Der Grund, in einen See zu springen

Auf dem kalten Bahnsteig steht abseits ein einzelner Mann, bärtig, Moslem anscheinend, und brüllt zum Himmel. Unmöglich zu entscheiden, ob er krank ist, verzweifelt oder bei sich, „sane enough“, wie Pound es nennt. Warum das überhaupt entscheiden wollen (Düren, 13.10.).

„Ich weiß nicht, wo ich morgen bin“, sagt die Nachbarin ins Telefon, und ich frage mich, ob ich weiß, wo ich morgen bin.

„Der Grund, in einen See zu springen, ist nicht, dass man so schnell wie möglich ans andere Ufer gelangen will“, sagt John Keats. Man möchte schwimmen. In einem See schwimmen möchte man.

Schatten und Kostüm

„Luftschatten“ gehören Ende der 1930er Jahre zu Ernst Ludwig Kirchners letzten Entdeckungen: Die Bewegungsräume der dargestellten Figuren setzen sich fort in der Luft. Doch die Luft wird zugleich, wie vorausgeahnt, dunkel. Das Schweizer Exil, das Leben in der Fremde als Schatten.

Die Besuchertage der Messe: Hunderte Jugendliche strömen in Manga-Kostümen auf das Gelände und lichten einander ab in den Posen ihrer Lieblingsfiguren, die sie selber darstellen – lebendig gewordene Fantasie, Ich-Gestalten (Frankfurt am Main, 12.10.).

Gravity

Wie weltfern, wie schwerelos: die literarische Gesellschaft im Römer. Ich bin dort ein Fremder, ein Randfreund, Bewohner schwerer, hartnäckiger, nicht aufzulösender katachretischer Zweifel. Nicht der einzige! Zweifler erkennen einander, zweifeln auch aneinander. Am folgenden Nachmittag: Einkauf in einem „Netto“-Supermarkt in der Taunusstraße. Gravity. An der Kasse verlangt ein Abgerissener in meinem Alter einen höheren Pfanderlös für seine eingesammelten Mehrwegflaschen. Mit respektvollen Flüchen schlägt ihn die Kassiererin in die Flucht. Alte in Hauseingängen. Mädchen mit Plateauturnschuhstiefeln hocken auf Stufen. Die verzweifelten Polizistinnenaugen. Schwere Welt, aus der ich komme, aus der ich fliehe, in die ich immer lieber zurückkehr (Frankfurt am Main, 8.10.).

SOS, SMS

„Seltsam, dass an den Straßen die Bäume in gerader Linie wachsen“, sagt das Kind. Und als die Anderen lachen, sagt das Kind weiter: „Seltsam, dass der Wind, der die Baumsamen trägt, am Straßenrand anhält.“

Um aus dem zerknitterten Wintermantel die Falten zu entfernen, lässt sie ein heißes Vollbad ein, hängt den Mantel an die Kacheln über der Wanne und wartet ab. Nach einer Stunde: keine Falte mehr da.

„S.O.S.“, sagt das Kind, „wenn das Save Our Souls heißt, dann heißt also SMS Save My Soul?“ Ja, mein Kind!

Jeden Morgen bringt mir der Apportierhund ein anderes Sofakissen … (Lemkenhafen, 5.10.).

Woran

Der Freund am Telefon … ringt um jedes Wort Poesie: Schnee bis in die Niederungen … Immer weiter … Vertrau dem Text … vertrau auf ihn: den einzelnen Satz … vertrau den Sätzen, nicht nur ihrer elenden Struktur.

„Woran bin ich mit mir?“ und „Woran sind wir mit uns?“, fragt, in einem Nebensatz, im Radio der Philosoph Martin Seel – und stellt damit die entscheidenden, notwendig aufeinander folgenden zwei Fragen, endlich!

Voll roter Beeren: die Ebereschenallee. Sommer für Sommer wachsender Windpark. Ein Pulk aus hundert Wildgänsen, der sich sammelt an der Südküste, um den Flug nach Süden einzuüben. Die volle Pracht der Sternbilder, wie Beeren am Baum des Himmels über Fehmarn (3. Oktober).

Haec scripsi

Der schreckliche Begriff Erfahrung: Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit verschlägt es mir die Sprache. Aber auch das, selbst das – ist ein Erlebnis (1.10.).

„Haec scripsi non otii abundantia,
sed amoris erga te.“
Dies schrieb ich nicht aus zuviel Muße,
sondern aus Liebe zu dir.
(Cicero an seine Tochter Tullia)

So weit entfernt von deiner Sprache – dem Gedicht, den Sätzen, allen Figuren – warst du zuletzt, ehe der Ernst begann. Sieh dir zu! Und das wolltest du aufgeben?

„Im Zweifel für den Zweifel.“ (Tocotronic)

Gelenkige Geschöpfe

Die alte Gutskapelle. Durch die Stille dringt Klaviermusik heraus. Durch den Türspalt sehe ich ein Mädchen mit langen blonden Haaren am Flügel sitzen und ins hereinfallende Licht blicken. Musik und Licht, Wind und Muße: Schon steht die Zeit still. Und wirklich ist das Mädchen, das uns lachend durch die Kapelle führt, die Nichte des Gutsherrn, geboren vielleicht 1995, sechshundert Jahre jünger als ihre Kapelle und zugleich ebenso alt (Barnstedt, 23.9.).

Was du an den Bäumen liebst: ihre grüne, bewegliche Vielgestaltigkeit? Und doch verwurzelt sein. Jeder ein gelenkiges Geschöpf.

Irgendwann muss ich es aufgegeben haben, von einem Ort, wo ich gern war (gern bei mir), einen Stein mitzubringen. Immer den Ort vergessen. Und selbst die Erinnerungsstütze, den Ortsnamen, den Tag, an dem ich dort war, hat der Stein ausradiert: unleserlich verblasste Schrift. Als würde der Stein helfen, den Ort vergessen zu machen. Gedächtnisversteinerung. Lebendig bleibt die Erinnerung nur in der Schwebe, unbeschwert, angereichert mit Erfindungen (26. September).

Die Gruppe

Als vor den Hotelfenstern die elektrischen Jalousien hinunterfahren — automatisch, es war Punkt 17 Uhr –, erlosch im Zimmer das Herbstlicht, die goldene Sonne, und kam nicht wieder (Frankfurt am Main, 21.9.).

Wie Giorgio Manganelli den italienischen „Gruppo 63“ charakterisierte: „Die Gruppe hat kein Manifest, keine Theorie, keine Orthodoxie, sie ist ein Club verärgerter Personen“, die obendrein unehrlich seien, was aber von großem Vorzug sei – genau so eine Gruppe bin ich.

In der Lüneburger Altstadt: Auf dem Dach eines geparkten Wagens sitzt eine rote Katze, und im Innern des Autos rätselt ein großer, verstört um sich blickender Hund, wohin sie verschwunden ist.

Der Junge, der Kritiker, der Alte

Der Junge ruft über die Straße einem anderen etwas zu, der aber fährt ungerührt mit dem Rad weiter. „Er hat dasselbe Rad, denselben Helm, dieselben Schuhe“, sagt der rufende Junge zu einem Freund, „und trotzdem ist er es nicht.“

Der Kritiker neben mir auf dem Podium hat die Frisur und Haarfarbe meines Großvaters. Ich kann ihm gar nicht zuhören, ohne ihm ins Haar greifen und es streicheln zu wollen, wie ich es zuletzt vor 39 Jahren, im Sommer 1974, als ich neun war, bei meinem Opa gemacht habe.

Der Alte öffnet mit einer Münze die Zentralverriegelung der viergeteilten Müllbehälterbox und entnimmt ihr so viermal schneller (ohne aufgegriffen, ohne des Bahnsteigs und des Hauptbahnhofs verwiesen zu werden) die gesuchten Pfandflaschen.

The entertainment of tears

Gegen den Kummer verwahren wir uns, wehren uns mit Händen und Füßen – richtig so! Mit Händen und Füßen, das heißt treten, boxen, aufspringen, rennen, zetern, Schreie. Weiterleben! Doch mich verschließen vor der Traurigkeit will ich nicht. „Welcome joy, and welcome sorrow“, sagt Keats. Der Kummer ist die Kehrseite. Die Traurigkeit lässt uns ausruhen: im Ernst. Unterhaltsame Tränen? Vergnügliche Verzweiflung? Der Tag ist nur die halbe Wahrheit (Neustadt in Holstein, 18.9.).

Im Schlepp

Hafen, Herbstsonne. Auf der Elbe stromabwärts stampft die „MT Rob“, ein in Valetta auf Malta beheimateter Schlepper, feuerrot, bullig, ein Ungetüm an Kraft und Sorglosigkeit. Und der „Rob“ hinterdrein stürzen hunderte Möwen, angelockt vom aus der Tiefe aufgewirbelten Wasser. Fisch! Krabben! Muscheln! Alles hat die „Rob“ im Schlepp, und, wie herrlich, mein Hamburch, deshalb ist sie ja ein Schlepper (Övelgönne, 16.9.).

„Dark Folk“ – düstere Folklore. Als wäre nicht alle Folklore düster. „Bright Folk“!

In der vergangenen Nacht wurde das Wrack der vor Giglio gekenterten „Costa Concordia“ aufgerichtet. 600 Tage lang lag die Steuerbordseite dutzende Meter tief unter Wasser. Verheert, farblos, schlicküberzogen ragt sie in den blauen Morgen. Hunderte zerstörte Kabinen. Die irgendwo im Kolossinnern verschollenen Toten. Das Wrack soll wintersturmfest gemacht werden, ehe man es im kommenden Frühjahr zur Verschrottung schleppt. Abringen dem hässlichen Tod sollte man die „Costa Concordia“, wirklich eine Küste, eine wirkliche Küste erobern. Aufmöbeln würde ich sie, koste es, was es wolle.

Zähl sie weg

Du mit deiner Shortlist-Nominierung. Und das heißt? What of that? Ecke Bundesallee / Augsburger Straße die Gestalten auf den Betonpollern, mit Bier, mit dem trüben Funkeln im Blick – bleib bei ihnen. Mit dem, was du kannst. Zähl sie weg, und du zählst dich weg. Lass dich ruhig auslachen von zwei im Kaufhauseingang sitzenden Mädchen, wenn du in deinem Trenchcoat vorbeieilst, irgendwo hin – sie haben recht (Berlin, 13.9.).

„Lächeln Sie“, sagt der Fotograf, „nicht mit dem Mund, den Lippen – lächeln Sie nur mit den Augen.“

Die Leserin erzählt von ihrem Vater, der im Sommer 1944 in Frankreich von Partisanen festgenommen wurde und mit drei Wehrmachtkameraden am Straßenrand erschossen werden sollte, zwischen einem Kübelwagen und seinem Motorrad. Er war Motorradmechaniker. Einer der jungen Partisanen aber weigerte sich, die Hinrichtung durchzuführen – und überzeugte seine Mitstreiter, die Deutschen stattdessen zu verhaften. Zwei Jahre lang, erzählt die Leserin, lebte ihr Vater daraufhin als Mechaniker in dem Dorf. Er starb vor zehn Jahren. Vor zwei Jahren habe sie einen Brief von dem früheren Partisanen bekommen. Der alte Mann schrieb, er wolle vor seinem Tod noch einmal bekräftigen, es sei die einzig richtige Entscheidung gewesen.

Zwei Tauben aus Sibirien

Déjà l’automne. Schon wieder Herbst. Gelbe Zweigspitzen an plötzlich ratlosen Bäumen. Werft die Äpfel ins Gras. Unter dem Wolkenmeer. Im strömenden Regen geht ein kleiner Junge vorbei, im Arm einen Geigenkasten, um den er seine Sommerjacke gewickelt hat. Die Liebe. Die sprechenden Bilder. Abschied. Von einem prächtigen Sommer.

In dem tropfnassen Baum vorm Fenster sitzen keine zwei Meter entfernt zwei aufgeplusterte Tauben und lassen sich nicht stören, weder durch die Nähe von mir Menschen noch meinen Zigarettenrauch. Sie blicken mich an, als hätten sie mich erwartet und würden mir erzählen wollen von einer langen Reise, und mir kommt es vor, als wäre ich zwei Stunden lang durch den Regen gefahren, nur um sie hier vorzufinden, zwei Tauben, vielleicht aus Sibirien, in einem Baum, im Regen, im Baum des Regens (Versmold, 10.9.).

Einsam ich

„Gemeinsam erfolgreich“ – Wahlslogan der Christdemokraten, zynisch und verlogen. „Einsam reich“ haben Graffitisprayer auf den Plakaten im Viertel davon übriggelassen. Doch um das verfluchte Geld geht es gar nicht. Die Verheerung greift viel tiefer, sie ist umfassend: „Einsam ich“.

Eine Auseinandersetzung mit dem neuen Roman – seinen Mängeln, Tiefen, Untiefen, seinem Erzählen, Verschweigen, Verschütten, den Figuren, dem Krieg, der Angst – findet kaum statt. Wie viel flexibler das Radio gegenüber den Feuilletons. Und jedes Minutengespräch nach einer Lesung, jedes noch so oberflächliche Interview verrät mehr über verbleibende Möglichkeiten zu Austausch und Vermittlung. Es ist der gute Weg. Wo der Einzelne wartet, da geh hin (5.9.).

Noch ist es nicht dunkel, aber lange dauert’s nicht mehr. (Dylan)

Wandspruch (Berlin): „Wenn ich du wär, wär ich lieber ich“. Ich, ich, ich: Wär ich ich, ich wär lieber du!

Die Zeit davor, die danach und die hindurch

Zwei Tage lang in der Ruhe – der von Musik erfüllten Ruhe – des Klosters inmitten von Feldern. Stille in der Sonne, Spazieren im Gezirp der Grillen unter Zwetschgenbäumen hin. Noch Tage später, im Hauptstadttrubel, im Festivaltaumel, hast du, wie einen inneren Schutzwall, warm von der darauffallenden Sonne, die Ruhe in dir.

Ein freundlicher Schrank mit zwei traurigen Augen, der Türsteher des Klubs, in dem ich am Abend lese. Am nächsten Morgen ist er tot, niedergeschossen, verblutet. Zu mir sagte er zuletzt: „Sie werden den Weg finden.“

„Es gibt eine Zeit. Und eine danach“, schreibt Horst Bienek. Aber es gibt auch eine Zeit davor, eine daneben, und ja, sogar eine Zeit durch alle Zeit hindurch gibt es.

Das Lesefest

Gestrandet in Würzburg – am Bahnhofsquader aus Glas und Zement die große Uhr, ohne Zeiger. Eine Straßenbahn rumpelt über den Vorplatz, an ihrer Seitenwand lese ich: „Energie. Verkehr. Umwelt.“ Plakate, vor denen und auf denen Jugendliche mit Smarthones die Zeit totschlagen, Werbung für ein „Freiwilliges Jahr“ – wo? Energie. Verkehr. Unterwelt.

Das Lesefest unter den Bäumen im Schlossgarten – eine Tautologie. Statt über Mikrofon die Stille zu vertreiben, hätten wir in den Kastanien lesen, lieber zuhören sollen, wie der Wind durch den Park geht. Fünfhundert, die zuhören, nichts Besonderem lauschen: Event der Eschen (Erlangen, 2.9.).

Geträumt?

Die Applausordnung!

„Der Stiefvogel“, ruft das Kind, „da sitzt der Stiefvogel!“

„Sie hat dich verlassen“, erklärt die Regisseurin dem Sänger dessen Rolle. „Du stehst da und singst – wie bestellt und nicht abgeholt.“ – „Ich werde singen“, sagt der Sänger, „singen wie nicht bestellt und nicht abgeholt.“

Zeitungsmeldung (geträumt?): „Heute in Berlin: Agonie.“

Die Erdungsstange?

Zwitschern, Segeln, Pausieren

Gestern Nacht ist Wolfgang Herrndorf gestorben, 48-jährig, drei Tage jünger als ich. Die Medien berichten, er habe sich aufgrund seines unheilbaren Hirntumors das Leben genommen, habe sich erschossen am Berliner Hohenzollernkanal. Seinen „Tschick“ haben unsere halbstarken Kinder gelesen – „krass“, „cool“, „derbe“, „korrekt“ – Dein Lob, Wolfgang Herrndorf, aus berufenem Mund. Hab’s gut! (Hamburg, 27. August 2013)

Während der Ensemble-Probe im Klosterpavillon, das Raunen der Musiker und Sänger, die Geräusche ihrer pausierenden Instrumente. Während der Ensemble-Probe das Raunen der Elektriker und Beleuchter, die Töne und Klangfolgen ihrer Werkzeuge. Während der Probe, der wilde Schwarm aus Mauerseglern und Schwalben, flitzt hin und her überm Klosterpavillon. Zwitschern, Segeln, Pausieren. Sie sehen alles, nehmen an allem teil.

„Wer nicht hört, fühlt“, sagt die Großmutter zu dem kleinen Jungen, nimmt ihm den Stock weg und führt ihn auf das Kiesbett unter einen Baum, wo sie das Kind stehenlässt. Der Junge versteckt sich hinter dem Stamm (mächtig gewordener Stock), „Du bist böse“, ruft er der alten Frau zu. Er hört, er fühlt. Er lacht (Volkenroda, 30.8.).

Flips und Fuchs

„Wie wäre es wohl“, fragt das Kind, „wenn die ganze Luft überall nach Erdnussflips riechen würde?“

Hinter einem Zaun an der Ausfallstraße versteckt sich ein Junge mit einem rotbraunen jungen Schäferhundmischling, der aussieht wie ein großer zahmer Fuchs. Wovor verstecken sich die beiden? Was für ein seltsames Spiel mit so wachen Augen (26.8.).

Ein feuchter Duft

Das Meckel-Divertikel-Dilemma?

„Ein feuchter Duft lag in der Luft, ein Duft von moderndem Laub, von dem trägen, gelben Fluß, der nicht weit entfernt dahinfloß, ein Duft, der ihm fast vorkam wie der feuchte Duft der Zeit selbst, wenn sie durch die Welt zog. Oder war es die Welt, die durch die Zeit zog?“ (Gustafsson)

Der Freund im dunklen Krankenbett, als ich das Licht lösche, lernt Hölderlins „In lieblicher Bläue“ auswendig.

Fliesen

„Er hätte es durchaus vorgezogen, nicht zu existieren, als zu existieren. Wenn ihn jemand nach seiner Meinung gefragt hätte.“ (Lars Gustafsson, „Nachmittag eines Fliesenlegers“)

„Umarmung!“ – „Sei du auch umarmt!“ – „Also umarmen wir einander!“ – „Fortwährend!“ – „Immer!“ – „Ja.“ – „Ja!“

„Alles war Welt, und nichts in dieser Welt war wirklich das Seine.“ (Gustafsson)

Ein tönendes Licht

„Ich habe immer das Meer an den Stränden geliebt. Und dann hat der Kramladen an den menschenleeren Stränden meiner Jugend zu blühen begonnen. Jetzt liebe ich nur noch die Mitte der Meere, dort, wo das Vorhandensein von Ufern unwahrscheinlich erscheint. Aber eines Tages, an den Stränden Brasiliens, habe ich von neuem erkannt, daß es für mich keine größere Freude gibt, als über einen unberührten Strand zu gehen, auf der Suche nach einem tönenden, vom Zischen der Wogen erfüllten Licht.“ (Camus, Tagebuch, 1953)

Was dachte ich da?

Jeder Tag will durchmessen werden – immer neues Stück eines namenlosen Gebirges. Weißt du noch: „Problem“? Laut Handke: das Vorgebirge. Jetzt aber gehst du schon so lange über diese Geröllhänge, und die Luft wird dünn (20.8.).

Die fallende Sekunde.

Deine Lesezeichen – nicht Zeichen, wo du beim Lesen stehen bliebst, sondern Zeichen, dass du etwas gelesen hast, was dir zu denken gab. Denkzeichen. Gezeichneter Gedanke. „Was dachte ich da?“

Die tote Leitung. Die lebendige Leitung?

Ausgänge, Eingänge

„Nie mehr Nacht“ als mein Buch von der Suche nach Auswegen (nicht Ausgängen, sondern Eingängen, würde Handke vielleicht sagen). Auswegen woraus? Kertész: „Die große Entdeckung der Neuen Prosa: die Eliminierung des Menschen aus dem Zentrum der Dinge. Eine qualitative Veränderung, die den Roman – aber auch das Gedicht – zum Text, zum reinen Text verwandelt, dem man das Subjekt gleichermaßen entzogen hat, wie die Sach- und Machtstrukturen der Welt das Individuum zerschlagen und auf bloße Impulse reduziert haben.“

Ausblicke

Von einem „Genesungsplateau“ spricht der Chefarzt. Mein Freund liege derzeit – unterwegs Richtung Gesundheit – auf einem Genesungsplateau. Von dort aus gehe es steil bergauf. „Ruhen Sie sich aus. Genießen Sie den Ausblick!“ (Altona, 16.8.)

Noch einmal Imre Kertész: Nach ihm (im „Galeerentagebuch“) gibt es nur einen einzigen Weg, das Unglück auszuhalten: „Die einzig redliche Art, mit der Sache fertig zu werden – und zugleich die einzig redliche Art des Selbstmords – ist: zu leben.“

Hindernis ich, Hindernis du

Sekundenlang hält die Taube im raschen Flug (Ausgang aus dem Garten) geradewegs auf dich zu. Flöge sie weiter auf ihrem Luftkurs, sie flöge dir in die Augen. Ein unmerkliches Schwingenheben oder -drehen langt, und sie steigt, fast die ganze Taube fliegt über dich hinweg. Denn ihre Augen setzen den Flug auf dich zu fort: in dich dringende Taubenblicke. Spiel mit der Welt, Hindernis ich (14.8.).

Ausnahmslos jeder ist – mit Muße betrachtet – seinen Angelegenheiten liebevoll zugewandt. Er lässt sich seine Dinge angelegen sein. Jedes Werturteil hier ist Anmaßung, Vermessenheit. Und daher auch weiß – oder ahnt – ein jeder, was Camus lediglich aufschrieb: Verletze einen, und du verletzt alle, somit letztlich dich.

Vom Schrott

„Wie der Mensch sich nicht für alle Ewigkeit in die eigene reale Situation hineinzwängen läßt, so vermag auch die Welt nicht endgültig Platz zu finden in dem Wort, das sie benennt.“ (Michail Bachtin)

„Die Maschine ist die Jugend des Schrotts.“ (Hellmuth Opitz)

Lider

Der müde Blick des Freundes im Krankenbett hellt sich fast hörbar auf, als er mich erkennt. Und immer wieder für ein paar Sekunden lacht er sogar. Ehe er erneut die Opiattaste drückt und das Rauschmittel den Schmerz davonspült. Wie zwei kleine Barken auf der Schmerzsee seine Lider.

„Lider“ auf „Lieder“, wer wagte das zu reimen! Marianne von Willemer in ihrem Abschiedsgedicht an Goethe – einer der wundervollsten (der an Wundern vollsten) Reime, die ich kenne.

Bauplan

Auf der Hundewiese flattert im leichten Wind ein aufgerissener Briefumschlag, darauf steht von Hand geschrieben: BAUPLAN. Und gemäht, die silbernen Blattunterseiten nach oben gekehrt, liegen die Brombeerbüsche auf der Erde. Vier Kinder kommen mir entgegen, mit einem großen, noch jungen, täppischen Golden Retriever an der Leine, der missmutig sein Geschäft verrichtet. „Hundewiese“, das einzige Stück verbliebenen Grüns in der Siedlung, halb wild, beinahe immer still, Ort für den Wind und für mich, um dort zu verschnaufen. Hundewiese, die Wiese als Hund.

Es fängt an zu regnen, und im selben Moment läuten vom Friedhof herüber Glocken. Kurz scheint es, als läute der Regen. Oder als fielen Glockenklänge flüssig, in Fäden, zur Erde. Man muss sich entscheiden, immer, jeden Tag, mit fast jedem Augenblick. Einer in mir aber will alle Möglichkeit zugleich. Und auch das, eine Entscheidung.

Nach Blanchot

Nach Maurice Blanchot steht das Absurde „in unserer Sprache da wie etwas Nacktes, das seine Gründe nicht kennt, ein Grenzzeichen, das sich weigert, zu dem von ihm Begrenzten zu gehören: ein unnachgiebiges Wort, das Abschied nimmt und gibt.“ Was gibt das Absurde?

Nachts donnern im Halbstundentakt die von den Feldern kommenden Mähdrescher durch die Ortsmitte, immer paarweise. Der Lärm hallt von den Hauswänden wider, und du hörst darin das Brüllen der abgemähten Leere. (Jüterbog, 5.8.)

Von einer schiefstehenden Trauerweide springen Kinder in den kleinen See. Die Felder rings liegen in der Abendsonne. (Biederitz, 6.8.)

„Das letzte Gold verfallener Sterne“ – ist Trakls Bild eines vom Leuchten oder eines vom Untergang? Vom Leuchten im Untergang? (7.8.)