichterisches Konstrukt. Ich erwidere, dass mein einziges mir bewusstes Konzept der Zweifel sei. Doch das stimmt so nicht. Das Gespräch ist mein Gebäude, und seine Mauern sind aus Zweifeln.

Beim Anblick des im abendlichen Nieseln daliegenden Bahnhofsvorplatzes vermisse ich etwas – und weiß wieder, als ich den mit jungen Bäumen bepflanzten, mit Fahrradständern und Rollstuhlrampen versehenen Platz überquere, wie es sich anfühlte und wie es klang, wenn ich vor 22 Jahren in einer Januarnacht hier die Taxe startete und der Daimler mit leisem Quietschen über das Kopfsteinpflaster glitt. (Lüneburg, 8.1.)

Lüneburg, die frühen Morgenstunden, the small hours, Nicolas Born, der auf den ersten D-Zug wartet und über die Viertelstunde in der Wartehalle und im gerade geöffneten Bahnhofsrestaurant voll kaltem Rauch ein Gedicht im Kopf skizziert. Born glaubte noch an das Gedicht, dessen Offenheit und Dauern. Als ich 1994 Lüneburg verließ, glaubte auch ich noch, zumindest eine Brücke und wenn nur eine zurück durch die Zeit könnte mein Gedicht sein.

Rostock

Begrüßungstafel am Rostocker Hauptbahnhof: „Wissen Sie eigentlich, wo Sie sind?“ – Nein, weiß ich nicht. Hab ich noch nie gewusst, nirgends. Aber danke für die Frage.

Hoch oben im Turmhelm der St. Petri-Kirche erzählt ein alter Herr, geboren 1935, von der Bombardierung Rostocks. Die Stadt als leuchtende Fackel in der Nacht. Das Schlagen im Erdboden bei kilometerweit entfernten Detonationen. Seine greisen Augen sind einwärtsgekehrt, und trotz seines Barts wirkt er wie ein kleiner Junge.

„Rostocker Verse“, fällt mir oben in dem Turm plötzlich wieder ein, sollte 1988 eine meiner ersten Gedichtsammlungen heißen – warum?

Das Ticken der uralten Weltuhr, der Andrang gedämpfter Geräusche und Klänge von drinnen und draußen, fast ein Geklopf, die Bilder, die Musik, der feuchte Stein- und Zeitgeruch. Walter Kempowski nennt die St. Marienkirche den Uterus, aus dem er komme. (Rostock, 7.1.)

Bad Kleinen

Vormittags stehe ich auf dem Bahnsteig des tristen Kleinstadtbahnhofs, ein Ort, an dem ich nie zuvor war, der aber seit Wolfgang Grams‘ Erschießung meine Fantasie, mein Einbildungs-, Einfühlungsvermögen beschäftigt. Es war ein Frühsommertag, der 27. Juni 1993. An den Gleisen erschossen wurde zunächst der GSG-9-Beamte Michael Newrzella, er war 26, so alt wie ich seinerzeit. Nichts erstaunt mich an den Gleisen, herumstehenden Loks und alten Waggons, dem rissig gewordenen Mauerwerk der Unterführung, den Silos dort hinten, wo das Städtchen anfängt oder aufhört. Natürlich, keine Gedenktafel, Plakette, keine Blumen, kein Kreuz, ich habe nichts gesehen. Maßlos verblüfft aber bin ich von dem Ausblick (kein Foto oder Film, kein Fernsehbericht damals gab ihn wieder): Der Bahnhof von Bad Kleinen steht unmittelbar am Ufer des Schweriner Sees, eine riesige silberne Fläche leuchtet auf und blendet in der Sonne, Röhricht, kahle schwarze Birkensilhouetten, ein guter letzter Anblick.