Die Versuchsanordnung

Ich will schwimmen gehen! Die Erntesaison für die Große Wollhandkrabbe ist eröffnet.

Seit über dreißig Jahren denke ich an diesem Tag an ein Mädchen mit rotem Anorak, ein behindertes, wir sagten damals: mongoloides Mädchen, mit dem ich während eines Schulausflugs in den Harz nur ein paar Minuten lang sprach … helles Vormittagslicht unter Bäumen, irgendwo an einem Sportplatz, und sie erzählte strahlend, ohne zu ahnen, wie unvergesslich es war, am 23. September sei ihr Geburtstag.

Wie zerfahren, wie zerrüttet du dir hier mitunter vorkommst, nichts davon gibt die Folge dieser Aufzeichnungen, ihre Versuchsanordnung, wieder. Warum? Weil es so mit dem ganzen Taumel, etwas zu schreiben, ist?

Vom „choc du divers“ schreibt Victor Segalen in China. Was den Schock der Unterschiedlichkeit auslöst, das sei „alles Fremdartige, Ungewöhnliche, Unerwartete, Geheim- nisvolle“, aber, seltsam, auch alles „Verliebte, Übermenschliche, kurz all das, was anders ist“. Beinahe hundert Jahre alt ist Segalens „Essai sur l’Exotisme“. Wie das Schockierende fruchtbar machen für dich? Durch die Versuchsanordnung: „Die Welt sehen, und dann sagen, wie man die Welt sieht.“

Foto: Ein Teeverkäufer putzt seinen Drachen, Hangzhou

Was dann?

Shi Ren – der Dichter: der aus dem Volk der Gedichte
Shian Sheng – jemand, der vor dir geboren wurde und von dem du lernen kannst
Wen – fragen, küssen
Yuan – die Währung, das Ferne

„Was würden Sie gern tun anstatt zu schreiben?“ – „Nichts.“ – Gelächter – „Besser wäre, durch die Gegend zu laufen, und die Vögel und die Bäume anzusehen.“ – Ausgelassenes Gelächter.

Mittagessen in Mao Tsetungs Shanghaier Lieblingsrestaurant „Jin Mei“. Überall hinter Glas tote Schmetterlinge an den Wänden.

Und nach dem ganzen Geglitzer – was dann?

Auf Wunder folgt Wunde. Der Abschied als Einschnitt, wenn du dir sicher sein kannst, jemanden nie wiederzusehen (22.9.)

Das Lächeln

Pack ein Elektro-Transportfahrrad, eine Recyclinggüterrikscha: in das Ladegestell zwischen den Hinterreifen Leergutkästen, Metall, Holz. Darüber geschichtet Pappen, verschnürt mit Bast, anderthalbmannhoch, darauf und dazwischen, verschnürt, Altpapier, daran festgezurrt, gestopft in jede Lücke, Dosen, Pfandplastik, und drumherum, fleckig, vorn überm Lenker und überall hinten, ein weißer, lautloser Elefant auf drei Rädern, Styropor.

Expressrolltreppen – sie führen in nur jedes zweite Stockwerk. In den übersprungenen Etagen stehen Verkäuferinnen am Geländer, blicken in die Tiefe, haben Zeit („Cloud Nine“-Mall, Changning, 20.9.)

Tischtennis mit Shanghaiern. Jeder könnte ein Busfahrer sein, ist aber ein Romancier. Besuch zweier Vorzeigeschulen, Leuchtschrift: „Welcome for the authors“. Alle Schüler tragen amerikanische Zweitnamen. Ein kleines Mädchen erzählt, sie möchte Kunstlehrerin werden, ihr Mandarinname bedeutet „das Lächeln“ (21.9.).

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Die Nacht – dazwischen Tage lagen –
Der Tag der Gestern war –
War Eins – mit einem Tag von Morgen –
Und jetzt – war Nacht – war’s hier –

Blick sie hinweg – Nacht – wird nicht müde –
Ist wie der Sand am Meer –
Zu unscheinbar die Unterschiede –
Bis nie mehr – Nacht sein wird –

Emily Dickinson

Ein Archipel sein

„Sei doch nicht so negativ!“ – „Bin ich das?“ – „Was bist du sonst?“ – „Ich bin hier nicht.“

„Schreiben und Musik“ – ein Symposium. Als sie ein Kind war, erzählt die bulgarische Schriftstellerin Zdravka Evtimova, spielte nachts in ihrem Dorf der alte Nachbar Klarinette. Das waren für sie der Mond und die Sterne. Als der Alte verschwand, keiner wusste, wohin, zog sein Enkel in das Haus nebenan, und auch er spielte Klarinette. Ihn heiratete sie.

Seit Monaten erster freier Schreibtag: 20. September. Wie hinterm Smog sinken Changning, Shanghai, Gelber Fluss und China zurück. Der Streit mit Japan und Taiwan, der drohende Krieg um eine unbewohnte Inselgruppe … ich bin selbst ein Archipel, unbewohnt, uneinnehmbar.

Am Fluss mit gelbem Ufer

An der „Brücke, wo die Fische freigelassen werden“ verkaufen alte Frauen für je fünf Yuan mit Flusswasser gefüllte Plastiktüten, in denen zwei Goldfische, zwei Heringe schwimmen. Haben die in Holzbooten ablegenden Männer der Alten die Fische gefangen? Fangen sie die freigelassenen im Huangpu wieder ein? (Es gibt kein Entrinnen.)

Im Stadtgottestempel von Zhujiajiao: Beim Gebet der Mutter vor dem Buddha bleibt der Sohn neben der Knieenden stehen – reicht ihr dann Münzen für den Schlitz vor der Gebetbank. Ein Helikopter kreist überm „Venedig Chinas“. In der Tempelpagode sind in der zweiten Etage die hölzernen Wände voller Regalfächer für immer den gleichen Buddha, dem man eine Münze zwischen die Finger schieben kann. Allein unterm Dach, lass den Stock gegen die Glocke schwingen – ein stockdunkler Klang, der dich zu denen trägt, die du liebst (19. September).

An jeder Haltestelle ruft die Fahrkartenverkäuferin zum Seitenfenster des Busses die Endstation hinaus: „Platz des Volkes! Platz des Volkes!“

Foto: An der „Brücke, wo die Fische freigelassen werden“, Zhujiajiao

Als sprächen die Dinge

In Leshuan in der Provinz Sezuan ließen Lokalpolitiker gezielt künstlichen Regen erzeugen, als sie ein Technologiegelände besuchten. Solcher „bloße Anschein von Engagement selbst bei schlechtem Wetter“ müsse von höherer Stelle als verwerflich gebrandmarkt werden („Shanghai Daily“, 18.9.).

Immer wieder auch Kinder auf den Motor- und Elektrorollern. Sie stehen zwischen Lenker und Vater oder Mutter, unbehelmt, im Haar den Abgaswind, die Augen zu Schlitzen verengt. Auf ihren Gesichtern ist kein Ausdruck von Freude erkennbar, nur die feste Bestimmung.

Die Schlange an der Kasse: „der Drachenschwanz“ – wo ist der Leib, wo der Kopf?

„Ich habe so getan, als sprächen die Dinge.“ (Victor Segalen)

Elektrofahrrad: Heuschrecke

Die gekappten Platanen unter den Stadtautobahnbrücken sehen aus wie versteinerte Rieseninsekten, Gottesanbeterinnen.

Die Feuernationuniform

Viele Gesichter, männliche, weibliche, sind verborgen hinter Masken: der der Indifferenz, der Ignoranz, der der Intoleranz, die dich spüren lässt (und lassen will), du gehörst nicht dazu. Gebelfer, Schleimhochziehen, Ausrotzen, in deiner Gegenwart gern. Die Ausschlussmaske ist die zehnte vieler Shanghaier, so denn acht sichtbare und dieses eine unsichtbare Gesicht, die Tomas Tranströmer zählt, ausreichen: „Da füllt sich der Park mit Menschen. An jedem acht Gesichter, poliert wie Jade, für alle Situationen, um Irrtümer zu vermeiden. / An jedem auch das unsichtbare Gesicht: es spiegelt ,etwas, worüber man nicht spricht.‘ / Etwas, das in müden Stunden auftaucht und herb ist wie ein Schluck Kreuzotterschnaps mit dem lange schuppigen Nachgeschmack.“

Vor jeder Straßengarküche acht, immer acht Alu-Fässer mit gläsernem Deckel. Bis zum Rand gefüllt sind sie mit großen grünen zuckenden Seespinnen (Anhua Lu, 17.9.).

Sie sei gerade auf der Suche nach einer Feuernationuniform, schreibt mir meine Jüngste.

Foto: Tuschbilder von Schülern der World Foreign Language Primary School Shanghai, 2012

Uhren, Uhren, Uhren

Neben der Reinigung im Keller des Appartementhauses: ein grauer, neonerhellter Raum voller Rechner, Bildschirme, Uhren. An den Tischen sitzen vier junge Männer und überwachen die Überwachungskameras. Die Tür steht offen.

Taifun über Changning. Der Sturm fährt durch die Häuserschluchten, die Sonne scheint, es ist wie am Meer, nur ist kein Meer da.

Auch im alten französischen Viertel überall Boutiquen, Shops, Stores, Takeaways, Leute über Leute, die nichts Besseres zu tun zu haben scheinen als ihre Zeit zu vereinkaufen. Straßenhändler warten, sie in die Hinterhöfe zu locken, alle die gleichen in Plastik eingeschweißten Abbildungen in der Hand: Uhren, Uhren, Uhren, während die wahren Uhren, die prächtigen Platanen an den Straßenrändern, in den Abgasen verkommen (Julu Lu, Französische Konzession, 16. September).

Wenn du mit deinem Duft

Wenn du mit deinem Duft zu mir kommst,
seh ich deine jungen Augen, seh in die Zeit
und fühle dich, wenn du mit deinem Duft
dich zu mir legst. Ich atme ihn und dich,
ein Glück, ich atme. Es kommt eine Zeit
ohne dich, und eine Zeit wird es geben
ohne mich für dich. Jetzt bist du da.

Einer schläft, und einer stiehlt

Was immer wieder ihr Staunen erregt: Er dreht sich eine Zigarette! Das Blättchen, der Tabak in der Faust, die rasche Folge der Fingerbewegungen. Dann huscht über ihre Lippen ein Lächeln, schmal und dünn, wie deine Zunge über die Klebefläche.

Ein Tag, an dem keiner mit dir spricht außer im Keller ein Mann, der dort bügelt – ausgesprochen reicher Tag.

Einer schläft neben einem Drachen. Einer reißt Aufkleber, grüne Halme, als wären sie Gras, von einem Kleinbus. Zwei, junge Frau, junger Mann, vielleicht Geschwister, ziehen auf dem Pflaster sitzend das Plastik von Kupferdrähten, und wieder einer kalligrafiert auf das Pflaster, mit Pinsel und Regenwasser. Einer liest Yang Lian: „Es bleibt nur die Luft, die zeitlos auf dem Papier existiert in Form eines Gedichts.“ Einer trottet heim und stiehlt Beobachtungen (Dingxi Lu – Anhua Lu – Kaixuan Lu, 15.9.).

An die Mondkuchenhersteller

Angekommen am Ende der Beschaulichkeit, keinem gingen die Augen auf.

Du biegst um eine Straßenecke und gehst einen Steinwurf entfernt zur Post. Vor deinem Gesicht fuchtelt ein Uniformierter und herrscht junge Angestellte an, bis alle lächeln. Du füllst Formulare aus, als wolltest du eine Tierart, einen Fluss kaufen. Dein Brief verschwindet in einem anderen Umschlag. Zurück im Freien, ist die Straßenecke nicht mehr da, die Erde aufgegraben, und du bist verlassen und verloren (Shanghai, Kaixuan Lu, 14.9.)

Forderungen nach Verringerung ihrer verschwenderischen Verpackungen fallen bei den Mondkuchenherstellern auf taube Ohren. Zeitgleich mit dem Aufgang des Merkur wird für Sonntag ein Taifun erwartet („Shanghai Daily“).

Kleine Reise von den neunzehn Millionen zu den sechs Millionen (3)

Ein Lastwagen voller Weintrauben, vor einer Wand mit einer Zeichnung von einem Kleinkind, das einen Wolf mit Beeren füttert

„Hang Zhou“ – „Ort, den du nur mit dem Boot erreichst“

„Kaiserlicher Garten mit den singenden Pirolen in der Trauerweide“, ich sah dort wirklich einen Pirol: Gelber Pfeil, der schimpfend aus der Baumkrone floh, als ein neuer Pulk mit Plastiktrillerpfeifen bestückter Ausflügler anrückte – „Look the lotus!“

Iss Ginkgoherzen, und du erinnerst dich der Bäume im „Brisendurchwehten Zickzackhof des Lotus“.

Kleine Wolke, knapp überm Boden, woher? Weihrauchwölkchen, woher kommst du? Da steht ein winziger Blechkormoran, Hals und Schnabel dir entgegengereckt, und hält ein Stäbchen. Fisch wird Wolke, Wolke wird Vogel, alles zieht davon.

Zufall, Sprache der Welt!
Der Bettler mit den großen Zähnen und lächelnden Augen, von dem ich träumte, weil ich ihm gestern am See fünfmal nichts gab, – im Steingarten des reichen Mannes steht er wieder vor mir und nimmt lächelnd, endlich, seinen Schein (Garten von Hu Xueyan, Hangzhou, 13. September).

Fotos: Residenz von Hu Xueyan, Hangzhou,
junger Apotheker, Museum für Traditionelle Chinesische Medizin, Hangzhou

Kleine Reise von den neunzehn Millionen zu den sechs Millionen (2)

Alte Legende: Von der Bogenbrücke über den Großen Kanal sackt im Winter auf beiden Seiten der Schnee ab. Sie wirkt entzweigebrochen, wie ein getrenntes Liebespaar. Ein Kranich lässt sich auf ihr nieder, und seine Schwingen verbinden sie wieder.

Reklame: „Betrink dich im Wulin-Bezirk. Spür den Wind! Die schlaflose Stadt ist das Paradies.“

Kanalbaumuseum, Schiffbaumuseum, Abschiedsmuseum
Scherenmuseum, Messermuseum, Wundenmuseum
Schießpulvermuseum, Waffenmuseum, Erschießungsmuseum
Regenschirmmuseum, Regentropfenmuseum, Tränenmuseum

Wenn die Vögel anfangen zu sprechen, sprechen sie Mandarin.

Kleine Reise von den neunzehn Millionen zu den sechs Millionen (1)

Das alte Hangzhou am südlichen Ende des Großen Kanals – acht Tauben kreisen durch den Smog.

Zurückkommen: Zweieinhalb Jahre später dieselbe überwältigende Fremde, aber wie vertraut sie ist, wie vertraut Farben und der Blütengeruch der Stadt, selbst Gesichter glaubst du wieder-zu-erkennen. Zurückkommen wie eine Erinnerung: Denk an die Schlange von damals, im Käfig an der Straße, große Schlange zum Verzehr – ein junges Mädchen wollte sie dir verkaufen.

Nachmittags Lotus gegessen, abends den Lotus am Seeufer bestaunt, nachts die Tänzer über dem Wasser, in Lotuskostümen (Hangzhou, 11.9.)

Drei Portale

Vorm Hauptportal: Aufstellung der Parkwächter. Salutiert! Im Gleichschritt … marsch! Einer lacht, und einer grient. Und der Oberparkwächter greift den beiden in den Nacken und veralbert sich selbst – oder tut er nur so?

„Keine Notausgänge mehr. Einen Noteingang, bitte!“ (Peter Handke)

Im Gästebuch bei „Starbucks“: „Do you know who Starbuck is? He is the only one who tries to stop the gone mad Ahab.“

Die Schönheit der Wunder

Der schwere Regen, Bauch des Drachen, der sich als Schatten über die Stadt schiebt: Mit einem Mal wird es mittags stockdunkel, und ist dann das Gedonner verstummt, was für ein Geprassel! Dickste Tropfen, zwischen den Türmen tanzende Dunstsäulen, Regenhosen. Die Vorplatzüberdachung ist marode, zu lang schon sitzt dieses Raumschiff auf der Erde fest. Darunter bugsieren im Plattern auf dem Marmor Portiers und Putzfrauen auf Socken oder in Schlappen das Wasser mit überdimensionalen Schiebern die Treppen hinunter, egal, ob da einer gerade heraufflüchtet.

Der die Stufen heraufgeflüchtet kam, war einer der zwei mitgereisten Schweden. Er war nass bis auf die Haut, gerade so, als hätte ihn in Värmland auf einem Dorffeuerwehrfest ein Sommerplatzregen überrascht. Ich hielt mir meinen dicken Band mit Tranströmers Gedichten über die Stirn. Im Kopf hatte ich mitten in Shanghai einen schwedischer Vers: „Die Schönheit der Wunder war da.“ (Changning, 10.9.)

Das Unausbleibliche

„Mit Gemälden ist es oft so wie mit Frauen“, sagte Lu Xinghua während unserer gemeinsamen Lesung über Unterschiede von Bildbeschreibungen und -deutungen, „man kann stundenlang vor ihnen stehen, und nicht das Geringste passiert. Nein. Man muss ihre Gunst erlangen.“ Lu Xinghua deutet eines der derzeit meistdiskutierten Bilder Chinas, Liu Xiadongs „Out of Beichuan“, in seinem Essay „Was soll die zeitgenössische Kunst machen?“ so: „Das Gemälde Out of Beichuan stellt die gebrochene Erde, das Überleben der Menschen und die Ungewissheit der Zukunft dar. Der zerstörte Boden bildet den Hintergrund. Zwar ist die Natur zerbrochen, doch sie ist mit ganzem Herzen gemalt. Die tote Natur ist der eigentliche Hintergrund. In Beichuan sehen wir am Kampf von Mensch und Natur, dass die Menschen und die von ihnen errichtete Welt besiegt wurden. Was macht die Darstellung einer solchen Niederlage sinnvoll? Wenn man den Boden betrachtet, gibt es dort noch Wege. Aber da ist kein Weg in die Berge mehr, nur noch ein Weg nach außen. Die Menschen sind Dämonen in einer Ecke des Bildes, eine Gruppe kranker Zombies. Der Künstler quetscht uns aus: Wo ist der Ausweg? Bereits vor dem Nahen des Lebensendes sollte man nachdenken, dazu gibt ein Erdbeben die Gelegenheit. Was die Künstler heute machen sollen, ist nicht, wie Hexen, religiöse Rituale für uns durchführen oder Feng-Shui betreiben, um uns zu helfen, der großen Katastrophe zu entgehen. Sondern sie sollen das unausbleibliche Endergebnis solcher Katastrophen in die Länge ziehen, glattbügeln und lebensecht vor die Zuschauer stellen, vielleicht sogar noch heftiger machen, sodass wir gezwungen werden, es deutlich zu sehen, damit uns die Hilflosigkeit irgendwann tapferer macht.“

Foto: Liu Xiaodong, „Out of Beichuan“, Öl auf Leinwand, 300 x 400 cm (2010) © Liu Xiaodong

Vorboten

Auf einer bogenförmigen Antennenkonstruktion ist über der Straße eine in jede Richtung schwenkbare Videokamera installiert. Sie verfolgt Passanten, die sich auffällig (abfällig) verhalten, minutenlang. Sie ist das Auge eines unsichtbaren Überwachers mitten im erlaubten Geschehen (9.9.). Fordere seinen Blick heraus!

In der Hocke sitzend (die Entspannung), in der einen Hand die Zigarette (die Befriedigung), die andere mit Handy am Ohr (die Vernetzung) – Händler vor ihren Läden, zu Hunderten, Tausenden.

Wohltat linder Wind – woher kommt er? In welche Richtung blick ich? Er ist nur der Vorbote des Regens, und der nur das zitternde Weichen der Wolken vor dem einherprasselnden Gewitterdrachen.

Wieder Nacht, die Stille im Lärm: Für den Wohnturm gegenüber wird eine Rolltreppe geliefert.

Im Zhongshan-Park

Im „Pavillon am Ententeich der Mandarins“ schläft ein dicker halbnackter Alter auf dem angewinkelten Ellbogen, lächelnd, vor sich sein auf ihn wartendes Elektrofahrrad.

Im Zhongshan-Park dringt ein ohrenbetäubend schrilles Knarren aus den Platanengeästen, das von Vögeln, Vogeljungen, herzurühren scheint, aber von tausenden unsichtbaren Zikaden stammt. Ihr Geknarre schrillt an gegen den nicht zur Ruhe kommenden Lärm der Stadt, der den Park umtost – und es führt eine seltsame, durch und durch gehende Stille mit sich, in der unter den Bäumen die Leute auf Bänken sitzen und lesen, sich unterhalten oder ihre Qigong-Übungen machen. Zikadenwogen – ein meerlautes Branden zieht in der Dämmerung stadteinwärts durch die platanenbestandenen Straßen (8. September).

Querfeldeinwandern – umdrehen – querfeldauswandern

Die betörend schöne Sopranstimme, die durch den Park schallt – vor einem Fernseher stehend, in dem zu Kriegsbildern Karaoke-Untertitel laufen, singt nach Feierabend ein Beamter.

Eingesperrte Gewitter

Zweigeschossig, und überall stehen gelbgekleidete Angestellte und warten auf Kunden, auf Fragen: Im größten Supermarkt von Changning, im „Cloud Nine“, gibt es einen Bereich mit Käfigen und Aquarien voller lebender Tiere. Auf einem Tisch liegen wie Handtäschchen in Reih und Glied, mit verziert verschnürten Scheren, Krebse, die ab und zu einer übergießt und die dann Wasser spucken. In einem Becken daneben, staunendstill, hocken Dutzende von großen grünen Fröschen und haben so schöne Augen, dass man ins Knie bricht vor Kummer.

Ein eingesperrtes Gewitter: In dem dunklen Nachbarwohnturm arbeiten die ganze Nacht lang Schweißer.

Alte Straßenkehrerinnen fegen den Asphalt, während über die Boulevards der Verkehr brandet. Ihre Besen mit dem Bambusstiel sind handgefertigt, nicht aus Reisig, sondern Weidenzweigen, und selbst die grünen Blätter sind noch daran (Changning Lu, 7.9.).

Modern Universe Business Plaza, App. 1611: Ich habe ein Zimmer im modernen Geschäftsuniversum.

Ein Willkommensgruß

Lebendig wie ich: fliegendes schwarzes Loch im Hellen, mit dem lauernden, noch schwärzeren Auge – Krähe (Flughafen Frankfurt, 6.9.)

Leb wohl, prächtiger Tag – willkommen, prachtvolle Nacht.

Der erste Mensch in Shanghai, bei dessen Anblick ich staune und glücklich bin, ist ein kleiner Junge. Keine drei Jahre alt, steht er (gehalten von seinem Vater, oder Onkel) an der Seitenscheibe eines über die Hochautobahn preschenden Busses und blickt in die Ferne, in die Welt hinein, wie sie sich ihm zeigt: Wohnturmgebirge, Schnellstraßenpfeiler, Züge, Schiffe, Flugzeuge, der endlose Verkehr. Sein kleines Gesicht aber ist voller – nicht Freude, nicht Erstaunen: voller Liebe zu dem, was da ist (Shanghai, Lupu-Brücke, 7. September 2012)

Ground Zero

Ein Früher, ein Nachher
scheint jetzt ein öder Ort,
als könnte dort bloß mehr,

bloß weniger von allem sein,
gelebt ein Leben, weil es ja
ein Leben ist, wenn schon nicht mehr.

Und vor der Tür Verkehr
genauso wie vorher.
Wenn ich schon Jahre nicht mehr bin,

stellt sich ein Anderer hier hin
und öffnet sie vielleicht,
sieht nach, was draußen ist –

selbst wenn da gar nichts ist,
nie etwas war,
nur alles irgendwie verlorenging.

Bleibt stur, macht weiter, glaubt.
Und wenn uns bloß zu träumen bleibt,
ganz gleich, was einer glaubt

von Welten, ganz gleich, wo –
es warten Leute da,
erkennen uns, die kommen,

wenn aller Streit vorüber ist,
trist aller Kampf verlorn oder gewonnen
und alles Staub.

Robert Creeley

Hurra, hurra, hurra

„Hast du nur den Hauch einer Vorstellung davon, wie es ist, den lieben langen Tag von Sorgen, Kummer und Schmerz umgeben zu sein?“ – Das Kind sah zu Boden. – „Hast du nicht!“ – Das Kind: „Manchmal öffnen sich meine Augen nicht außen, sondern gehen nach innen auf. Kennst du das?“

Ein Hurra auf das Gesindel!

„Ich frage mich, Rösler, ob Sie schon mal das Gefühl einer Levitation hatten.“ – „Wie muss ich die Frage verstehen, bitte?“ – „Die Antwort sollten Sie kennen. Kennen Sie die Antwort?“

Sieh nur

Im Antiquariat der Behindertenwerkstatt, meine Tochter kramte in Kisten nach Mangas, und mir fiel unverhofft, ungelesen, Tomas Tranströmers lyrisches Werk in die Hand. Fünf Hefte „Sailor Moon“ und die „Sämtlichen Gedichte“ trugen wir zur Kasse, wo ich meinen Fund aufschlug und im Hinausgehen las: Straßen in Shanghai // … Ich bin umgeben von Schriftzeichen, die ich nicht deuten kann, ich bin durch und durch Analphabet. / Doch ich habe bezahlt, was ich mußte, und habe für alles eine Quittung. / Ich habe viele unleserliche Quittungen gesammelt. / Ich bin ein alter Baum mit welkem Laub, das noch dranhängt und nicht zu Boden fallen kann. // Und ein Hauch von der See bringt all diese Quittungen zum Rascheln …“ (Alsterdorf, ein paar Tage vor dem Flug nach China, 1. – 3.9.)

Seit Tagen die schönsten Wolkenzeichnungen am Nachthimmel – Fisch, Wal, Zirrostratuslinienmuster unter dem kühlhell abnehmenden Mond. Die Schönheit der Welt, schreibt das Feuilleton über Terrence Malicks neuen Film „To the Wonder – Dem Wunder entgegen“, könne wohl den Durst nach Sinn nicht mehr stillen. Ist dem so? Eine Frage der Richtung, wenn nicht der Wolkenrichtung. „To the Wonder“ meint ja nicht „towards wonder“, sondern, schlicht, „Zum Wunder“ (eine Anmerkung) oder auch „An das Wunder“ (eine Epistel): Es ist da, so, wie es ist. Sieh nur!

Foto: Zhongshan-Park, Changning, Shanghai

Zurüstungen für die Sterblichkeit

Im Radio Techno: „Hört euch das an“, sagt der Moderator, „habt ihr das Jahr erkannt? Der Beat ist so schnell, dass er von heute nicht sein kann. Richtig: 1996! Sechzehn Jahre alt, das Teil. Denn so schnell, ihr Lieben, tanzen wir heute nicht mehr …“ – und ich staune.

Finde erneut, und erneut, den Weg zurück ins Gedicht. Geh deine Achten, mit der Neugier der Wespe, die deinen Aschenbecher untersucht (2.9.).

„Einmal ist mir im Zug ein Ritter begegnet.“ – „Mit einer Rüstung?“ – „Nein, nur mit Helm.“ – „Und hatte er sein Pferd dabei?“ – „Nein, aber er hatte ein Plastikbein.“

Die Bienen von Fuhlsbüttel

Über Nacht, so scheint es, über Nacht
sind alle Blüten gekommen. Die Bienen
schwärmen aus, sie fliegen, beschwingt
vom ersten dünnen Aprillicht über den
silbernen Rollbahnen. Wissen Bienen,
dass die schöne Saumseligkeit eine
vorgetäuschte ist?
mmmm mmmmmFlughafenbienen!
Erhöhte Schadstoffbelastung der Luft
lässt sie in ihren Kästen bleiben, Licht,
Duft weitgereister Flugbegleiterinnen,
den Margeriten in Kübeln zum Trotz.
Fliegen die Bienen, fliegen Maschinen.
Über Nacht, so scheint es, über Nacht.

Das geglückte Scheitern

„Vielleicht musst du in der Macht des Lärms / die Ruhe neu ergründen …“ – wieder so ein Tag, der ein Gedicht unter sich begrub.

Peter Handkes schicksalhafter Irrtum, die erzählende Form, das Bild, unmittelbar ins Glücken zwingen zu können. Wann kam es zu diesem Kollaps, was löste ihn aus? Seit der „Kindergeschichte“, mitten in „Langsame Heimkehr“, vor über 30 Jahren, setzt die fortwährend scheiternde Gestelztheit ein. Aber lies die (Alltags-, Reise-, Traum-)Journale – das brüchig-flüchtig fragmentarische Fragen, wie es glänzt und lebt! Endlos hinausgezögerte Ankunft – denn das, wonach Handke wohl sucht, das Wahrhafte jeden Augenblicks, von dem sich ebenso wahrhaft erzählen ließe, gibt es nicht (mehr), es sei denn in den Welten der wirklichen Kinder.

Der Junge reicht dem vor ihm stehenden Mann bis zur Hüfte, aber er spricht, bringt seinen Wunsch (eine Klage?) vor – und wartet die Reaktion ab. Und der Bademeister, den Kopf schiefgelegt, neigt sich herab, hört zu und geht dann, die Hand auf den nassen Scheitel des Jungen gelegt, davon, um die Sache zu ändern (Eppendorf, 1. September).

Überall

Ein Metallrohr, an dem der Fetzen einer Plastikplane weht – der Wind macht einen Reiher daraus.

Überall schwirren die Wildenten über dich hin mit dem Quietschen alter Nähmaschinen.

Sechs Tage bis zum Abflug nach Shanghai: Statt CHIEMSEE lese ich CHINESE (31.8.)

Durchleuchtet

Worauf sind wir noch neugierig? Auf die Verlassenheit, ob sie eine Gottverlassenheit ist? Ob wir es sind, du und ich, die Verlassenen? Da kriecht ein Roboter durch den Sand des Mars und funkt Fotos von leeren roten Schotterhalden zigtausende Kilometer weit durchs All: „Curiosity“, Neugier, warum berührt mich dieser Blick? (29.8.)

„Keine Sorge – wenn er stirbt, nehmen wir aus einem anderen toten eine Platine und setzen sie ihm ein.“ – „Du meinst, mein Rechner stirbt?“ – „Er ist so gut wie tot.“

Es geht ums Durchleuchten, Erkennen des Schmerzherdes, Ausschaltenkönnen, wenigstens Lindern des Schmerzes: Als Bedienungsmodule, Angestellte, Personal in aseptischem Weiß, mit Mundschutz, sitzen sie inmitten der kühlsilbernen Geräte des Kernspinzentrums, nicht zu erkennen, wem von ihnen, ob überhaupt einem von ihnen etwas wehtut (Jungfernstieg, 30. August).

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