Lichte Wege

München, Hauptstadt meiner Kindheit, des Freistaates ICH, Stadt, in der ich lesen lernte, oder verstehen, dass ich lesen konnte: die Leuchtbuchstaben auf den Dächern am Stachus, mit einem Mal bedeuteten sie nicht allein Licht, sondern lichte Wege, Wegweiser, und ich entschied, ob ich folgte oder nicht (Schwabing, 25. Oktober).

Pferde in den Straßen, Schimmel mit Scheuklappen und grünen Filzkappen über den Ohren – München.

Wie du

Das kleinste Zimmer, das ich je hatte: München, Schellingstraße, Hotel Hauser, Hotel Kaspar Hauser, kaum größer als ein Sarg, aus-ein-an-der-zu-schrei-ben.

„Warum liebst du mich nur so? Ich hab das nicht verdient.“ – „Ich lieb dich ja nicht, weil … nur dafür, dass du bist, wie du bist.“ – „Aber wie bin ich denn?“ – „Du, wie? Wie du.“

Der junge Obstverkäufer muss lachen, als auf dem Display seiner Kasse der Preis für den Apfel erscheint, den ich mir ausgesucht habe: 735 Euro. „Eindeutig Adamsapfel!“ Bestimmt meint er den Apfel am Baum der Erkenntnis.

München, China

Endlich, Dämmerung, und ich im Englischen, im endlichen Garten, nach 47 Jahren am Chinesischen Turm, von dem schon immer ein Ölbild im Wohnzimmer meiner Eltern aus meinem Leben ragt. Ein Hund rennt auf den Isarwiesen, der „Liesl“ heißt, Krähen, die einander rufen („Rabe! Rabe!“), und Kinder toben unter der Pagode durch: „China! China! Wir sind in China!“ (München, 24.10.)

– „Kinder, kaum größer als Schwertlilien“ (Reinhard Kaiser-Mühlecker, „Roter Flieder“)

Im „Türkenhof“ unter dem hölzernen Flügelpaar – weißt du noch? – die gleichen Gesichter, dasselbe Bier wie vor 22 Jahren – Edelstoffe! Eine Ältere führt ihre neuen Stiefel vor, die Jüngeren gehen vor die Tür, rauchen. „Bachelor“, „Master“, „China, ein Monster!“, „… wenn du erfolgreich sein willst …“ Hört auf, erfolgreich sein zu wollen. Ihr werdet nicht erfolgreich sein.

© Foto: Bayrische Schlösserverwaltung

Duisburg, Ohio

Hellblau illuminiert, der Abendnebel überm Haus der Baustoffindustrie, und hinter den Glasfassaden des Lehmbruck-Hauses stehen die Plastiken und blicken hinaus in den Park, wohin Hunde ihre Besitzer führen (Duisburg, 23.10.).

Am Morgen nach der Lesung aus Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ spricht mich am Duisburger Hauptbahnhof ein Unbekannter an, den ich erkenne. In der Innentasche seines Parkas sitzt ein Nagetier – Hop Higgins, Nachtwächter und Frettchenzüchter aus Andersons „The Teacher“. (Zufall – Sprache der Welt!)

Ins nervöse Leere laufende Hektik der Uniformierten im dunklen Anzug, wenn das Smartphone aus dem Netz fällt, wenn – Hilfe! – der Kontakt abbricht!

Weg

Da stehen sie, die großen Bäume in der Nacht, im Sprühregen wie unter Wasser. Horch auf die Wildgänse, wie sie aus der unsichtbaren Dünung rufen: „Sommer, Sommer, aus und vorbei!“

Ein einzelnes Ahornblatt taumelt vom Baum zu Boden, ins nasse Gras, und bleibt liegen. Wie tot. Tot. (Wind rüttelt daran, hebt es auf, weht es fort. Trägt es weg. Weg.)

Unnachgiebigkeit

In der U-Bahn jammert ein Mädchen: „Warum bist du so, Mama?“ Aber die Mutter, Russin, bleibt hart, unnachgiebig, dass es wehtut schon beim notgedrungenen Lauschen. „Was ist das, ein ,Straflager‘?“, will die Kleine wissen, als sie den Ausdruck auf dem Bildschirm des Fahrgastfernsehens liest. „Ein Gefängnis“, sagt die Frau, „in Russland aus Scheiße und Schnee. Ich will nichts mehr hören!“ (Hamburg, 22. Oktober)

Puppen und Pappeln

Im Auswandererhaus die lebensgroßen Puppen in Mänteln, die an einer Pier zwischen Kofferbergen stehen, unter der nachgebauten Bordwand eines Amerikadampfers: Bewegt sich einer aus deiner Besuchergruppe, kannst du wenigstens für Augenblicke nicht unterscheiden, ob nicht auch du selbst fortgehst, ohne zu wissen, wohin (Bremerhaven, 21.10.).

Pappelreihen im kühlen Sonnendunst über den Flussschleifen der Lesum, als säße am Ufer Sisley und malt einen Oktobertag bei Bremen.

Autobahnschild: „Müllfabrik – Universität folgen“ (Bremen-Schwanewede)

Ins Gesicht

Wortspielchen der Macht: Eine „Romnesie“ attestiert Barack Obama seinem Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen Mitt Romney – und will so wohl ablenken vom eigenen Gedächtnisverlust – Guantánamobama.

Die warme Herbstbrise, die dir ins Gesicht weht, wie viele glückliche Erinnerungen sind darin! (20.10.)

Vertrauter Klang: Aufheulen eines Kindes nach dem stumpfen Schlag (ins Gesicht).

Daheim

In hilfloser Euphorie die Fernsehwissenschaft, das Infotainment. Jeder Käfer lässt verzweifeln, kein in Stücke springendes Glas Wein verrät, warum es zurückstrebt zur Ordnung – und, wie gleichmütig, alle Teile fahren lässt.

Daheim: da, Heim – wo der Lärm nicht alles niederwalzt und gleichmacht, sondern jedes einzelne, noch das leiseste Geräusch zählt (bis unendlich).

Erster Schreibtag seit zwei Jahren oben, unterm Dach, im Ballonkorb der Mansarde. Sonniger Oktobertag – draußen das unvermutet wieder aufgeflammte Geschwirr von Fliegen, Wespen und Scheinwespen. Die Unabhängigkeitserklärung von dem einen Schreibtisch: Wann, wo hast du sie unterschrieben? (19.10.)

War

Beim tagelangen Wiederhören der frühen Alben von U2 mit einem Mal der Gedanke, als Frage an dich selber: WAR es ganz anders? Sind dieser seltsame Josua und die biblischen Erzählungsschnipsel deiner Gedichte seinerzeit (in den „Traklpark“ aufgenommen „Klee“, „Trinitatis“ und „Die Erlöserkirche von Lohbrügge“) etwa aus den Songs von damals genommen, hat dich „The Joshua Tree“ so tief bewegt? Die Gedichte entstanden alle in der Zeit, als du „War“, „The Unforgettable Fire“ und „The Joshua Tree“ (1983 – 87) hörtest, als U2 Landschaft, Überlieferung, Erzählen noch einmal zum Klingen zu bringen versuchten, ehe mit „Achtung Baby“ Zeitgeist und akute Politik Einzug in Songs und ihre Strukturen hielten. Ist dein Gedicht viel mehr Antwort, ja, Reaktion, als du es wahrhaben wolltest und wahrgenommen hast?

Foto © U2 „War“, Island Records 1983, Coverfoto von Ian Finlay

Angstmüll

China, das sei ein einziger großer Müllhaufen, ein Reich, das zerbrechen müsse, sagt über sein Heimatland der Exildichter Liao Yiwu. Seltsam respektvoller Hass, nacheilend schimpfender Gehorsam, der aus solcher Drastik spricht. Ist sie von Albträumen genährt? Beinahe nur Albträume sind es, was mir bleibt von den Wochen, nicht Jahren, nicht Jahrzehnten, in China – in Shanghai, in Hangzhou. Müllhalde meiner Eindrücke, ja. Kanalisation einer verfallenden Wasserstadt, durch deren von Krabben und Spinnen bewohnte Kloake ich krieche, um am Ende kopfüber in ein Erdloch gerammt zu werden, bis mir mein Blut den Schädel sprengt. Was kann das bedeuten? Es ist Angstmüll, herausgeschmuggelt aus einem Reich der Ordnung, an dem wir alle bauen (18.10.).

Dort nicht, nicht da

Trockene Herbstkälte der Nacht – früher Oktober. Lautlos blinkend kommen die letzten Maschinen herein. Laub, das am Morgen in den Pfützen schwamm, bricht knisternd, wie Krebskrusten an einem Strand, unter deinen Schritten in Stücke.

Dort nicht, nicht da und nicht unterwegs, hin, her, – hier noch am ehesten kannst du leben.

Ein Rätsel

Ein kleiner Junge mit langen blonden Haaren sitzt allein am Tisch im Großraumwaggon, alleinreisendes Kind, unterwegs zwischen Städten, in denen, einer hier, einer dort, seine Eltern leben. Abwechselnd blickt er aus dem Fenster in die Nacht, in die Leere der Beschäftigungslosigkeit, die Gesichter der Erwachsenen (auch meines). Sie geben ihm das immer gleiche Rätsel der Gewissheit auf (14.10.).

Ruhebereiche

Ruhebereich: Zwei ältere Paare sitzen einander im Zug gegenüber, ein Mann und seine Frau erzählen vier Stunden lang ohne Unterlass Erlebnisse, Gedanken, Gefühle, von Bekanntschaften, Plänen, Versäumnissen, Kindern, Haustieren, Zimmerpflanzen. Die anderen Zwei hören zu, hören hin, schweigen duldsam, mit durchlöchertem Gesicht. Richtet Erzählbereiche ein! Lasst sie aufeinander los, die Erzähler, sollen sie quasseln.

In Frankfurt an einem Buchmessenabend erwähnt der niederländische Autor Otto de Kat, dass schon am 11. Juli Rutger Kopland gestorben ist – der Tag, als ich durch stundenlangen Regen nach Karlsruhe fuhr und dort allein in dem verwaisten Bahnhof stand. Mit Kopland, dem Dichter und Schlafforscher, standen Hendrik Rost und ich vor fünf Jahren in seinem Garten in Glimmen bei Groningen, sprachen über unsere Übertragungen seiner Gedichte, auch über „Boomgaard“, „Obstgarten“, mein liebstes von ihm. „Sehen Sie, dort drüben“, sagte er einmal in seinem wundervollen Deutsch zu mir, obwohl er deutsch zu sprechen nicht mochte, „die Bäume jenseits des alten Zauns – das ist er, mein Freund der Obstgarten.“ (13. Oktober)

Obstgarten

Wörter wissen von sich selbst nicht, wozu sie
gemacht sind – und so ist es mit allem auf der Welt
nichts weiß, wozu es da ist
und auch wir wissen es nicht

ich schau aus dem Fenster in den Obstgarten und seh, wie
Wörter für Vögel, Bäume, Gras, für das, was dort ist
dort nichts bedeuten und auch der Obstgarten selbst
hat keine Bedeutung

in meinem Kopf sucht jemand nach Wörtern für
etwas, das noch kein Gefühl ist und noch kein Gedanke

und langsam beginn ich zu fühlen und zu denken
dass auch der Obstgarten danach sucht – dass wir
dasselbe suchen, der Obstgarten und ich

Rutger Kopland

Fluchten

Vergiss nicht, morgens kurz nach sechs, den rosigen, manchmal gar goldenen Schimmer über den noch leeren Straßen und Gehwegen zwischen den Türmen, wo schon die Spritzwagen fuhren. Eine Vogelluft und Vogelstille – doch selbst Spatzen und Tauben wussten, was bevorstand, und waren lange geflohen, um Atem zu schöpfen in umzäunten Parks (Erinnerung an Changning, 10.10.).

Mit einem Korb vorm Bauch geht eine dunkle junge Frau, vielleicht Türkin, durch den Waggon und ruft, nein singt herzerweichend: „Brezel! Frische Brezel! Wer möchte eine Brezel?“ (Göttingen, im Zug nach Frankfurt)

Von der Messe geflohen, über die Brücke, am Main lang, zu den Bildern (im Kummermuseum), den Bildern im Städel: Mit zweifelndem Blick folgte mir Franz Pforr durch die Säle. Und mit unseren 220 Jahre alten Augen sah ich drüben am anderen Ufer im Regendunst den Wolkenkratzer der Europäischen Zentralbank in die Höhe wachsen und zugleich schon dastehen als Ruine (Frankfurt, 11. Oktober).

Bild: Franz Pforr (1788 – 1812), Selbstbildnis (1810); Städel-Museum Frankfurt am Main

Drei Zimmer im Haus des Gedichts

Richte dich ein in der Vergeblichkeit (– ihre Zimmer sind die des Gedichts).

Der Nachthimmel über den Wohntürmen und Wolkenkratzern von Changning war ein einziger Lichterdunst, blaugrau und milchig. Sterne – keine, oder, sehr selten, ein einzelner, sehr starker (welcher?), wie ein still über Shanghai stehender Satellit. Im dunklen Garten brauchen die Augen Minuten, um die Plejaden zu unterscheiden. Orion ist nah, er wird aus Nordosten kommen (9.10.).

Der greise Nachbar streicht mit dem Handteller zärtlich über die Hecke: ein Tasten, um zu erfühlen, wann der nächste Schnitt fällig ist.

Tulpe und Taschenlampe

Da ist es wieder – zum Glück! –, das Ächzen, Knispeln, Rasseln und Surren eines durch die Dämmerung rollenden Fahrrads, das noch Fahrrad ist.

„Ich bin eine Tulpe“, sagt meine Tochter, als sie einen Poncho überzieht. – Ja, das bist du, Tulpe, ein Mädchen, ein wildes Kind.

Ein alter Bekannter: Taschenlampenlicht streicht im Dunkeln über die tropfnassen Brombeerhecken.

Verlorener Tag

Verlorener Tag: acht Stunden lang im Auto zwischen Asphalt, Blech, Beton und Zement. Ein Feld voller in der Sonne blinkender Regentropfen auf Kamilleblütenblättern; der Flickenteppich der Maisebene zwischen Bremen und Diepholz; und die im Oktober absaufenden Auen der Weser – wiedergefundener Tag (Lemförde, 6.10.).

Ein Schiff, zwei Züge, ein Besen

Vergiss nicht, wie du zu erklären versuchtest, Hände ringend, was das ist: die „Neige“, das „Verdrängen“. Zu verdrängen – vergessen zu wollen. Auch ein Schiff verdränge, es verdränge Wasser. Ein Schiff, fragten sie, wolle das Wasser vergessen?

Der Schriftsteller Martin Walser hat im Zug sein Tagebuch verloren, sein Verlag bietet 3000 Euro Finderlohn dafür. Dem Dichter Robert Walser kam einmal im Zug ein Koffer abhanden, in dem sich auch die Manuskripte zweier Romane befanden, und klagte nicht.

Übers Haus hinwegfegender Besen aus Staren

Immer vor der Nacht her

Gestern irgendwann, irgendwo zwischen Jekaterinburg und Minsk, sah ich aus dem Flugzeugfenster die grauen Felsenweiten, die Pisten entlang der Flussschleifen im Ural. Dreißigstündiger Tag! Ich flog immer vor der Nacht her, vom Sommer in den Herbst. Drei Säuglinge im Jet, die keine Minute lang schliefen. Der Regen, das gelbe Hamburger Laub, Stille und wenige Leute allein unter den tropfenden Bäumen dahingehend (4.10.).

Morgen der Herbst

Noch einmal kehrt der Sommer zurück nach Shanghai. Und auch ich kehre zurück, morgen in den Herbst.

Säuberung eines Brunnens, groß wie die Sonne-und-Mond-Turmuhr an der Hamburger Jakobikirche. Zwei Männer und drei Frauen (mit Strohhüten) brauchen fünf Minuten dazu. Einer am Rand überwacht sie, zupft gelbe Blätter von der Heckenumfriedung. Die Frauen gehen davon, die Männer jeder einmal im Kreis um den Brunnen, wie Zeiger (Changning, 2. Oktober).

Noch bin ich zehn Kilometer entfernt, aber sehe schon die schwarzen Schwaden. Dann rast der Bus hinein in die Säule aus davonschwärendem Qualm. Unter der durchs weite Küstenflachland strebenden Huaxia-Autobahnhochbrücke brennt eine Lebensmittelfabrik. Die überrußten, im schwarzen Rauch verschwindenden roten Leuchtstoffschriftzeichen auf dem glühenden Dach sind das Letzte, was ich von Shanghai sehe (3.10.).

Langsam gleiten Frachtschiffe über die Rollbahnen des Pudong-Flughafens. Habe ich dich doch noch gesehen, Jangtsekiang.

Baisha

Ich stand vorn an der Scheibe neben dem Fahrer. Der Nachtbus nach Changning war voller Leute, ein rollender Platz des Volkes. Dass er ein Trolleybus war, bemerkte ich nicht deshalb, weil es keinen Schaltknüppel gab, ich sah es an dem kleinen dünnen Mann mit der Packung Baisha-Zigaretten in der Brusttasche über dem riesigen Lenkrad: Nicht er fuhr den Bus, sondern der Bus fuhr auch ihn.

„Die Liebe“, sagt eine Chinesin zu mir, „Liebe gibt es in China erst seit ungefähr vierzig Jahren.“ 1972 – das Jahr der Erfindung der Liebe in China? „Jahrtausende lang“, sagt sie stolz, „spielte so etwas wie Liebe beim Heiraten und Kinderkriegen in China keine Rolle.“ Das Mittelalter. Die Romantik. Die Zeit! Der Taumel (1.10.).

Dann los!

„Wo ist mein Zuhause?“, fragt die Taiwanesin mit dem schönen Hut, die jahrelang in Berlin lebte, ehe ihr Mann nach Shanghai versetzt wurde. „Was ist das, Heimat, können Sie das sagen?“ – „Mein Zuhause, fürchte ich, ist das Gedicht.“ – „Die Poesie, meinen Sie?“ – „Nein, ich meine das Gedicht.“ Und hätte sagen können: „… einen Raum wie Ihren Hut.“ (Xujiahui, 30.9.)

Asservatenkammerkonzert

Mit deiner Ernsthaftigkeit, Leidenschaft, Liebe, deinen Zweifeln und deiner Kritik – woran, wozu, wofür? – bist du allein. Shanghait in einem Trolleybus voller Leute zwischen dem Platz des Volkes und dem Zhongshan-Park, dem Park der endlosen Stille.

Stinktofu

Ich fragte die Pappeln, ob sie mitkämen in die Kindheit, und sie antworteten: „Ja!“ – „Dann los!“, rief ich, und sie rauschten, und die Blätter im Wind zeigten ihre silbernen Knie (1. Oktober).

Das Periskop

Es wird immer gespenstischer: Der Mars-Rover „Curiosity“ hat auf dem Roten Planeten Bachkieselsteine fotografiert. Abwarten, bis er den ersten Autoreifen findet.

Ein Hochhaus voller kaltem Rauch. Jeden Morgen die leeren Bierdosen im Badezimmermülleimer.

Tagtäglich stehe ich an dieser Kreuzung, umgeben von Tausenden, umtost vom wogenden Verkehr und doch allein auf hoher See: ein Periskop (28.9.).

Die Schnittwunden der Diskurse

Am Vorabend des Nationalfeiertags und der „Goldenen Woche“ warten die Ausflugsziele vergeblich auf Besucher. Für die Straßenverkäufer und greisen Einwohner der alten Wasserstadt bin ich das Erstaunlichste. Nicht mal an Touristen wie mich zu verscherbelnde Ming-Dynastie. Ein kleiner Hund schläft in seinem Käfig, einen Sprung entfernt von einer jahrhundertealten Pflasterplatte, die einen jagenden Hund aus Stein zeigt, Land, das es nicht mehr gibt, den Fluss, heute eine Kloake (Fengjing, 29.9.).

Foto: Huichuan Lu, Changning, Shanghai

Drei Drachen

Jeder Abschied ein Beginn. Die Abschiede beginnen (27.9.).

In der Dämmerungsstunde stehen am Himmel über Changning drei grün wie die Taxis der Stadt blinkende Lichter. Wohin verschwinden sie, sobald es dunkel wird? Tags scheinen dort oben, doppelt so hoch wie die Wolkenkratzer, drei Drachen zu schweben. Doch Drachen sind es keine.

„,Amnestie‘ geht das Flüstern im Gras: ,Amnestie‘.“ (Tomas Tranströmer)

In den Stunden, ehe die Nacht kommt, spielt seit drei Wochen unter dem Fenster der CD-Verkäufer auf seiner Rikscha dasselbe, immer nur dieses Lied. Wie seltsam, dass sie nicht schal wird, die Endlosmelodie! Wie seltsam, dass ich, vor genau zwei Jahren, dort war, auf dem „Scarborough Fair“, von dem die alte englische Weise handelt: Zwei Liebende geben einander nicht endende Rätsel auf um „parsley, sage, rosemary, and thyme“.

Chauffeure

Der Dichter Z. ist Gentleman und Galan in Vollendung. Noch wenn er ein Buch signiert, kalligrafiert er. Er besitzt einen schwarzen Buick, in dem im Nieselregen ein Chauffeur auf ihn wartet, mit dem er nicht spricht. Kennt der Chauffeur die Gedichte von Z.? Der Dichter erzählt von dem Exildichter Y., seinem Freund. Kennt der Chauffeur die Gedichte von Y.? Ich denke an den Fahrer mit der 07 auf dem Rücken: Der Zufall wollte es, dass er mich zweimal mit seiner Elektrorikscha durch Zhujiajiao chauffierte. Wo war er am 4. Juni 1989 während des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens? Liest er Gedichte? Die Gedichte von Y., von Z.?

Gespräch in der vollgerammelten Metro über Nietzsche, Wittgenstein, Fukuyama, Rorty, den chinesisch-japanisch-taiwanesischen Inselkonflikt, über Obama, Biotechnologie und Jesus Christus. „Are you a believer?“, fragt mich der junge Doktorand der Tongji-Uni Herr Xu, als wir eingequetscht am Platz des Volkes eine Rolltreppe hinauffahren. Er ähnelt einem dickens’schen Bestattergehilfen und trägt ein schwarzes Pink-Panther-T-Shirt (Hongkou, 25.9.)

Der dreißig Geschosse hohe Turm der philosophischen Fakultät. „Wie heißt das Gebäude?“ – „We call it in general building.“ Wir nennen es im Allgemeinen einfach nur Gebäude. Es klingt, als sagte Herr Xu: „We call it the general beauty – Wir nennen es die allgemeine Schönheit.“

Changning/长宁

1/一
Wenn die Vögel anfangen zu sprechen, sprechen sie Mandarin.
当鸟儿开口说话时,它们说普通话。

Sie werden sich beklagen, dass sie uns gleichgültig sind,
您会抱怨,它们对我们漠不关心,
wir ihre Küken in Karamell tauchen und essen am Stiel.
就像雏鸟潜身太妃奶糖并在枝桠上啄食一样。

Achtet auf ihr Schweigen! Klingt es nicht vorwurfsvoll?
小心它们的缄默!听起来难道不是充满了谴责?
Zehntausend Dynastien alt, das Sperlingsgedächtnis.
千朝万代般古老,那麻雀的记忆。

2/二
Der Lärm aus den Platanen scheint eine Aufgabe zu haben.
梧桐发出的噪音好像带着一个任务。

Durch das Knarren der Zikaden fällt als künstliche Nacht
拨浪鼓般的蝉鸣让人工之夜的静藹
die Stille auf den Zhongshan-Park, und wir unter Bäumen,
悄然降落到中山公园,我们站在树下,
stumme, hektische Falter, müssen lesen im Schattenbuch,
无语、紧张地皱眉,要在树影之书中阅读,

in Gesichtern der für alle Besinnung Verlorengegangenen.
读出那些已在脸上悄然失踪的念想。

3/三
Tanzen wir! Wie schwarze Falter, für die Zeit Musik ist,
起舞吧!如黑暗中的皱眉,当乐声响起时,
taumeln wir übers Pflaster, brechen durch die Masken,
让我们在石子路上踉跄吧,撕下那些面具,
fliegen als schlafende Kiesel durch verlassene Pavillons.
像沉睡的卵石一样飞越被遗忘的凉亭。

Wir werfen unsere Kinder, werfen sie hoch in die Luft!
我们把孩子们抛出去,高高地抛向空中!
Türme aus Erinnerungen bauen sie, wenn sie fallen,
当他们落下,他们建起的是记忆之塔,

doch wir fangen nur den Sockel, den schwarzen Stiel.
但我们只抓到那个底座,那黑色的枝桠。

Für Wang Anyi
献给王安忆

Ins Mandarin-Chinesische übertragen von Gan Wei

Pappbecher und Fischköpfe

Die elfte, die Atemschutz-, die Ansteckungsangstmaske

Die ganze Familie, drei Generationen, säubert auf der Gasse kleine silberne Fische zum Verkauf. Ihr Fischköpfe verschlingender Hund sieht aus wie ein Fisch (Dongtai Lu, 24.9.).

Auf der Madang Lu in Xintiandi, Shanghais Straßenschickeria wie in Rio, New York, Berlin oder St. Petersburg, hohler als ein leerer Pappbecher. Fassadenverbraucher in ihrer Beschaulichkeitskulisse, wo nichts ein Drama ist.

Aus dem Loch gedrückt, um die Ecke geschnellt, die Rampe herabgerollt, wie die Bälle im Flipperautomaten kommt nachts ein grün beleuchtetes Taxi nach dem anderen die Huichuan Lu nach Changning heruntergefahren (25. September).