Auf Madeira (3)

Noch am dritten Tag auf der Insel den Film der Unwirklichkeit auf den Pupillen.

Am Horizont ragen die Ilhas desertas, die Verlassenen Inseln, aus dem Meer – wie überall.

Heute gingst du einmal durch die Wolken. Und der Regendunst im Lorbeerwald sammelte sich und sprudelte herab durch die Levada. (Ribeiro Frio, 18.12.)

In Ponta Delgada die lärmenden Kirchturmglocken im Rauschen und Brechen der Atlantikwogen.

Am Morgen das Licht als hellblaues Meer.

Vor der Telefonzelle mit Blick auf den Ozean schläft ein Hund in der Sonne. (Campañiero, 19.12.)

Auf Madeira (2)

Wasser will überall Wasser.

Im Mercado dos Lavradores von Funchal liegen in der Fischhalle wie seit Jahrhunderten und wie die blauen Wandfliesen es zeigen die tiefschwarzen Degenfische auf den steinernen Tischen aus, das Maul voller Nadeln totenstarr offen, die lange wie gefiederte Schwanzflosse zu Boden hängend. Ein alter Brite fragt mich, ob ich wisse, wie der Fisch heißt, „Espada, scabbard“, antworte ich, und er sagt, indem er nicht mich ansieht, nur die übereinander gestapelten, beinlangen, gespenstischen Raubfische: „Mit so großen Augen müssen sie in sehr großer Tiefe leben. Dunkel ist es da“, sagt der alte Herr, „dunkel wie sie selber sind“, und er zeigt in einen niedrigen Raum unter der Treppe. Darin steht ein Arbeiter mit schwarz gesprenkelter Schürze und enthäutet die Degenfische. Weiß leuchtet ihr Fleisch.

Ein abgebrochener und in der Sonne auf dem Basalt liegen gebliebener Silberdistelzweig: Eidechse. Regt sich nicht. Hält die Luft an. Spürt deinen Blick. Wartet. Flieht durch ein Loch im Licht. Während du zwinkerst. (Ponta de São Lourenço, 17.12.)

Auf Madeira (1)

Der glatte Atlantik ganz silbern, ein leeres Blatt. Und die einzige dunkle Zeile darauf am Horizont die afrikanische Küste. (Funchal, Madeira, 16.12.)

Vor 99 Jahren lag Shackletons „Endurance“ ein paar Tage lang vor Funchal, um für die Überfahrt nach Buenos Aires verproviantiert zu werden. Im heutigen Hafen gibt es keinerlei Spuren mehr vom Leben vor einem Jahrhundert. Beton, Zement, Stahl und Glas allenthalben. Zwei Kreuzfahrtschiffe an der Mole. Nur die Gesichter und Laute der Männer, die auf der Pier stehen und im Hafenbecken angeln, erzählen.

In Monte der Pulk der Korbschlittenlenker. In Ermangelung von Touristen schlagen die wie Gondolieri gekleideten jungen Männer, sie haben Schuhsohlen aus Autoreifenstücken, mit Kartenspielen die Zeit tot. Auf einer Mauer, die zur Basilika hinaufführt, in der der letzte österreichische Kaiser begraben liegt, schläft ein Hund. Blasse Dezembersonne, Langsamkeit, Warten.

Am Abend das Meer aus hellblauem Licht.

Der Äquator

Ein nachkoloriertes Foto aus dem Jahr 1889 zeigt Robert Louis Stevenson an Bord des Handelsschoners „Equator“, mit dem er von Hawaii zu den Gilbert-Inseln fuhr. Gemeinsam mit fünf Seeleuten steht Stevenson auf dem Klüverbaum am Bug des unter vollen Segeln übers Meer preschenden Schiffs. Es ist ein Bild mitten aus dem Leben des schon schwer tuberkulosekranken Dichters, keinerlei Zeichen von Gestelltheit sind darauf zu erkennen. Ein Matrose zeigt mit ausgestrecktem Arm über den Ozean, und alle Blicke folgen ihm. Stevenson wirkt glücklich, er hat den Augenblick in sich und ist Teil der Welt, die ihn umgibt. Er ist 39. Fünf Jahre lang wird er noch leben. Er ist barfuß. (Lissabon, 15.12.13)

Unverzagt

In Schlangenformation, in sich schlängelnd, zieht ein Schwarm aus achtzig, hundert Wildgänsen übers Haus nach Südwesten. Ein milder Dezembertag, der erste seit Wochen ohne Regen. Ein Fenster.

Poetische Aktion, die den Lügner entlarvt und bloßstellt: Während der Trauerfeier für Nelson Mandela im Fußballstadion von St. Johannesburg übersetzt ein Gebärdendolmetscher Barack Obamas Rede – doch seine Gesten sind erfunden, scheinen sinnlos und erweisen sich als absurd. Und noch zwei Tage nach dem Eklat weiß niemand, wer der Mann war. (Am dritten will man einen Kriminellen aus ihm machen.) Hab keine Angst!

„Sei dennoch unverzagt“ nennt Jana Simon ihre Erinnerungen an die Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Gibt es denn einen Grund, überhaupt einen Grund, zu verzagen? Ich glaube es mit jedem Tag weniger. Jedenfalls will ich nicht mehr Angst haben müssen. Schluss damit!

„Sei dennoch unverzagt“ – Auftakt von Paul Flemings 380 Jahre altem Sonett „An sich“:

Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren;
nimm dein Verhängnis an. Laß alles unbereut.
Tu, was getan muß sein, und eh man dir’s gebeut.
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.

Was klagt, was lobt man noch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
dies alles ist in dir. Laß deinen eitlen Wahn,

und eh du fürder gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles untertan.

*

Keine Angst!

Der Hahn und das Pferd

Im Kreuzgang des Rigaer Doms stand ich vor dem Gerippe des alten Wetterhahns. Es ist ganz aus verwittertem Kupfer, beschichtet mit Goldlack nur noch dort, wo die Krähen ihn übrigließen. Groß wie ein Fohlen, mit stumpfen und doch wie lebendigen Augen und einem Dutzend Schwanzfedern, die dreihundert Jahre lang im Wind sangen. Herder hörte sie. Und Wagner hörte sie, während er die ersten Noten von „Rienzi“ schrieb. Ich sah eine vergilbte Schwarzweißfotografie vom Turm des Doms, auf seiner Spitze, vor dem milchigweißen Himmel an einem Dezembertag 1923, den Wetterhahn.

Das Schicksalspferd, an das die alten Letten glaubten, ein schöner Schimmel: Trat er auf den über den Weg gelegten Ast und zerbrach ihn, so war ein schweres Jahr zu erwarten. Die Kinder am Wegrand feuerten das Pferd an, die Hufe zu heben, höher, höher, die Augen aufzumachen, schau, Pferd, schau, aber wussten, nur der Schimmel entschied. Den Zufall gab es nicht. Alles erzählte, wusste, war Zeichen, gab Antwort.

Erlösung

Wenn Michail Eisenstein nachmittags in die Alberta iela ging, um in der Rigaer Neustadt den Bau eines neuen Jugendstilhauses zu beaufsichtigen, schickte er seinen Sohn währenddessen ins Kino Splendid Palace. Schnell ging Sergei davon und heftete die Augen auf die Erker, die Arkaden, die Gesichter, die Eulen, die Greife, die Sphinxe und die Frauen mit den großen Augen und nackten Brüsten, die sein Vater gezeichnet hatte und die in der Alberta iela zu Stein geworden waren.

„Remember: No one questions a snow-leopard.“ Paddy McAloon

Eine riesige hölzerne Lunge, die pumpt und saugt, klingt und singt – die große Orgel im Dom zu Riga. Lize Reine spielt die Toccata aus Charles-Marie Widors fünfter Sinfonie. Spielt unsichtbar. Hunderte Menschen sind aus dem Schneetreiben in die Kathedrale geströmt und sitzen, viele mit geschlossenen Augen, in den Bankreihen. Die Musik. Als äußerte sie Empfindung. Als spendete sie unmittelbar Trost. Mehr noch, als wäre sie selbst der Glaube, sichtbar auf den Gesichtern, die wieder Antlitze sind. Als nähme sie die Sorgen, schluckte sie, um sie Musik werden zu lassen, so spürbar erlöst bin auch ich. (7.12., Rigas Doms)

Im Restaurans

Während die leeren Straßenbahnen durch den Abend surren, lese ich in einem Restaurans am Zigfrīda Annas Meierovica Bulvāris achtzig Seiten von Bruno Schulz‘ „Zimtläden“: „Die Dämmerung auf dem Marktplatz hatte die Farbe goldenen Rauches angenommen. Einen Moment lang konnte dieser rauchige Honig, dieser milchige Bernstein die allerschönsten Nachmittagsfarben hervorbringen. Doch der glückliche Moment verging, das Amalgam des Morgenlichts war verblüht, das quellende Tagesferment, beinahe schon ganz aufgegangen, fiel wieder in sich zusammen, zurück in kraftloses Grau.“

Feuerländer.

Barack Obama, diese bislang größte Enttäuschung des neuen Jahrhunderts, trauert um Nelson Mandela. Ein unverfrorener Zynismus. Das Einzige, was Obama mit Mandela gemein hat, ist das A am Ende des Nachnamens. Wo Nelson Mandela für die Freiheit in Gefangenschaft war, ist es bei Barack Obama genau umgekehrt: Unter seiner Administration sind Sicherheit und Freiheit einzig Vorwände für Kontrolle und Überwachung. Wo Mandela sagte: Habt keine Angst! – sagt Obama aus eigener Furcht heraus das Gegenteil.

No, you cannot!

Katze mit Mütze

Das Tier ist ein Phänomen. Das Tier ist eindeutig mehr als eine Katze.

Weißer Nebeldunst morgens und abends, dazwischen drei Stunden Licht, sonst Taggrauen. In drei taggrauen Tagen bin ich in Riga, wo es schon schneit, und in vierzehn auf Madeira, wo noch vieles blüht. (2.12.)

Vorgestern noch lief ich an der Kieler Förde entlang durch die kalte Nacht. Ein pechschwarzes Wasser, durchdringende Stille, in der draußen auf See Möwen riefen. Und gehe heute in denselben Stiefeln durch die Altstadt von Riga. In feuchter Dunstkälte ist ein Weihnachtsmarkt vor dem Dom aufgebaut und begeistert keinen Menschen. Bernsteinladen an Bernsteinladen. Mit leeren Blicken die Büste Herders. Niemand wird sich an eines der Souvenirgeschäfte je wieder erinnern. Ihr schönen Pelzmützen, wie wieder lebendig werden? Birkenmoore, Birkenmoore! Und Trabantenstädte mit minoisch-labyrinthischen Einkaufszentren in den Schlamm gebaut. Unter dem riesigen Himmelshellblau. (Riga, 5. Dezember)

Brunnen im Ozean

Seit vier Wochen wandert ein Schmerz durch deine linke Hand. Vor vier Wochen bist du nachts volltrunken über den Basketballkorbständer auf dem Grundstück des Freundes gestürzt. Der Schmerz saß seither im Daumenballen, und so saßt auch du im Dunkeln, im Nieselregen, unter den schwarzen Fenstern von F. Und immer wieder seitdem: Träume von den Sekunden des Sturzes. Der Schmerz in deiner Linken, beweist oder widerlegt er Wittgenstein? Er schrieb, die Dichtung sei wie ein Brunnen im Ozean der Poesie der Erde.

Novemberreste

Der Winter ist wach. Sternenklare Frostnächte. „Ich möchte ein Eisbär sein. Eisbären müssen nie weinen.“ Grauzone. Selbst Orions Schwertgehänge, selbst sein in der uralten Vorstellung winziges Haupt – er ist ja blind! –, deutlich zu sehen.

Durch den Bienenwabendrahtzaun flieht ein Vogel, wie ein Pfeil so schnell. Erst weit überm weißgefrorenen Garten klappt er die Flügel auf und setzt in seinem Schnellen Segel.

In jedem seiner Bücher taucht es auf: Lars Gustafsson vergleicht das Pupillenschwarz (des Tiers) mit dem Schwarz der Galaxis zwischen den Sternen.

Der November ist die Zeit der Dorsche.

Das Bundesverdienstbrot!

„Es ist eine Art Terminmoos, das mir das Leben überwuchert. Und ich habe keine Messer dafür, bin kein Vertikutierer.“ – „Sei Schaf.“

Nach Benjamin Franklin gibt es drei Arten von Menschen: diejenigen, die unbeweglich sind, diejenigen, die beweglich sind, und diejenigen, die sich bewegen. Vergessen hat der kluge Einsortierer diejenigen, die zusehen: die Beobachter. Sie scheinen unbeweglich, bewegen sich ruckartig, stehen scheinbar erneut still. Sie bewegen sich innerlich, sie erinnern sich! Zum Beispiel an dich, Franklin.

Wovon wir nicht sprechen können, darüber müssen wir reden.

Dein Sternenzelt

Wenn du morgens aufwachst und denkst: Wieso hat mich die Rezeption nicht geweckt? Und wenn du in die Küche kommst und das Frühstücksbüffet nicht findest. Und stehst du dann vorm Haus, im Regen, und kein Taxi wartet. Dann bist du zu Hause.

Käsereklame, aus Frankreich, mit Aufklebern: „Jetzt gratis: Dein Sternenzelt!“

Das Kind beginnt Musik zu hören, wie du sie selber hörst: nicht Lieder, sondern „Stellen“ – „jetzt kommt die schönste Stelle“. Ablösung von den wirklich Musik Hörenden: Sie hören Strukturen, die Musik ganz, das Kind und ich hören Stellen. Und während wir die schönsten Stellen hören: stumme, schweigsame, verschwiegene Blicke ins Leere, in die leeren Stellen im Freien (Winterhude, 23.11.).

Das Uferwäldchen

Der Winter ist erwacht. Déjà l’hiver. Weißgefroren das Gras, die noch nicht kahlen Bäume, die liegen gebliebenen Äpfel. Das beschwichtigende Glitzern des Frosts. Der Winter räumt das Jahr aus, unbarmherzig Inventur haltend lässt er sterben, Meisen, Schnecken, Libellen, damit sie landen kann: die Schneearmee. Drei aneinandergekoppelte Dieselloks rasen führerlos durch den weißen Dunst und verschwinden darin. Bauarbeiter lachen in der gedämpften Stille, weil sie die Kunst der Gleichgültigkeit beherrschen. Die Kate, die sie abreißen, stand 347 Winter lang am Rand des Uferwäldchens (21.11.).

Eine andere Wirklichkeit zieht vorüber: U eines Wildgänseschwarms am wolkenverhangenen Novembernachthimmel.

Die Na-ja-Böschung

Ein britischer Junge erklärt seinem Bruder den Unterschied von Ritter und Nacht: „At nighttime the knight went for a walk.“ Und der kleine Bruder antwortet: „And so the night became knighttime.“ (Hameln, 15.11.)

Ich erinnere mich deutlich an lang zurückliegende Gedanken über die Unwirklichkeit.

Die Na-ja-Böschung. Zwei Mädchen kommen mir auf Fahrrädern entgegen, Ranzen auf dem Rücken, das Zippelhaar flatternd im Regendunst, vertieft in ein Gespräch über … die Zeit … den Körper … Bedeutungen … Erzählen. An einer schlammigen Grasböschung trennen sie sich, ein Mädchen biegt ab, eines fährt weiter: „Na ja, bis morgen!“ Diese Böschung im Regen, das graue Gras und den Morastgeruch erkenne ich wieder: Das Gespräch pausiert an der Na-ja-Böschung, es regnet weiter, und morgen der Tag wird ein neuer sein (19.11.).

Warten auf die Welt

Scheinbar vertieft in eine Botschaft, vielleicht bloß eine Neuigkeit, stehen oder sitzen die jungen Leute da und blicken auf den Bildschirm in ihrer Hand. Und nicht selten entlarvt ein heimliches Aufblicken das vermeintliche Vertieftsein als vorgegeben oder gespielt. Das Handy in der Hand, es schirmt wohl ab, es zerstreut, auch die Angst, und scheint zu schützen. Wie war das früher? Als Junge oder junger Mann hatte ich nichts in der Hand, erst später das tarnende Buch als Schutz, als Schirm. So stand ich am Busbahnhof, saß im Bus und in den Wartezimmern der Welt. Ich muss gezwungen gewesen sein, in die Welt hineinzusehen, und habe nichts tun können als zu warten. Worauf? Warten sie auch, die Handygucker? Das Warten also ist gleich geblieben? Ich habe auf die Welt gewartet, und ich warte noch immer.

Tod und Teufel

Auf dem Küchenfußboden liegt rücklings, die schillernde Flügelunterseite nach oben gekehrt, eine türbisblaue Libelle. Sie stellt sich tot. Denn vor ihr sitzt das Tier, das sie gefangen und hier hineingetragen hat. Das Tier betrachtet die Libelle, die grünlichen Flügel, die schimmern, sich sonst aber nicht bewegen, und hält den Tod offenbar für unglaubwürdig.

Vergiss nicht: Beim Schreiben, von Sätzen, von Versen, geht es (dir) nicht darum, was am Ende auf dem Papier (diesem Bildschirm) steht. Geht es dir nicht um das Schreiben selbst? Lange dein Irrtum. Wenn es (dich) nicht lebendiger macht, lass es sein. Pull down, I say, pull down. Verhilft es Anderen nicht dazu, sich lebendiger zu fühlen, scher (du) dich mit deiner „Lyrik“, deiner „Literatur“ zum Teufel und unterhalte lieber den (13.11.).

Kaputt

„Die Blumen schlafen, aber nicht das Gras.“ Jean Paul

Der zahnlose Bettler steht von morgens bis abends am Eingang der Fußgängerzone. Am Fuß des Cityweinbergs. Er ist in deinem Alter. Seit zwanzig Jahren prozessiert er. Dreimal, erzählt er, sei er vergiftet worden. Auch in Madras. Entmannt von seiner früheren Frau. Geschieden von sich selbst. Kaputt. Den funkelnden Zorn im Auge. Ganz Zweifel (Freiburg, 9.11.).

Schwan: kennt den Schwankenden.

Die eigene Sinnesdeutung

„Der Verfasser ist von dem Gefühl ausgegangen, daß die tiefsten Gründe einer Biographie, die letzte Form eines Schicksals gar nicht durch die Schilderung eines äüsseren Lebenslaufes, noch durch eine noch so tief geführte psychologische Analyse erschöpft werden könne. Diese letzten Gegebenheiten des menschlichen Lebens lägen vielmehr in ganz anderer geistigen Dimension, nicht in der Kategorie des Faktischen, sondern in der des geistigen Sinnes. Ein Lebenslauf aber, der auf seine eigene Sinnesdeutung hinaus will, der auf seine eigene geistige Bedeutung zugespitzt ist, ist nichts anderes als Mythus. Jene dunkle, ahnungsvolle Atmosphäre, jene Aura, die sich um jede Familiengeschichte zusammendrängt und in der es gleichsam mythisch wetterleuchtet, als ob in ihr das letzte Geheimnis des Blutes und des Geschlechtes enthalten wäre – erschliesst dem Dichter den Zugang zu diesem zweiten Gesicht, zu dieser Alternative, dieser tieferen Version der Geschichte.“ (Bruno Schulz, Exposé zu seinen Erzählungen „Die Zimtläden“, 1937)

Zum Mut, zur Seelengröße

„In all diesen Narrativen werden das Zukünftige und das Vergangene bewusst nicht mehr als Phantasiereservoire von der Gegenwart abgetrennt, sondern kontextualisierend auf sie bezogen“, schreibt Dietmar Dath in einer Buchbesprechung. Auf diese Weise ließen sich Antikörper erfinden gegen die Kolonisierung durch Bilder und Metaphern utopischer Spekulation in technokapitalistischen Lösungsversprechen für soziale Großprojekte. Ich lese Daths güterzugartige Rechthabergerattere in der Frankfurter S-Bahn. Am Darmstädter Hauptbahnhof steht ein Satz von Georg Büchner über dem Portal, der ebenso von dem spricht, was war und was sein könnte, vor allem aber spricht er vom Erleben des Einzelnen als einem Mangel, den ein jeder teilt: „Wir alle haben etwas Mut und Seelengröße nötig.“ (Im Darmstädter Herrengarten, 7.11.)

Überall Federn

Die Verfassungsschutzlosigkeit!

Der Unbehaustheit des Schriftstellers auf Lesereisen, dem Hotel Ich, setz die Ordnung des Staunens entgegen! Da steht am Dorfrand, dreimal so hoch wie die Kirche, ein Wohnturm. Im Vormittagslicht klingt vom Schulhof Kindergeschrei herüber und macht dich ruhig. Die Freundlichkeit des lachenden Gesichts im grau-in-grauen Regenwind auf der Domplatte. Vorüberwirbelnde. Ein jeder. Mit seinen unverwechselbaren Augen (Köln, 5.11.).

„Forgotten anything?“ Alles.

„Wer Engel sucht“ … sieht überall Federn.

Das schweigende Auge

Ein wiederkehrendes Bild: Du öffnest am Morgen die Vorhänge, und draußen vorm Fenster liegt ein Park mit einem Weiher, darauf Enten und auf dem Rasen Krähen. Es ist grau, es regnet, und du bist hier nie gewesen. Was erkennst du daran also wieder? Den Park, die Tristesse, das Nieselwetter? Die Vorhänge? Das Öffnen? Die letzten Vorbereitungen, ehe du gehst? (Braunschweig, 2.11.)

Werbeslogan: UNS DOCH EGAL

Aus dem Krimi des Sitznachbarn: „Das Auge blinzelte, sagte aber nichts.“

Fünf Stimmen

„It’s never over (Hey Orpheus)“ Arcade Fire

„In welcher Welt lebst du eigentlich?“ – „Ich?“ – „Ja. Wer denn sonst?“ – „In der Ich-ich-ich-Welt?“

Jeder Text, den du geschrieben hast, und zum Glück noch jeder, den du schreibst, hat eine eigene Stimme. Jeder ein Lied, unverwechselbar, das zuerst (zunächst!) nur du hörst. Du lauschst ihm nach. Versuchst, es hörbar werden zu lassen auch für andere. Und in der Entscheidung, ob das gelingt, ob es ankommt, liegt schon eine Begegnung, denn der Text, sein Lied und du, ihr entscheidet gemeinsam (31.10.).

„Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf.“ Lars Gustafsson

Eine Hineinforderung

Herbstorkan, ein merkwürdig warmer Sturm. Oben im Dorf hat eine umgestürzte große Pappel einen Opel unter sich begraben. Rasselndes Licht auf dem quer über die Straße gebreiteten Laub, ein rotierendes Blinken, als nähme der sterbende Baum das Blaulicht vorweg. Teenager fotografieren das Unglück mit ihren Smartphones. Hin und her peitschende Rispen im Lichtgeflirr. Und auf dem Balkon setzt das Tier den riesigen braunen und gelben Faltern nach, die von den Bäumen stürzen und so flink sind, dass sie nie und nimmer Blätter sein können (28.10.).

Eine Herausforderung: Heißt das, mich fordert etwas heraus, oder fordere ich etwas heraus? Woraus denn? Fordert etwas mich nicht viel eher hinaus? Eine Hinausforderung. Komm raus und stell dich! Stell dich, wenn du kannst, mir entgegen. „Fodern“, wie Schiller unbeirrbar schreibt, als hätte er einen blinden r-Fleck. Bleib, wo du bist. Wo du bist, dort bleib. Eine Hineinforderung.

Wo sind alle hin?

Im Herbstlicht liegt die geleckte Industriestadt am Mittellandkanal verlassen da. Die vier Schlote, ratlos ragen sie in den blauen Himmel. Wo sind alle hin? Leere Straßen Hitlers. Leere Bahnsteige. Leeres Museum. Alle in der Schule, alle in der Fabrik, Autobau lernen, Autos bauen. Eine gelbe Ahornbaumkrone rauscht im Wind, und ich scheine der Einzige, der ihr zuhört und sich wundert (Wolfsburg, 24.10.).

Das hübsche Mädchen, das vorbeigeht und nicht sieht, was rings geschieht (ich) – denn sie liest im Gehen, ja im Gehen (ein Buch), das Gehen ist nämlich ein Buch.

Der Bienenzüchter und sein Blindenhund

„Ehe, Berufsleben, ach Gott! All das versinkt, als wäre es eine Lappalie, eine kurze Episode, alles, was eben noch die ganze Welt erfüllte und mich in den Nächten manchmal mit Grübeleien wachhielt. All das wird nur zu einer Episode in einer viel wichtigeren Erzählung, in der die Kindheit bisher das einzig wirklich starke Kapitel ist.“ (Lars Gustafsson, Der Tod eines Bienenzüchters)

Der Blindenhund, der während der Chorprobe von Tasche zu Tasche und Rucksack zu Rucksack tappt, um alles Essbare daraus verschwinden zu lassen: einen Apfel, eine Karotte, Kekse. Der Blindenhund, der alles wehrlos Essbare unsichtbar werden lässt.

Von Plauen nach Nauen, von Guben nach Nuben

Wie oft fahre ich diese Strecke, im Schreckenszug von Hamburg nach Berlin und retour, dreißig, vierzig Mal im Jahr? Und das zwangsweise. Die öde Weite Mecklenburgs, darin die halb weggerissenen braungrauen Ortschaften, nicht Orte, alle mit erfundenen Namen, Plauen, Nauen, Guben, Nuben, Dassow, Sassow. Und immer wieder sehe ich aus dem Fenster wie hinein in einen rasend ablaufenden Traum und rauscht das Ungeheuer der Bahn mit seinen darin herumspukenden Mitarbeitern soeben durch einen zur Hälfte abgetragenen Weiler, wo Wracks von Wartburgs und Ladas in Vorgärten verrotten, die ich noch nie gesehen habe. Ganze Felderebenen unter Wasser. Oder, was hier dasselbe ist, voller Mais. Und das Ich dreht sich verschämt ins Man. Man denkt, man kennt hier jeden Busch, jedes vom Ostfrost halbblinde Schaf. Nichts da. Paulinenaue. War das gestern noch Plauen? Und plötzlich bricht der Zug durchs gläserne Schrebergärtenportal von Spandau, und wieder sind zwei absurde Stunden Leben dahingebracht.

Warme Schlange

Fleetwood Mac in concert. Lindsey Buckingham allein auf der Bühne spielt auf der Akkustikgitarre „Looking out for love“, als wäre er nicht 60, sondern 20, und ist nicht 60, sondern 20. Und Stevie Nicks braucht lange, bis ihre Stimme zu ihr findet, warme Schlange, dann aber ist sie jung und alt zugleich, mitten ins Leben gezaubert als Musik, zeitloses, atmendes Instrument (Berlin, 16.10.13).

Mit der Stiftlampe

Nach dem wochenlangen Rummel: plötzlich der Eingang, und ihn genutzt und verschwunden ins Schreiben einer Erzählung. Wie wunderbar, das ruhige Hinwachsen der Sätze, das langsame Gestaltannehmen des Ziels, das Gespräch der Figuren, die aus dem vermeintlichen Nichts auftauchen – wie aus dem Schneetreiben (15.10.).

Das Mädchen in der U-Bahn mit der am Kopfhörer befestigten Stiftlampe: Möchte es ein Roboter sein? Hat so schöne Augen.