Verlorener Tag: acht Stunden lang im Auto zwischen Asphalt, Blech, Beton und Zement. Ein Feld voller in der Sonne blinkender Regentropfen auf Kamilleblütenblättern; der Flickenteppich der Maisebene zwischen Bremen und Diepholz; und die im Oktober absaufenden Auen der Weser – wiedergefundener Tag (Lemförde, 6.10.).
Ein Schiff, zwei Züge, ein Besen
Vergiss nicht, wie du zu erklären versuchtest, Hände ringend, was das ist: die „Neige“, das „Verdrängen“. Zu verdrängen – vergessen zu wollen. Auch ein Schiff verdränge, es verdränge Wasser. Ein Schiff, fragten sie, wolle das Wasser vergessen?
Der Schriftsteller Martin Walser hat im Zug sein Tagebuch verloren, sein Verlag bietet 3000 Euro Finderlohn dafür. Dem Dichter Robert Walser kam einmal im Zug ein Koffer abhanden, in dem sich auch die Manuskripte zweier Romane befanden, und klagte nicht.
Übers Haus hinwegfegender Besen aus Staren
Immer vor der Nacht her
Gestern irgendwann, irgendwo zwischen Jekaterinburg und Minsk, sah ich aus dem Flugzeugfenster die grauen Felsenweiten, die Pisten entlang der Flussschleifen im Ural. Dreißigstündiger Tag! Ich flog immer vor der Nacht her, vom Sommer in den Herbst. Drei Säuglinge im Jet, die keine Minute lang schliefen. Der Regen, das gelbe Hamburger Laub, Stille und wenige Leute allein unter den tropfenden Bäumen dahingehend (4.10.).
Morgen der Herbst
Noch einmal kehrt der Sommer zurück nach Shanghai. Und auch ich kehre zurück, morgen in den Herbst.
Säuberung eines Brunnens, groß wie die Sonne-und-Mond-Turmuhr an der Hamburger Jakobikirche. Zwei Männer und drei Frauen (mit Strohhüten) brauchen fünf Minuten dazu. Einer am Rand überwacht sie, zupft gelbe Blätter von der Heckenumfriedung. Die Frauen gehen davon, die Männer jeder einmal im Kreis um den Brunnen, wie Zeiger (Changning, 2. Oktober).
Noch bin ich zehn Kilometer entfernt, aber sehe schon die schwarzen Schwaden. Dann rast der Bus hinein in die Säule aus davonschwärendem Qualm. Unter der durchs weite Küstenflachland strebenden Huaxia-Autobahnhochbrücke brennt eine Lebensmittelfabrik. Die überrußten, im schwarzen Rauch verschwindenden roten Leuchtstoffschriftzeichen auf dem glühenden Dach sind das Letzte, was ich von Shanghai sehe (3.10.).
Langsam gleiten Frachtschiffe über die Rollbahnen des Pudong-Flughafens. Habe ich dich doch noch gesehen, Jangtsekiang.
Baisha
Ich stand vorn an der Scheibe neben dem Fahrer.
Der Nachtbus nach Changning war voller Leute, ein rollender Platz des Volkes. Dass er ein Trolleybus war, bemerkte ich nicht deshalb, weil es keinen Schaltknüppel gab, ich sah es an dem kleinen dünnen Mann mit der Packung Baisha-Zigaretten in der Brusttasche über dem riesigen Lenkrad: Nicht er fuhr den Bus, sondern der Bus fuhr auch ihn.
„Die Liebe“, sagt eine Chinesin zu mir, „Liebe gibt es in China erst seit ungefähr vierzig Jahren.“ 1972 – das Jahr der Erfindung der Liebe in China? „Jahrtausende lang“, sagt sie stolz, „spielte so etwas wie Liebe beim Heiraten und Kinderkriegen in China keine Rolle.“ Das Mittelalter. Die Romantik. Die Zeit! Der Taumel (1.10.).
Dann los!
„Wo ist mein Zuhause?“, fragt die Taiwanesin mit dem schönen Hut, die jahrelang in Berlin lebte, ehe ihr Mann nach Shanghai versetzt wurde. „Was ist das, Heimat, können Sie das sagen?“ – „Mein Zuhause, fürchte ich, ist das Gedicht.“ – „Die Poesie, meinen Sie?“ – „Nein, ich meine das Gedicht.“ Und hätte sagen können: „… einen Raum wie Ihren Hut.“ (Xujiahui, 30.9.)
Asservatenkammerkonzert
Mit deiner Ernsthaftigkeit, Leidenschaft, Liebe, deinen Zweifeln und deiner Kritik – woran, wozu, wofür? – bist du allein. Shanghait in einem Trolleybus voller Leute zwischen dem Platz des Volkes und dem Zhongshan-Park, dem Park der endlosen Stille.
Stinktofu
Ich fragte die Pappeln, ob sie mitkämen in die Kindheit, und sie antworteten: „Ja!“ – „Dann los!“, rief ich, und sie rauschten, und die Blätter im Wind zeigten ihre silbernen Knie (1. Oktober).
Das Periskop
Es wird immer gespenstischer: Der Mars-Rover „Curiosity“ hat auf dem Roten Planeten Bachkieselsteine fotografiert. Abwarten, bis er den ersten Autoreifen findet.
Ein Hochhaus voller kaltem Rauch. Jeden Morgen die leeren Bierdosen im Badezimmermülleimer.
Tagtäglich stehe ich an dieser Kreuzung, umgeben von Tausenden, umtost vom wogenden Verkehr und doch allein auf hoher See: ein Periskop (28.9.).
Die Schnittwunden der Diskurse
Am Vorabend des Nationalfeiertags und der „Goldenen Woche“
warten die Ausflugsziele vergeblich auf Besucher. Für die Straßenverkäufer und greisen Einwohner der alten Wasserstadt bin ich das Erstaunlichste. Nicht mal an Touristen wie mich zu verscherbelnde Ming-Dynastie. Ein kleiner Hund schläft in seinem Käfig, einen Sprung entfernt von einer jahrhundertealten Pflasterplatte, die einen jagenden Hund aus Stein zeigt, Land, das es nicht mehr gibt, den Fluss, heute eine Kloake (Fengjing, 29.9.).
Foto: Huichuan Lu, Changning, Shanghai
Drei Drachen
Jeder Abschied ein Beginn. Die Abschiede beginnen (27.9.).
In der Dämmerungsstunde stehen am Himmel über Changning drei grün wie die Taxis der Stadt blinkende Lichter. Wohin verschwinden sie, sobald es dunkel wird? Tags scheinen dort oben, doppelt so hoch wie die Wolkenkratzer, drei Drachen zu schweben. Doch Drachen sind es keine.
„,Amnestie‘ geht das Flüstern im Gras: ,Amnestie‘.“ (Tomas Tranströmer)
In den Stunden, ehe die Nacht kommt, spielt seit drei Wochen unter dem Fenster der CD-Verkäufer auf seiner Rikscha dasselbe, immer nur dieses Lied. Wie seltsam, dass sie nicht schal wird, die Endlosmelodie! Wie seltsam, dass ich, vor genau zwei Jahren, dort war, auf dem „Scarborough Fair“, von dem die alte englische Weise handelt: Zwei Liebende geben einander nicht endende Rätsel auf um „parsley, sage, rosemary, and thyme“.
Chauffeure
Der Dichter Z. ist Gentleman und Galan in Vollendung. Noch wenn er ein Buch signiert, kalligrafiert er. Er besitzt einen schwarzen Buick, in dem im Nieselregen ein Chauffeur auf ihn wartet, mit dem er nicht spricht. Kennt der Chauffeur die Gedichte von Z.? Der Dichter erzählt von dem Exildichter Y., seinem Freund. Kennt der Chauffeur die Gedichte von Y.? Ich denke an den Fahrer mit der 07 auf dem Rücken: Der Zufall wollte es, dass er mich zweimal mit seiner Elektrorikscha durch Zhujiajiao chauffierte. Wo war er am 4. Juni 1989 während des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens? Liest er Gedichte? Die Gedichte von Y., von Z.?
Gespräch in der vollgerammelten Metro über Nietzsche, Wittgenstein, Fukuyama, Rorty, den chinesisch-japanisch-taiwanesischen Inselkonflikt, über Obama, Biotechnologie und Jesus Christus. „Are you a believer?“, fragt mich der junge Doktorand der Tongji-Uni Herr Xu, als wir eingequetscht am Platz des Volkes eine Rolltreppe hinauffahren. Er ähnelt einem dickens’schen Bestattergehilfen und trägt ein schwarzes Pink-Panther-T-Shirt (Hongkou, 25.9.)
Der dreißig Geschosse hohe Turm der philosophischen Fakultät. „Wie heißt das Gebäude?“ – „We call it in general building.“ Wir nennen es im Allgemeinen einfach nur Gebäude. Es klingt, als sagte Herr Xu: „We call it the general beauty – Wir nennen es die allgemeine Schönheit.“
Pappbecher und Fischköpfe
Die elfte, die Atemschutz-, die Ansteckungsangstmaske
Die ganze Familie, drei Generationen, säubert auf der Gasse kleine silberne Fische zum Verkauf. Ihr Fischköpfe verschlingender Hund sieht aus wie ein Fisch (Dongtai Lu, 24.9.).
Auf der Madang Lu in Xintiandi, Shanghais Straßenschickeria wie in Rio, New York, Berlin oder St. Petersburg, hohler als ein leerer Pappbecher. Fassadenverbraucher in ihrer Beschaulichkeitskulisse, wo nichts ein Drama ist.
Aus dem Loch gedrückt, um die Ecke geschnellt, die Rampe herabgerollt, wie die Bälle im Flipperautomaten kommt nachts ein grün beleuchtetes Taxi nach dem anderen die Huichuan Lu nach Changning heruntergefahren (25. September).
Die Versuchsanordnung
Ich will schwimmen gehen! Die Erntesaison für die Große Wollhandkrabbe ist eröffnet.
Seit über dreißig Jahren denke ich an diesem Tag an ein Mädchen mit rotem Anorak, ein behindertes, wir sagten damals: mongoloides Mädchen, mit dem ich während eines Schulausflugs in den Harz nur ein paar Minuten lang sprach … helles Vormittagslicht unter Bäumen, irgendwo an einem Sportplatz, und sie erzählte strahlend, ohne zu ahnen, wie unvergesslich es war, am 23. September sei ihr Geburtstag.
Wie zerfahren, wie zerrüttet du dir hier mitunter vorkommst, nichts davon gibt die Folge dieser Aufzeichnungen, ihre Versuchsanordnung, wieder. Warum? Weil es so mit dem ganzen Taumel, etwas zu schreiben, ist?
Vom „choc du divers“ schreibt Victor Segalen in China. Was den Schock der Unterschiedlichkeit auslöst,
das sei „alles Fremdartige, Ungewöhnliche, Unerwartete, Geheim- nisvolle“, aber, seltsam, auch alles „Verliebte, Übermenschliche, kurz all das, was anders ist“. Beinahe hundert Jahre alt ist Segalens „Essai sur l’Exotisme“. Wie das Schockierende fruchtbar machen für dich? Durch die Versuchsanordnung: „Die Welt sehen, und dann sagen, wie man die Welt sieht.“
Foto: Ein Teeverkäufer putzt seinen Drachen, Hangzhou
Was dann?
Shi Ren – der Dichter: der aus dem Volk der Gedichte
Shian Sheng – jemand, der vor dir geboren wurde und von dem du lernen kannst
Wen – fragen, küssen
Yuan – die Währung, das Ferne
„Was würden Sie gern tun anstatt zu schreiben?“ – „Nichts.“ – Gelächter – „Besser wäre, durch die Gegend zu laufen, und die Vögel und die Bäume anzusehen.“ – Ausgelassenes Gelächter.
Mittagessen in Mao Tsetungs Shanghaier Lieblingsrestaurant „Jin Mei“. Überall hinter Glas tote Schmetterlinge an den Wänden.
Und nach dem ganzen Geglitzer – was dann?
Auf Wunder folgt Wunde. Der Abschied als Einschnitt, wenn du dir sicher sein kannst, jemanden nie wiederzusehen (22.9.)
Das Lächeln
Pack ein Elektro-Transportfahrrad, eine Recyclinggüterrikscha: in das Ladegestell zwischen den Hinterreifen Leergutkästen, Metall, Holz. Darüber geschichtet Pappen, verschnürt mit Bast, anderthalbmannhoch, darauf und dazwischen, verschnürt, Altpapier, daran festgezurrt, gestopft in jede Lücke, Dosen, Pfandplastik, und drumherum, fleckig, vorn überm Lenker und überall hinten, ein weißer, lautloser Elefant auf drei Rädern, Styropor.
Expressrolltreppen – sie führen in nur jedes zweite Stockwerk. In den übersprungenen Etagen stehen Verkäuferinnen am Geländer, blicken in die Tiefe, haben Zeit („Cloud Nine“-Mall, Changning, 20.9.)
Tischtennis mit Shanghaiern. Jeder könnte ein Busfahrer sein, ist aber ein Romancier. Besuch zweier Vorzeigeschulen, Leuchtschrift: „Welcome for the authors“. Alle Schüler tragen amerikanische Zweitnamen. Ein kleines Mädchen erzählt, sie möchte Kunstlehrerin werden, ihr Mandarinname bedeutet „das Lächeln“ (21.9.).
Ein Archipel sein
„Sei doch nicht so negativ!“ – „Bin ich das?“ – „Was bist du sonst?“ – „Ich bin hier nicht.“
„Schreiben und Musik“ – ein Symposium. Als sie ein Kind war, erzählt die bulgarische Schriftstellerin Zdravka Evtimova, spielte nachts in ihrem Dorf der alte Nachbar Klarinette. Das waren für sie der Mond und die Sterne. Als der Alte verschwand, keiner wusste, wohin, zog sein Enkel in das Haus nebenan, und auch er spielte Klarinette. Ihn heiratete sie.
Seit Monaten erster freier Schreibtag: 20. September. Wie hinterm Smog sinken Changning, Shanghai, Gelber Fluss und China zurück. Der Streit mit Japan und Taiwan, der drohende Krieg um eine unbewohnte Inselgruppe … ich bin selbst ein Archipel, unbewohnt, uneinnehmbar.
Am Fluss mit gelbem Ufer
An der „Brücke, wo die Fische freigelassen werden“ verkaufen alte Frauen für je fünf Yuan mit Flusswasser gefüllte Plastiktüten, in denen zwei Goldfische, zwei Heringe schwimmen. Haben die in Holzbooten ablegenden Männer der Alten die Fische gefangen? Fangen sie die freigelassenen im Huangpu wieder ein? (Es gibt kein Entrinnen.)
Im Stadtgottestempel von Zhujiajiao
: Beim Gebet der Mutter vor dem Buddha bleibt der Sohn neben der Knieenden stehen – reicht ihr dann Münzen für den Schlitz vor der Gebetbank. Ein Helikopter kreist überm „Venedig Chinas“. In der Tempelpagode sind in der zweiten Etage die hölzernen Wände voller Regalfächer für immer den gleichen Buddha, dem man eine Münze zwischen die Finger schieben kann. Allein unterm Dach, lass den Stock gegen die Glocke schwingen – ein stockdunkler Klang, der dich zu denen trägt, die du liebst (19. September).
An jeder Haltestelle ruft die Fahrkartenverkäuferin zum Seitenfenster des Busses die Endstation hinaus: „Platz des Volkes! Platz des Volkes!“
Foto: An der „Brücke, wo die Fische freigelassen werden“, Zhujiajiao
Als sprächen die Dinge
In Leshuan in der Provinz Sezuan ließen Lokalpolitiker gezielt künstlichen Regen erzeugen, als sie ein Technologiegelände besuchten. Solcher „bloße Anschein von Engagement selbst bei schlechtem Wetter“ müsse von höherer Stelle als verwerflich gebrandmarkt werden („Shanghai Daily“, 18.9.).
Immer wieder auch Kinder auf den Motor- und Elektrorollern. Sie stehen zwischen Lenker und Vater oder Mutter, unbehelmt, im Haar den Abgaswind, die Augen zu Schlitzen verengt. Auf ihren Gesichtern ist kein Ausdruck von Freude erkennbar, nur die feste Bestimmung.
Die Schlange an der Kasse: „der Drachenschwanz“ – wo ist der Leib, wo der Kopf?
„Ich habe so getan, als sprächen die Dinge.“ (Victor Segalen)
Elektrofahrrad: Heuschrecke
Die gekappten Platanen unter den Stadtautobahnbrücken sehen aus wie versteinerte Rieseninsekten, Gottesanbeterinnen.
Die Feuernationuniform
Viele Gesichter, männliche, weibliche, sind verborgen hinter Masken: der der Indifferenz, der Ignoranz, der der Intoleranz, die dich spüren lässt (und lassen will), du gehörst nicht dazu. Gebelfer, Schleimhochziehen, Ausrotzen, in deiner Gegenwart gern. Die Ausschlussmaske ist die zehnte vieler Shanghaier, so denn acht sichtbare und dieses eine unsichtbare Gesicht, die Tomas Tranströmer zählt, ausreichen:
„Da füllt sich der Park mit Menschen. An jedem acht Gesichter, poliert wie Jade, für alle Situationen, um Irrtümer zu vermeiden. / An jedem auch das unsichtbare Gesicht: es spiegelt ,etwas, worüber man nicht spricht.‘ / Etwas, das in müden Stunden auftaucht und herb ist wie ein Schluck Kreuzotterschnaps mit dem lange schuppigen Nachgeschmack.“
Vor jeder Straßengarküche acht, immer acht Alu-Fässer mit gläsernem Deckel. Bis zum Rand gefüllt sind sie mit großen grünen zuckenden Seespinnen (Anhua Lu, 17.9.).
Sie sei gerade auf der Suche nach einer Feuernationuniform, schreibt mir meine Jüngste.
Foto: Tuschbilder von Schülern der World Foreign Language Primary School Shanghai, 2012
Uhren, Uhren, Uhren
Neben der Reinigung im Keller des Appartementhauses: ein grauer, neonerhellter Raum voller Rechner, Bildschirme, Uhren. An den Tischen sitzen vier junge Männer und überwachen die Überwachungskameras. Die Tür steht offen.
Taifun über Changning. Der Sturm fährt durch die Häuserschluchten, die Sonne scheint, es ist wie am Meer, nur ist kein Meer da.
Auch im alten französischen Viertel überall Boutiquen, Shops, Stores, Takeaways, Leute über Leute, die nichts Besseres zu tun zu haben scheinen als ihre Zeit zu vereinkaufen. Straßenhändler warten, sie in die Hinterhöfe zu locken, alle die gleichen in Plastik eingeschweißten Abbildungen in der Hand: Uhren, Uhren, Uhren, während die wahren Uhren, die prächtigen Platanen an den Straßenrändern, in den Abgasen verkommen (Julu Lu, Französische Konzession, 16. September).
Einer schläft, und einer stiehlt
Was immer wieder ihr Staunen erregt: Er dreht sich eine Zigarette! Das Blättchen, der Tabak in der Faust, die rasche Folge der Fingerbewegungen. Dann huscht über ihre Lippen ein Lächeln, schmal und dünn, wie deine Zunge über die Klebefläche.
Ein Tag, an dem keiner mit dir spricht außer im Keller ein Mann, der dort bügelt – ausgesprochen reicher Tag.
Einer schläft neben einem Drachen. Einer reißt Aufkleber, grüne Halme, als wären sie Gras, von einem Kleinbus. Zwei, junge Frau, junger Mann, vielleicht Geschwister, ziehen auf dem Pflaster sitzend das Plastik von Kupferdrähten, und wieder einer kalligrafiert auf das Pflaster, mit Pinsel und Regenwasser. Einer liest Yang Lian: „Es bleibt nur die Luft, die zeitlos auf dem Papier existiert in Form eines Gedichts.“ Einer trottet heim und stiehlt Beobachtungen (Dingxi Lu – Anhua Lu – Kaixuan Lu, 15.9.).
An die Mondkuchenhersteller
Angekommen am Ende der Beschaulichkeit, keinem gingen die Augen auf.
Du biegst um eine Straßenecke und gehst einen Steinwurf entfernt zur Post. Vor deinem Gesicht fuchtelt ein Uniformierter und herrscht junge Angestellte an, bis alle lächeln. Du füllst Formulare aus, als wolltest du eine Tierart, einen Fluss kaufen. Dein Brief verschwindet in einem anderen Umschlag. Zurück im Freien, ist die Straßenecke nicht mehr da, die Erde aufgegraben, und du bist verlassen und verloren (Shanghai, Kaixuan Lu, 14.9.)
Forderungen nach Verringerung ihrer verschwenderischen Verpackungen fallen bei den Mondkuchenherstellern auf taube Ohren. Zeitgleich mit dem Aufgang des Merkur wird für Sonntag ein Taifun erwartet („Shanghai Daily“).
Kleine Reise von den neunzehn Millionen zu den sechs Millionen (3)
Ein Lastwagen voller Weintrauben, vor einer Wand mit einer Zeichnung von einem Kleinkind, das einen Wolf mit Beeren füttert
„Hang Zhou“ – „Ort, den du nur mit dem Boot erreichst“
„Kaiserlicher Garten mit den singenden Pirolen in der Trauerweide“, ich sah dort wirklich einen Pirol: Gelber Pfeil, der schimpfend aus der Baumkrone floh, als ein neuer Pulk mit Plastiktrillerpfeifen bestückter Ausflügler anrückte – „Look the lotus!“
Iss Ginkgoherzen, und du erinnerst dich der Bäume im „Brisendurchwehten Zickzackhof des Lotus“.
Kleine Wolke, knapp überm Boden, woher? Weihrauchwölkchen, woher kommst du? Da steht ein winziger Blechkormoran, Hals und Schnabel dir entgegengereckt, und hält ein Stäbchen. Fisch wird Wolke, Wolke wird Vogel, alles zieht davon.
Zufall, Sprache der Welt!
Der Bettler mit den großen Zähnen und lächelnden Augen, von dem ich träumte, weil ich ihm gestern am See fünfmal nichts gab, – im Steingarten des reichen Mannes steht er wieder vor mir und nimmt lächelnd, endlich, seinen Schein (Garten von Hu Xueyan, Hangzhou, 13. September).
Fotos: Residenz von Hu Xueyan, Hangzhou,
junger Apotheker, Museum für Traditionelle Chinesische Medizin, Hangzhou
Kleine Reise von den neunzehn Millionen zu den sechs Millionen (2)
Alte Legende: Von der Bogenbrücke über den Großen Kanal sackt im Winter auf beiden Seiten der Schnee ab. Sie wirkt entzweigebrochen, wie ein getrenntes Liebespaar. Ein Kranich lässt sich auf ihr nieder, und seine Schwingen verbinden sie wieder.
Reklame: „Betrink dich im Wulin-Bezirk. Spür den Wind! Die schlaflose Stadt ist das Paradies.“
Kanalbaumuseum, Schiffbaumuseum, Abschiedsmuseum
Scherenmuseum, Messermuseum, Wundenmuseum
Schießpulvermuseum, Waffenmuseum, Erschießungsmuseum
Regenschirmmuseum, Regentropfenmuseum, Tränenmuseum
Wenn die Vögel anfangen zu sprechen, sprechen sie Mandarin.
Kleine Reise von den neunzehn Millionen zu den sechs Millionen (1)
Das alte Hangzhou am südlichen Ende des Großen Kanals – acht Tauben kreisen durch den Smog.
Zurückkommen: Zweieinhalb Jahre später dieselbe überwältigende Fremde, aber wie vertraut sie ist, wie vertraut Farben und der Blütengeruch der Stadt, selbst Gesichter glaubst du wieder-zu-erkennen. Zurückkommen wie eine Erinnerung: Denk an die Schlange von damals, im Käfig an der Straße, große Schlange zum Verzehr – ein junges Mädchen wollte sie dir verkaufen.
Nachmittags Lotus gegessen, abends den Lotus am Seeufer bestaunt, nachts die Tänzer über dem Wasser, in Lotuskostümen (Hangzhou, 11.9.)
Drei Portale
Vorm Hauptportal: Aufstellung der Parkwächter. Salutiert! Im Gleichschritt … marsch! Einer lacht, und einer grient. Und der Oberparkwächter greift den beiden in den Nacken und veralbert sich selbst – oder tut er nur so?
„Keine Notausgänge mehr. Einen Noteingang, bitte!“ (Peter Handke)
Im Gästebuch bei „Starbucks“: „Do you know who Starbuck is? He is the only one who tries to stop the gone mad Ahab.“
Die Schönheit der Wunder
Der schwere Regen, Bauch des Drachen, der sich als Schatten über die Stadt schiebt: Mit einem Mal wird es mittags stockdunkel, und ist dann das Gedonner verstummt, was für ein Geprassel! Dickste Tropfen, zwischen den Türmen tanzende Dunstsäulen, Regenhosen. Die Vorplatzüberdachung ist marode, zu lang schon sitzt dieses Raumschiff auf der Erde fest. Darunter bugsieren im Plattern auf dem Marmor Portiers und Putzfrauen auf Socken oder in Schlappen das Wasser mit überdimensionalen Schiebern die Treppen hinunter, egal, ob da einer gerade heraufflüchtet.
Der die Stufen heraufgeflüchtet kam, war einer der zwei mitgereisten Schweden. Er war nass bis auf die Haut, gerade so, als hätte ihn in Värmland auf einem Dorffeuerwehrfest ein Sommerplatzregen überrascht. Ich hielt mir meinen dicken Band mit Tranströmers Gedichten über die Stirn. Im Kopf hatte ich mitten in Shanghai einen schwedischer Vers: „Die Schönheit der Wunder war da.“ (Changning, 10.9.)
Vorboten
Auf einer bogenförmigen Antennenkonstruktion ist über der Straße eine in jede Richtung schwenkbare Videokamera installiert. Sie verfolgt Passanten, die sich auffällig (abfällig) verhalten, minutenlang. Sie ist das Auge eines unsichtbaren Überwachers mitten im erlaubten Geschehen (9.9.). Fordere seinen Blick heraus!
In der Hocke sitzend (die Entspannung), in der einen Hand die Zigarette (die Befriedigung), die andere mit Handy am Ohr (die Vernetzung) – Händler vor ihren Läden, zu Hunderten, Tausenden.
Wohltat linder Wind – woher kommt er? In welche Richtung blick ich? Er ist nur der Vorbote des Regens, und der nur das zitternde Weichen der Wolken vor dem einherprasselnden Gewitterdrachen.
Wieder Nacht, die Stille im Lärm: Für den Wohnturm gegenüber wird eine Rolltreppe geliefert.
Im Zhongshan-Park
Im „Pavillon am Ententeich der Mandarins“ schläft ein dicker halbnackter Alter auf dem angewinkelten Ellbogen, lächelnd, vor sich sein auf ihn wartendes Elektrofahrrad.
Im Zhongshan-Park dringt ein ohrenbetäubend schrilles Knarren aus den Platanengeästen, das von Vögeln, Vogeljungen, herzurühren scheint, aber von tausenden unsichtbaren Zikaden stammt. Ihr Geknarre schrillt an gegen den nicht zur Ruhe kommenden Lärm der Stadt, der den Park umtost – und es führt eine seltsame, durch und durch gehende Stille mit sich, in der unter den Bäumen die Leute auf Bänken sitzen und lesen, sich unterhalten oder ihre Qigong-Übungen machen. Zikadenwogen – ein meerlautes Branden zieht in der Dämmerung stadteinwärts durch die platanenbestandenen Straßen (8. September).
Querfeldeinwandern – umdrehen – querfeldauswandern
Die betörend schöne Sopranstimme, die durch den Park schallt – vor einem Fernseher stehend, in dem zu Kriegsbildern Karaoke-Untertitel laufen, singt nach Feierabend ein Beamter.
Eingesperrte Gewitter
Zweigeschossig, und überall stehen gelbgekleidete Angestellte und warten auf Kunden, auf Fragen: Im größten Supermarkt von Changning, im „Cloud Nine“, gibt es einen Bereich mit Käfigen und Aquarien voller lebender Tiere. Auf einem Tisch liegen wie Handtäschchen in Reih und Glied, mit verziert verschnürten Scheren, Krebse, die ab und zu einer übergießt und die dann Wasser spucken. In einem Becken daneben, staunendstill, hocken Dutzende von großen grünen Fröschen und haben so schöne Augen, dass man ins Knie bricht vor Kummer.
Ein eingesperrtes Gewitter: In dem dunklen Nachbarwohnturm arbeiten die ganze Nacht lang Schweißer.
Alte Straßenkehrerinnen fegen den Asphalt, während über die Boulevards der Verkehr brandet. Ihre Besen mit dem Bambusstiel sind handgefertigt, nicht aus Reisig, sondern Weidenzweigen, und selbst die grünen Blätter sind noch daran (Changning Lu, 7.9.).
Modern Universe Business Plaza, App. 1611: Ich habe ein Zimmer im modernen Geschäftsuniversum.
Ein Willkommensgruß
Lebendig wie ich: fliegendes schwarzes Loch im Hellen, mit dem lauernden, noch schwärzeren Auge – Krähe (Flughafen Frankfurt, 6.9.)
Leb wohl, prächtiger Tag – willkommen, prachtvolle Nacht.
Der erste Mensch in Shanghai, bei dessen Anblick ich staune und glücklich bin, ist ein kleiner Junge. Keine drei Jahre alt, steht er (gehalten von seinem Vater, oder Onkel) an der Seitenscheibe eines über die Hochautobahn preschenden Busses und blickt in die Ferne, in die Welt hinein, wie sie sich ihm zeigt: Wohnturmgebirge, Schnellstraßenpfeiler, Züge, Schiffe, Flugzeuge, der endlose Verkehr. Sein kleines Gesicht aber ist voller – nicht Freude, nicht Erstaunen: voller Liebe zu dem, was da ist (Shanghai, Lupu-Brücke, 7. September 2012)
Hurra, hurra, hurra
„Hast du nur den Hauch einer Vorstellung davon, wie es ist, den lieben langen Tag von Sorgen, Kummer und Schmerz umgeben zu sein?“ – Das Kind sah zu Boden. – „Hast du nicht!“ – Das Kind: „Manchmal öffnen sich meine Augen nicht außen, sondern gehen nach innen auf. Kennst du das?“
Ein Hurra auf das Gesindel!
„Ich frage mich, Rösler, ob Sie schon mal das Gefühl einer Levitation hatten.“ – „Wie muss ich die Frage verstehen, bitte?“ – „Die Antwort sollten Sie kennen. Kennen Sie die Antwort?“