Wenn du schwimmen gehen willst, geh schwimmen, aber schwimm unter Fischen (Itzstedt, 4.8.).
Abschiedsübungen
Keiner will eine Ahnung davon gehabt haben, dass wir (alle) ausgespäht werden (können)? Ist es nicht eher so, dass wir (alle) alles getan haben, damit wir ausgespäht werden (können)? (1.8.13)
Der Nachbar, der jeden Abend zurselben Dämmerungsdunkelheit an die Straße tritt und nach seinem Kater ruft – Tenor.
„Furchtbar, wie nichtssagend alles ist.“ – „Erschreckend, wie taub du bist.“
Da sind sie wieder: Im letzten Sommerabendlicht kehren die Wildgänse heim von ihren Abschiedsübungsflügen.
Schwalben und Nacht
Einmal so jung sein wie am jüngsten Tag.
In einer Bar in Eimsbüttel bestelle ich aus Edenkobensentimentalität ein Glas Riesling aus der Pfalz. Und der weißgrüne, leicht goldene Wein, der in mein Glas geschenkt wird, stammt nicht nur aus der Edenkobener Gegend. Er kommt aus Rhodt, von eben dem Winzer, bei dem ich vor vier Wochen im Hof saß. Für mich schmeckt er nach den Weinbergpferden, nach Schwalben und Nacht.
Zwischenstopp in „Scheusal“
Imre Kertész‘ späte Tagebücher und sein „Galeerentagebuch“ zu lesen erschüttert mich ähnlich wie seinerzeit, als ich einen Winter lang vor zehn Jahren und immer im Bus, angewidert von Trostlosigkeit und dem Stumpfsinn meines damaligen Ehelebens, Pavese las, „Das Handwerk des Lebens“. Kertész: „Ich lebe wie einer, der zwischen zwei überaus wichtigen Beschäftigungen verärgert eine belanglose Stunde totschlagen muß; und diese Stunde ist mein Leben.“ Und der darauffolgende Eintrag ins „Galeerentagebuch“: „Das Sprechen der Vögel in der Nacht, ein unglaubliches, ergreifendes, fast menschliches Sprechen. Lange Pfeifsignale, warmes Zwitschern, Singen, kollerndes Gurren – allem Anschein nach sind sie glücklich. Keine Grobheit, keine Gereiztheit, kein Hunger.“
Zwischenstopp in „Scheusal“.
Woher kommen die Frauen, die meine nächtlichen Träume bevölkern, seit ich ein kleiner Junge war? Ich kenne keine von ihnen, bin nie einer begegnet. Keine gleicht der anderen, oder nur in einem: Immer sind sie gut zu mir.
Nasenbluten ohne Ende
Zur Verzweiflung treibt dich nicht das Fehlen der Liebe – du wirst ja geliebt und du liebst – oder das der Leidenschaft – das kurze Feuer, die bittere Asche, im Wind. Verzweifeln lässt dich, dass keiner etwas mitteilen kann von sich – und dass du in einer Zeit lebst, die es aufgegeben hat, etwas begreifen zu wollen, und mit verinnerlichter Resignation – dem Facebook-Wahn, der nur der Anfang ist – das Sichmitteilen einstellt. In der „Pest“ lässt Camus eine seiner drei oder vier Hauptfiguren, nämlich Tarrou, sagen: „Ich habe so viele Diskussionen gehört, die mir fast den Kopf verdreht hätten und die genügend andere Köpfe verdreht haben, bis sie dem Morden zustimmten, dass ich verstanden habe, dass das ganze Unglück der Menschen entsteht, weil sie keine klare Sprache sprechen.“
Ein Schutzwall aus vor sich her getragener Unanfechtbarkeit – schwer zu verstehen und noch schwieriger zu lieben.
Nicht ein einziges liebes Wort, fünf Wochen lang. Nur zwischen den Zeilen das Lieben- und Geliebtwerdenwollen, ein Schweigen.
„Wir brauchen keine Betten.“ Doch, ich brauche eins. Mein Bett war immer mein Zuhause. Sonst: In girum imus nocte et consumimur igni … irren wir nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt.
Das Tagpfauenauge in der Sonnenblumenmitte, mit welcher Geduld sitzt es in der Gluthitze, und nur ein Mal, als eine Brise kommt, schlägt es sich fächelnd die kühlere Luft zu.
In gi rum im us noc te et con su mi mur ig ni. Ohne Bett kann ich nicht schreiben. Ohne Bett drehe ich mich im Kreis. Ohne Bett werde ich mein eigenes Palindrom.
Gibt es sie, die „ehrlichen Hände“? Wäre dem so, müssten da nicht auch die anderen sein, die verlogenen, unaufrichtigen, die „unehrlichen Hände“? Nimm an, es gibt ehrliche und unehrliche Hände – worauf liegen, worüber tasten, was streicheln sie? Eine ehrliche Haut, eine unehrliche? Bist du eine ehrliche Haut, wenn du mich unehrlicher Hände bezichtigst? Und sobald du ehrliche Hände gefunden hast, die über deinen Leib wandern, bist nicht dann du tief verborgen in deiner unehrlichen Haut?
Verändert sich das Tier, indem es aus dem Wassernapf trinkt und aus sich selbst zu saufen scheint?
Von außen betrachtet ist das Feuer vorüber, verglommen und erloschen. Nur du weißt, dass es frisch genährt weiterschwelt, im heißen inneren Flöz. Sommerverluste, und du bist wie sie, bist die Verluste selbst: Sie halten sich in Grenzen (Am Itzstedter See, 28. Juli).
Ein dicklicher Junge im Freibadwaschraum zu seinem Spiegelbild: „Nasenbluten ohne Ende.“
Wirklich?
„Unterm höchsten Sonnenstand“ nennt Iris Radisch die Sphäre, in der Camus alle seine Bücher spielen ließ. Selbst „Der Fall“ (sage ich) spielt dort. Nur dass die Sonne eine schwarze ist und im Innern glüht und kreist.
Jede Behauptung kontert das Kind lächelnd mit der immerselben Frage: „Du hast ja sehr lange Haare bekommen.“ – „Wirklich?“ – „Schöne Turnschuhstiefel hast du!“ – „Wirklich?“ – „Was für ein herrlicher Sommertag!“ — „Wirklich?“
Saumseligkeit. Das Glück des Versäumens. Das herrliche Herumliegen am Rand, am Saum von allem.
Vom Ersinnen
Die Erinnerungen der Fingerkuppen und Handinnenflächen, to recollect und to remember: Ich entsinne mich, müsste es nicht eigentlich heißen ich ersinne mich? Ich ersinne die Textur des weißen Leders, auf dem in einem Nachtzug durch Belgien vor 31 Jahren meine Finger lagen. Ich erinnere den Schmerz, wenn der gewachste und gezwirbelte Stock, der Ochsenziemer der Lehrerin, in der Volksschule von Marienstein auf meine Handteller niederklatschte, während ich vor dem Stuhl kniete und die Tränen verbiss (27.7.).
„Heute ist der nächste Tag.“
So wach!
Zwei Mädchen fahren mit dem Rad vorbei, eines auf dem Gepäckträger vertieft in sein Smartphone. Und wie friedvoll, wie still wirkt das Bild, voller Hoffnung (24.7.)
Der Olivenschüttelladen?
Die Bäume, wenn endlich nach langer Hitze der Sommernachtregen kommt, recken sich, öffnen und ballen, bauschen sich dem Himmelswasser zu – und du? Weißt, was du Projektion zu nennen gelernt hast, ist im Grunde ja schierer Einfühlungsversuch: Öffnen, Ballen. Entgegenrecken.
Who wants to be a questionnaire?
Wie herrlich muss es sein, so wie das Tier im Flur, auf dem Balkon oder Küchenfußboden herumzuliegen. So möchte ich oft sein. In der Brise selbstvergessen, ein pochender Teil der allgemeinen Saumseligkeit. Wie herrlich, so wie ein dösendes Tier auf dem Bürgersteig herumzuliegen, unter Bäumen am Rand der Ausfallstraße, im Kirchenschiff!
„So wach!“ – der Frühmensch.
Durch das leere Sommerhaus
Die grüne Spinne,
seilt sich ab vom Baum,
sie scheint mir eine
grüne Beere,
die schwebt.
Sie sendet
aus dem Grün,
schickt Fäden aus
durch das stille
Sommerhaus
und webt.
Grüne Spinne,
steht in einem Traum,
in dieser grünen
heißen Leere,
und lebt.
Schneid dich
Inmitten der Friedhofbegonien: Meine Großmutter (Grußmutter, Oem) bekommt den lieben langen Tag Hummelbesuch (Aumühle, 20.7.).
Alle die Dinge, ganze Hekatomben von Gegenständen und Flüchtigkeiten, unbeschrieben oder tausendfach bis ins Kleinste ausformuliert – die keine Menschenseele interessieren.
Du hast dich lange, lange nicht verletzt. Keine Wunde, kein Schnitt im Finger, weder aufgestoßenes Knie noch gequetschter Zeh. Fühlst du dich vielleicht deshalb von der Welt und ihrem Tag immer öfter verwundet, im Innern, wie es dann hilflos heißt? Denn ohne Versehrtwerden geht es nicht weiter. Etwas muss erneuert werden. Also verletz dich! Renn irgendwo gegen die nächste Wand. Schneid dich, klemm dich. Damit das Innere dunkel bleibt, fall irgendwo runter, schlag hart auf und bleib lange reglos liegen. Und im Stillen juble.
Stummes Publikum
Die Wohlfühlkunst?
Ja, das bin ich: der bärtige Alte im Blaumann, hingehockt auf den Parkplatz vorm Freibad, wie er dort mit dem Messer Unkraut aus den Ritzen schabt. Das war meine meistgehasste Zwangsarbeit als Teenager, aufgebrummt Sommerwoche für Sommerwoche von meinem faul-verzweifelten Vater, und hätte ich nicht zum rebellischen Gedicht gefunden, dem Sprachunkraut, ich wäre wie er oder wäre dieser Alte.
„Wagnis ist der Schönheit Wurzel.“ Boris Pasternak
Aus der Dotterblumenwiese sieht dich ein tausendfach stummes Publikum an. Worauf wartet ihr? Und worauf du?
Tausend offene Fenster
Wie herrlich und erregend, ein unvergleichliches, unvergängliches Gefühl: erfüllt von einem entstehenden Gedicht durchs Land zu reisen. Alles steht offen, Sinne und Welt, und durchdringt einander. Tausend offene Fenster dem Gedicht, und aus jedem ruft eine andere Stimme.
Der Mensch mit dem lautesten Lachen, das ich je hörte, ist ein junger Literaturprofessor. Sein immerplötzliches Gelächter schallt nicht, hallt nicht, es knallt, bricht donnernd aus seiner Brust und gewittert durch den Raum, der zum Saal dafür wird. „Ich war ein stilles Kind“, sagt er, „ich war ein weinerlicher junger Mann. Dann fing ich an zu singen. Dann wurde ich krank. Eines Tages begann ich zu lachen!“, lacht er so lärmend, dass die Schallwellen aus seinem Körperinneren herüberbranden, um in mein Ohr zu brechen, und jeder im Saal sich fragt, ob Gefahr droht (Tübingen, 16.7.).
Fake Empire
Peter Handke, „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“: „Glocke aus, Traum aus.“ – „Selbst die Entferntesten merken auf.“ – „Der helle leere Platz, in seinem Erinnerungslicht. Ein kleiner Augenblick Schmetterling (oder Nachtfalter).“
NEMESIS Fresh Fruit Export NEMESIS
„Betreuer 1 bis 7, einmal für die 91!“
Es gibt keine Auswege aus dem Fake Empire, nur letzte, nach und nach auserforschte, ausgespähte Nischen innerhalb seiner Grenzen. Nicht einmal Grenzen gibt es, da nichts jenseits liegt. Liebende Verantwortung. Poesie. Musik. Austausch und Überlieferung. Erinnerungen an die Kindheit aller, jene „Enfance“, wie Rimbaud sie beschrieb. Es wird wieder eine Zeit kommen, reich wie sie, mein unerschütterlicher Glaube. Jetzt ist keine, keine Zeit, hier nicht und nicht dort, nirgends (16. Juli).
Keine Wolken mehr
„Meine Jacke ist warm wie der Sommer“, sagt das Kind.
Lass die Kirche nicht im Dorf!
Und als ich müde aussah, sagte das Kind: „Du hast Augenrinde!“
Der kreuz und quer von Kondensstreifen durchzogene Abendhimmel – als gäbe es keine Wolken mehr. Als wären sie abgeschafft worden und die Zeit der Wolken für immer vorbei.
Das freie Segeln
Die Katze auf dem Scheunendach: abschüssiges Feld, vogelfrei.
Nach 22 Jahren zurück in Canow und Mirow – unverändert die Stille an der doch inzwischen von Motorbooten so überlaufenen Canower Schleuse. Auf dem Granzower Möschen zwischen Mirow und Müritz die Wassersportler beim Wassersport. Im Faltboot paddelt ein nackter Alter durchs Glitzern des Sees und lacht herüber: „Alles wird gut!“ Das hab ich vor 22 Jahren auch geglaubt. Es weiterhin glauben!
„Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert …“ (1. Timotheus, 1, 15)
Falladas Landschaft: die im Sommerwind rauschenden Wälder rings um Feldberg. Der Schmale Luzin türkisgrün, tegernseegrün, flaschengrün und durchsichtig bis zum Grund.
Zwischen Hagebuttensträuchern hindurch den Brennnesselpfad hinunter zum Seeufer, am Hullerbusch, im Seewind unterm Falladagrab (Carwitz, 10.7.).
Denk dir vor einer stillgelegten, umgebauten oder verfallenen Windmühle immer auch das Rauschen, Schnarren, Quietschen, Kreischen, das freie Segeln der früheren, einstigen, unsichtbaren Flügel im Wind dazu.
Taubenhaucher
„Es lebe die Freiheit! Hinauf, hinauf zum Schloss!“, lautete die Losung zum Hambacher Fest.
Zum ersten Mal sprach ich im Traum mit einem Tier. Eine Maus saß auf dem Balkon, und ich fragte sie: „Was machst du hier?“ – „Sieh zu“, sagte die Maus, „dass du selber verschwindest.“ Und sah mich an aus zwei goldenen Augen.
Ein Haubentaucher schwimmt unter dem Steg, auf dem ich stehe, hindurch, im Schnabel hat er einen zappelnden, grünen kleinen Fisch. Das Wasser glitzert, die Jungs und Mädchen springen lachend und quiekend hinein in den prächtigen Tag. „Ein Haubentaucher, ein Taubenhaucher“, sagt mein Kind (Neustrelitz, Glambecker See, 8. Juli).
Jacke der Erinnerung
Entsinnst du dich: die Zeit, als wir noch keine Augen brauchten? Die Zeit, als wir nur ahnten, aber nichts von uns? Nirgendwie. Die Zeit ohne dich und mich. Die Zeit, als der Frühling ein Jahr war. Die jahrelangen Sommer.
„Zersplittern. Ich fürchte, ich zersplittere.“
Die Kaschmirmomente?
Plötzlich sah ich meine alte, lange verschwundene, schwarze Jeansjacke vor mir, und auf einem Ärmel, meinem Arm, lag eine fremde Hand. Vor dem Schwarz der Jacke war die Hand ganz deutlich, schmal mit blondem Flaum. Es war die Jacke der Erinnerung (5.7.).
Edenkoben
„… das gütige Himmelslicht auf der Mühlgraben-
Mauer …“ (Michael Buselmeier, „Garten Eden im November“)
Feuer und Regen.
Geschmack deiner Kindheit: Rote Johannisbeeren.
„Immer wenn ich an dich denke, nehme ich zwei Stufen auf einmal.“ (Laut Peter Handke eine SMS an seine Tochter)
Überall in den Wäldern ums Hambacher Schloss wachsen Esskastanien, angepflanzt zur Zeit des Hambacher Fests 1832. „De Keschteburg“, die Kastanienburg, nennen die Einheimischen das Schloss.
„Ich weiß gar nicht mehr, wo die Maulbeerbäume stehen“, sagte die junge Frau, als sie in den Innenhof kam.
„Warum bist du so groß?“, fragt der Musiker auf dem Podium seinen Kontrabass.
Ein drei Zigaretten langes Lamento.
„Achim von Arnim.“ – „Ach, ich im Arm ihm.“
Das Wasserpolnisch!
Der Bosporussprinter?
„Und der Wind heult Marlies.“
Die Weinbergpferde
Hellblau auf dem Garagentor des Winzers steht: WASSER.
Der Blauglockenbaum. Und das Blau auf dem Rücken der Schwalben, die frei im Winzerhof leben. „Um die Mücken fernzuhalten.“ (Rhodt unter Rietburg, 27. Juni)
Der Winzer arbeitet im Weinberg mit Pferden, polnischen, weil sie leichter sind als Maschinen. „Weil sie das Wurzelwerk weniger belasten.“
Die Selbstpflücker!
Als Widmung in jedes Buch schreiben, gleichgültig (gleich gültig), an wen es sich richtet: „Danke für die schöne Nacht!“
Windhunde
„Jeder ist sich selbst der Fernste.“ (Nietzsche)
„Dem Herbste gelingt Nachbildung des Sommers: / Aber meine ganze Seel‘ ist ernst!“ (Klopstock, „Die Erinnerung“)
Flaubert riet Maupassant, einen Baum so lange anzusehen, bis er ihn anders sähe als alle anderen Bäume und ihm seine Unvergleichlichkeit bewusst würde.
Wenn der Wind auffrischt, sind die Windhunde nicht weit.
Chaplin soll einmal an einem Chaplin-Imitatorenwettbewerb teilgenommen haben und ist angeblich 19. geworden.
„Weißt du noch?“ – „Ich weiß nur, dass es ich gewesen bin.“
Das Feuer von Ranis
Die noch unter der Sommerhitze weithin überschwemmte Flur bei Bitterfeld.
Ein Kind fragt: „Heißt Bitterfeld so, weil es früher da so bitter war?“ – „Nein, es war schon immer so hier“, antwortet der Verbitterte.
Bei Halle liegt mitten auf einem ansonsten leeren weiten Acker der Stamm eines riesigen Baums.
Und dann das Feuer. Das Feuer von Ranis.
Die verwüsteten und verheerten Ufer der Saale, die wieder still und in der Sonne beinahe purpurn dahinfließt. Von der Flut gekappte Sträucher, wie Halme abgeknickte Geländer, Mülltonnen treibend im Fluss (23. Juni).
Jena Paradies: Auf dem Bahnsteig im Freien lauter Orientierungslose, Verstörte, Bestürzte und Weinende, die auf den Zug warten: nur weg aus dem Kummer.
In Bad Dürrenberg: Enten schwimmen auf dem überfluteten Fußballplatz.
Reine Herzen
Auf einem Karton im Kinderzimmer steht hingekrakelt: „Reine Herzen brauchen wir, und zwar schnell, jetzt und hier. Denn wir sind: Dämonen!“
Das Mobilitätszentrum?
Naturgesetz: Das hübscheste Mädchen geht zuerst, und kurz darauf der stillste Junge. Während der lauteste bis zum Schluss lacht (Ohlsdorf, 20.6.).
Die Fahrräder
Im Grunde bist du von Kopf bis Fuß, vom Scheitel bis zur Sohle, bist du ganzkörpertätowiert.
„Eine Excel-Tabelle ist nicht das Leben“, sagt der Unternehmensberater und lehnt sich damit sehr weit aus dem Fenster.
Sommer: Die Fahrräder liegen im Gras und funkeln mit dem Grün um die Wette (Lankau, 19. Juni).
Bei 35 Grad Hitze und Windstille regnet es. Die Tropfen tauchen lautlos in den silbernen See, und das Gewitter am Abend tastet sich um die Wärme herum, ohne sie sprengen zu können mit seinem weißen Flackerlicht. Die trickreichsten Gewitter sind die Juniunwetter.
Hiersein, Fernsein
In der Abendbrise klingt vom Nachbargarten immer wieder unvermutet ein Glockenspiel, ein Windspiel herüber, sodass ich an die sommerlichen Kuhglocken der Kindheit erinnert bin. Und der Freund, auch er aus Bayern, zitiert, zitternd leicht seine Stimme, einen eigenen Vers: „Hiersein, Fernsein, geschüttelt vom Hals.“ Wenn das Hier und die Ferne abgeschüttelt sind – so wie (sowie) die Kuh den Kopf schüttelt –, frage ich, was bleibt? Der Klang! (Sasel, 15. Juni)
„Fast totgeküßt“, schreibt Storm, habe der wilde Heinz Kirch die kleine Wieb.
Die alten Fahrzeuge – Autos, U-Bahnen, Lokomotiven, Motorräder –, Sinnbilder nicht nur dessen, „wie wir uns einmal bewegten“, sondern auch Inbilder dessen, dass nichts sich je bewegt. Alles bleibt, wie es ist. Nichts wird alt, es bleibt alles jung.
Für eine Viertelstunde an diesem 15. Juni war wieder November.
Versuch, einander zu fangen
Das Ulmenbüro!
ZUM ERSTEN MAL IN IHRER STADT steht auf einem Zirkusplakat am Straßenrand, und mir fallen die Städte, Kleinstädte ein, in die ich als Jugendlicher fuhr, um dort zum ersten Mal ein Mädchen zu besuchen: wie schön mir alles schien. Wie fremd! Wie sie.
Zwei Grasmücken versuchen einander zu fangen im strömenden Regen über dem Gartengrün – hin und her ein stummes, feines Schwirren, hin und her und zurück. Es will mir nichts sagen und sagt mir die Stunde (13. Juni 2013).
Ebenbürtige Schatten
Storm. Vergiss die Vorurteile, die Literaturbeurteilerei. Die gespenstischen, vorüberpreschenden Abgründe des „Schimmelreiter“ (sein „Billy Budd“) sind schon angelegt in „Immensee“. Verknappung wird Konturenschärfe, plastisches Licht. Und die Schatten ebenbürtig (8.6.).
Menschen, die es gar nicht gibt, die gibt’s.
Als eine schwarze Familie vorbeigeht, fragt das Kind: „Kann es sein, dass hier viele Amerikaner unterwegs sind?“
Unermesslicher Reichtum: ein Schulfest.
„Jeder sollte sein Gefühl immer als Ausdruck auf dem Gesicht tragen“, lacht das Kind (Wilhelmsburg, 9. Juni).
Der Träumer – einer, der treu bleibt.
Greif nicht gleich zu!
Im Traklpark. Der Inn ist weggezäunt, das Grün kinderspielgesichert. Und einen neuen Trinkbrunnen gibt es, funktioniert aber (noch) nicht. Ich trinke Gottes Schweigen. Mein Schreiben, weiß ich hier, ist nie bloß dem Leben, den Tagen und Erinnerungen gefolgt, immer war es auch andersherum. RISE hat jemand auf den verwitterten Stromkasten gesprüht. Und vorhin, in der Nachmittagssonne, war es schön, zum ersten Mal in 28 Jahren jemanden auf den Bänken sitzen zu sehen: zwei Engel, einen jungen schwarzen und einen alten weißen.
Ja, die Dichtung ist ein Sonderangebot, allerdings. Allerdings unverkäuflich, nicht käuflich. Ein besonderes Angebot, wie ein in der Sonne blinkender Johannisbeerstrauch eher zum Ertasten und Bestaunen da, auch zum Pflücken und Schmecken dann. Greif nicht gleich zu! Sieh lieber erst hin.
Am frühen Morgen das Fenster öffnen, nicht um frische Luft, sondern die Geräusche des neuen Tags hereinzulassen.
Uferbäume
Die unterspülten Jahrmarktzelte auf dem verlassenen Vorplatz; das überschwemmte Parkhaus am Würzburger Mainufer; silbern in der Sonne, voller Wasser und Vögel wie Reisfelder, die Getreideäcker vor Augsburg; verschlammt und krokodilgrün die Isar in München; von der Rosenheimer Mangfall wegradierte Uferbäume; rot aufgewühlt und tobend der Inn bei Wörgl.
Im Zug durch die Berge liest eine Ordensschwester „Das Hohelied“ (6.6., Kufstein).
Licht ist eine Stille
Durch die Baumkronen tauchen hunderte Krähen, die Meute geflügelter Wipfelhunde. Licht ist eine Stille. Im Schatten krächzendes Gebell. Unterm Parkgewölbe hängen lauthals grüne Hütten.
Lärmend schreitet der alte Nachbar mit seinem neuen Rasenkantenmäher ums Haus. Alles kappen.
Wenn Storm durch den Schlosspark gegangen kam, sangen die Pferde der Husumer Ringreitergilde ihr altes Lied. Und Storm summte es nach, schrieb es aber nicht auf.
In Tönning
Der Apotheker von Tönning: Zacharias Ludwig Ütö.
Aus dem rosigen Dunst über dem platten Dithmarscher Land tauchen Fabriken und Raffinerien auf, fünfzig Türme und Moscheen einer Stadt an einem Meer, das in der Luft hängt (Heide, 31.5).
Der Schlickschlamm!
Der alte Seebär, der am Eiderufer aus dem Bootsschuppen tritt und dessen Blick sofort den Fluss entlangwandert. Ein kleiner Dampfer hat stromaufwärts festgemacht, zwei Kilometer entfernt. „Is dat Schröder?“, ruft der Alte zur offenen Tür hinein. Und von drinnen antwortet ein Anderer: „Jau, dat is Schröder.“
Ein Wegweiser am Tönninger Ortsausgang: Welt 11 km
Wir: „Lachmöwen!“ Die Vögel: „Lachmenschen!“ – am Eidersperrwerk, Eideröffnungswerk (1.6.).
In der Welthauptstadt des Winds, wer ist dort Bürgermeister?