Verbunden mit dem Licht der Sterne
„In der gewöhnlichen Rede dienen die Wörter dazu, an die Gegenstände zu erinnern – wenn aber die Sprache wirklich poetisch ist, dienen die Gegenstände immer dazu, an die Wörter zu erinnern.“ Joseph Joubert
Canetti über Joubert: „Er nimmt Geistiges auf, als wäre es eine Bewegung der Luft. Gedanken und Worte empfindet er als Atem oder als das Auf- und Niederschweben von Vögeln.“
„Wenn du etwas sehen willst, das dir gehört, mach die Augen zu“, hieß es in meiner Familie den Kindern gegenüber. Genau das ist es, was sie, was wir den Eltern, den Alten noch immer viel zu selten sagen: „Wenn ihr wissen wollt, was wir euch schulden, macht die Augen zu.“
Weshalb ich hier immer wieder auch von dir schreibe, von mir, aber dann wieder auch von dir: damit hier gelüftet wird. Damit hier gar nicht erst der Mief der Ichsucht wabert. Und damit auch du dich gemeint fühlen kannst. Okay?
Den ganzen Tag lang hat es geschneit, hat die Wirklichkeit sich erholt.
Wir gingen spazieren, mein Herz und ich. An einem grauen Fluss – die Dämmerung – sah ich einen Alten ins Wasser springen, mir sicher, dass er sich das Leben nehmen wollte. Ich sprang ihm also hinterher, der Jüngere dem Alten, dachte im Sprung an meine Liebste und daran, dass es womöglich besser gewesen wäre, zuerst die Schuhe auszuziehen … als ich eintauchte, tief in das auf einmal hell flaschengrüne Wasser. Auf der Stelle sah ich unter Wasser dutzende großer, mit riesigen Zähnen ausgestatteter Fische, die mich nicht entkommen lassen würden. Ich weinte innerlich, weil kein Abschied möglich war. (2.3.)
Eines der ergreifendsten Lieder der Welt, Pete Townshends I am secure von seinem Album „White City: A Novel“ von 1985. Darin singt er: „This is my cell. But it is connected to starlight.“
Drei Flüsse an einem winterlichen Tag
Als Heinrich Voß Hölderlins „Antigone“-Nachdichtung gelesen hatte, trompetete er los – wahrscheinlich stand Goethe aufgeblasen irgendwo im Mittelpunkt eines Saals: „Ja, ist der rasend? Oder tut er bloß so?“ Und alle lachten, weil sie Vossens Tröten in ihrer Dumpfheit für einen Witz hielten. Goethe nickte dem Paladin zu. Nur Voß selber wusste – oder ahnte, er wusste nicht so recht, wo der Unterschied war –, dass seine Frage bitterem Ernst entsprang. Er selbst musste tot sein, ohne es gemerkt zu haben. Dieser Verdacht erhärtete sich ihm, als er den feisten Gecken von Goethe da mitten im Raum stehen sah, wie er den jungen Dingern in den Ausschnitt stierte. Ja, tot, alle waren sie längst tot.
Bei starkem Frost kracht das Haus in der Nacht – so laut, als krachte die Nacht.
Es gibt auch leuchtende Beleidigungen und Verunglimpfungen. „Was sind denn Sie für einer?“, sagt eine Frau im Supermarkt zu einem fremden Herrn. „Sie Notizblock. Sie karierter. Gehen Sie mir aus dem Weg, oder ich schreibe Sie voll.“
„Die üble Nachrede erleichtert die Boshaftigkeit.“ Joseph Joubert
Drei Flüsse an einem winterlichen Tag, der kein Ende nehmen wollte: die Eisenbahnhochbrücke bei Eglisau über den schweizerischen Rhein – dunkelgrün in der Sonne der Fluss dort unten. Der Neckar dort, wo er noch schmal ist, wo Hölderlin wanderte. Brauner, durchsichtiger Neckar, die Ufer schneebeladen. In der späten Nacht höre ich das Rauschen der Regnitz, im Winter klingt es anders, aber es ist derselbe Ort, an dem ich im Sommer mit meinem Herzen im Fluss schwamm. (Bamberg, 28.2.)
Ein innerer Wellengang
Schockierende Begegnung mit dem Gesicht des früheren Freundes, der einst so laut, so überzeugt von sich, so über alle Maßen demonstrativ und widerständig schien. Aufgedunsen, still, verharrend im Abwarten auf das, was ihn ereilen mag. Man hat nie mit ihm sprechen, immer nur reden können. Sprechen mit ihm hieß stets, nach Bedeutungen zu suchen in seiner demonstrativen Sprache, dem Sich-kund-und-groß-Tun über Frauen, Musik, Bücher, Leute, Politik, Autos, seine vor sich her getragenen Ansichten. Alles hat dich geprägt. Alles konntest du verwerfen – oder umformen und dir anverwandeln. Sein hilfloses, nein ratloses Gesicht. Das vertraute Antlitz. Selbst einigen deiner Gedichte ist es eingeschrieben, und endlich – sagst du dir erleichtert – zeitigt es die ihn von Anfang an aufzehrende Verlassenheit. Für deine Zuwendung aber ist es lange schon zu spät, zu spät, zu spät. Zu spät! (Uhlenhorst, 18.2.)
Ein innerer Wellengang, der Blutzuckerspiegel.
Oh du schönes, anschauliches Beispiel für die Zermürbungsmechanik meines Gedächtnisses (dieses angebliche „Sich-erinnern“): Nie vergessen habe ich Robert Kellys auf Deutsch nur in einem Rowohlt-Literaturmagazin erschienenen Gedichtzyklus „Postkarten aus der Unterwelt“ – woran genau aber ich mich entsinne, ist, abgesehen von dem spröde-erstaunten Ton der Gedichte, lediglich eine einzige Metapher: „In der Unterwelt ist es so eng wie in einem Toaster.“ Wo habe ich das seinerzeit, Mitte der Neunziger wohl, gehört oder gelesen? Wiedergefunden über das Internet (verzeichnet auf einer kalifornischen Uni-Seite) und das Buch endlich (wieder?) selbst in Händen (Rowohlt „Literaturmagazin“ 34, „Über das Darstellbare“, Reinbek bei Hamburg, September 1994), liegen vor mir die Scherben eines Textes, den es nie gegeben hat. Bei Kelly (in der Übersetzung von „Frederic C. Hosenkeel“ aka Schuldt) heißt es zu Beginn des 24. und abschließenden Teils von „Postkarten aus der Unterwelt“: „In jenem Land gibt es eine Entfernung / die zwischen zwei Menschen paßt wie Brot in einen Toaster.“
Retzlaff & Stoffregen
Hier ist nichts. Keine Seele. Die Leute, allesamt freundlich, scheinen zu warten, die Zeit totzuschlagen mit dem Warten darauf, wieder arbeiten zu können. Morgens weckt dich das Branden des Verkehrs. Die Wagen brausen heran und hinein in den Tunnel unter der Stadt, um rascher in die Großstadt zu gelangen. Endlich wieder aus dem Haus! Zur Arbeit! Du gehst durch graue Siedlungen, alles ist friedlich, alles geordnet und ordentlich, pragmatische Paläste mit Vorgärten und Müllhäuschengassen. Das Altglas fällt metertief in unterirdische Behälter. Roboter auf den Straßen, die Hunde(roboter) ausführen, würden nicht verstören, kaum auffallen. Vom Zug aus siehst du einen Schriftzug auf einem Bürogebäude: ANGST & PFISTER. Es ist alles gut so. (11.2.)
Und war sie unzufrieden mit ihrem Äußeren, ihrem Gesicht, ihrem Augenglanz, dann schnitt sie sich den Pony kurz, radikal kurz, so kurz, dass sie vor dem Spiegel erschrak.
Die erschrockenen Gesichter Giacomettis und Walsers auf den 100- und 200-Franken-Banknoten.
Der Schnee bleibt liegen im Schatten der Waldungen oben auf den Hängen und Hügelkuppen. Der weiße Schatten. (Lenzburg, Goffersberg, dem „Gofi“, 13.2.)
Drôle de mère.
Bin ich etwa selbst der Retzlaff?
Im Schwimmbad hörst du den Beginn, den allerersten Satz eines Gesprächs zwischen zwei einander fremden Jungs: „Wollen wir Freunde sein?“ Dann beginnt das Spielen.
Mein Exemplar von Simenons „Die Phantome des Hutmachers“ hat auf dem Schmutzblatt ein Exlibris: „Dr. Stoffregen 28.10.82“. Der Roman – er beschäftigt meine Fantasie seit Jahrzehnten (und immerzu regnet es), beginnt, nein es ist der zweite Absatz, in dem es heißt: „Und es regnete seit dem 13. November. Ja, man konnte behaupten, es regnete ohne Unterlass seit zwanzig Tagen.“
Flämmchen
Die Wörter sind undankbare Begleiter. Man muss sie liegenlassen und, statt sie im Kopf herumzuwälzen – unter der Schädeldecke, in der Mundhöhle, am Gaumensegel –, den Leuten ins Gesicht blicken: „Ich gebe nicht auf. Ich fange noch mal von vorne an“, wie Lars Gustafsson schrieb.
Das 122. Fragment Heraklits aus „Über die Natur“ besteht aus einem einzigen Wort: „Annäherung“.
Jedes Zündholz, das abbrennt, waagerecht gehalten, zeigt in seinem Flämmchen deinen Namen.
Die Namen der Kornblume: Blaufruchtblust, Blaumütze, Bloch Kühreblome, Chorenpluem, Flessän-Durt, Hunger, Hungerblom, Karenbloimeken, Karnblume, Kleinblume, Korenblum, Kooreblome, blau Kornnägelein, Kürnbleamen, Kwast, Rockenblum, Roggeblöme, Roggenblom, Roggenblume, Rogghebloem, Ruschelinc, Schanelke, Schneider, blaue Schneider, Sechel, Sichelblume, Strämpsen, Thremse, Trämpst, Trehms, Trembsen, Tremisse, Trempen, blagen Trems, Tremse, Weydblum, Weitblum, Zachariasblume, Ziegebock, Ziegenbein, Zyane.
„Denken Krabben, dass Fische fliegen?“, fragt das Kind.
Wo keiner liebt, wohnt niemand.
Wenn sie einsam war, redete sie mit ihrem Lieblingspullover: „Heute nimmst du mal ein Bad. Keine Widerrede!“
Die Birnenkonferenz!
Avignon
Das Blau der Seen von Estarron und Ste. Croix ist dunkelgrün, ihr Wasser so kalt wie Schnee. Terrassenstufen die Ufer. Niemand ist dort im Winter, wo in den heißen Sommermonaten der ganze Luberon zu baden und zu lachen scheint.
Die Dohlen von Volx! Jetzt, da die Feigenbäume kahl sind, schwirren sie spottend um den Kirchturm.
Jean Giono über sein Geburtshaus in Manosque: „Zu dritt: Mein Vater, meine Mutter und ich, wir hatten allen Platz, den wir brauchten – ein riesiges Haus (Grand-Rue Nr. 14) mit mehr als zwanzig Räumen, alle groß genug, um darin auf einem Pferd zu reiten, und mit einer Zimmerdecke höher als die Nacht. Wir waren so frei wie die Luft. Ah! Natürlich, das Haus war völlig heruntergekommen: Der Fußboden schwankte wie die Brücke eines Schiffs … Das Dach hatte Löcher wie ein Sieb. Es regnete auf mein Bett.“
Kein Augenblick, noch nicht mal der schlimmste, dauert länger als ein anderer. In Avignon, im Verlauf eines dreiminütigen Halts des TGV, wird dir aus dem geschlossenen Koffer der Laptop gestohlen – und du verlierst große Teile der unsichtbaren Fundamente deines Werks. Selbst schuld, wenn du die Gedichte und Übertragungen nicht sicherst, wenn du dein Gepäck im Rücken verstaust und wenn du einen schmierigen Kleinkriminellen, der mit dir im Abteil sitzt und es gar nicht für nötig befindet, sein Naturell zu verbergen, nicht im Auge behältst. Ist hier die Grenze der Poesie? Nein. Auch hier, selbst hier, bei diesem Raub eines Stücks deines Lebens, findest du sie nicht. Verloren ist unter anderem das rote Tuch, mit dem du immer die Laptop-Tastatur abgedeckt hast, ein Tuch, das du 1983 gekauft hast – bei „Michelle“ am Hamburger Glockengießerwall, um damit deine Schallplatten staubfrei zu wischen –, blass-schwarz stand ANTI-STATIC darauf. Der Dieb dürfte den richtigen Moment abgepasst haben: In Avignon gingen die Waggontüren auf, da stand er schon in deinem Rücken, er öffnete den Kofferreißverschluss, nahm die Laptop-Tasche heraus, schloss den Kofferreißverschluss wieder (womit er sich als der Besitzer ausgab – clever, mon frère) und stieg aus … indem er die gestohlene Tasche in seinem Rucksack verschwinden ließ. Du vermisst dein australisches Reisejournal „Erzähl es den Bienen“. Du vermisst eine Handvoll Übersetzungen von Gedichten Emily Dickinsons. Du vermisst an die hundertfünfzig Gedichte. Du vermisst Übertragungen von Gedichten von Robert Creeley, E. E. Cummings, Frances Leviston, Walt Whitman … und vieles mehr. Es ist ein tiefgreifender Einschnitt. Aber es ist weit mehr, wenn du das Ganze poetisch betrachtest – als Lebensereignis – und deine Lektion in ihrer existenziellen Tiefe zu begreifen versuchst.
Den ganzen Tag lang Bonnie „Prince“ Billy gehört. „For an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy – and then it all went a-black“. „One of maybe 140 humans alive today“, schreibt auf Youtube „hermeschbird“ über Will Oldham.
Im Jahr 2118
Liebe Linda Jahilo,
im Jahr 2118 wird meine Urururenkelin ein altes Buch aus Papier mit Gedichten ihres Urururgroßvaters zur Hand nehmen und darin lesen. Sie wird Linda heißen, so wie Sie, eigentlich aber, weil ihre Mutter, meine Ururenkelin, ihre Tochter nach einer Romanfigur von mir benannt hat – ein junges Mädchen, das in meinem Roman „Lichter als der Tag“ das Elsternkind genannt wird und das zusammen mit ihrem Vater im Musée des Beaux Arts in Lyon ein Gemälde von Camille Corot stiehlt. Linda hat nicht mehr sehr viele Bücher aus Papier in ihrem unterirdischen Wohnturm. Sie liebt aber die Stimme, die aus der Tiefe der Zeit zu ihr spricht, die Musik der Wörter, die ihr auch eine Musik der Bedeutungen zu sein scheint. Die Gedichte in dem Band, der genau 100 Jahre alt ist und ein leeres rotes Bett vor einer grünen Wand zeigt – er heißt „Wimpern und Asche“ –, bewahren für sie eine seltsame Kraft auf, eine Stärke, die sich auf sie überträgt, weshalb sie immer wieder in den Gedichten liest und sie wie einen Schatz verwahrt. Linda glaubt, den Reichtum der Welt zwischen den Zeilen hindurchleuchten zu sehen, eine Pracht, die unvergänglich ist und keinen Namen benötigt.
Zwischen Rhône und Durance
Die Rhône bei Avignon, so breit und weit das Auge reicht. Hochwasser bis zum Horizont. Über die silbernen Wasserebenen ziehen Vogelschwärme hin, ganz so, als gäbe es die Menschen nicht mehr. Nebelbänke fluten durch die Engpässe des Hügellands. Baumreihen und Wäldchen sind versunken, die Scheunen und Weiden auf den Inseln im überschwemmten Strom verlassen. Dies ist die Landschaft des neuen Romans „Letzte Linie zum Meer“.
Die Felshänge, die das Hochplateau von Valensole, dem „Tal in der Sonne“, begrenzen, sind am Ende des Winters – denn hier ist der Winter so gut wie vergangen – vom genau selben blassen und matten Graugrün wie die endlosen Reihen des Lavendels auf den Felderweiten – abgeblüht, schlafend, wie träumend kurz vor dem neuerlichen Erwachen. (St. Kurs, 28.1.)
Nichts hat Bestand von deinen Kindheitsorten, nur in deiner Erinnerung – weshalb das wohl ihre Aufgabe sein wird. In Bras d’Asse, rechts der heruntergekommenen Brücke (sie ist eine alte Madame, Jahrgang 1881, Victor Hugo lebte noch) über den Asse-Fluss, der Pont d’Asse, stand vor dreißig Jahren eine kleine Bar, ein Imbiss für die Familien, die auf dem Schotter des Flussbetts ihre Sommernachmittage verbrachten. Als hätte es dieses Häuschen nie gegeben, ist an dem Fleck heute alles verwildert, überschwemmt, mit Schutt zugeschoben. Solange dort niemand geht, der als Kind dort spielte, ist alles verschwunden, was einmal anders war … Erst mit der Erinnerung, die lebendig wird mit den Schritten hier, lebt auch der Ort wieder auf und wird Ufer. Die Stille der sich fortwährend verändernden Welt ist zu hören, durch die Erinnerung hört die Stille der Welt auf zu schweigen.
Der Mistral trocknet die Wäsche auf der Terrasse in einer halben Stunde.
Nebenan wohnt die Orthophonistin.
Was wir nicht sind
Zwei weitere kurze Auszüge aus Richard Fords „Memoir“ „Between Them“, „Zwischen ihnen“, übersetzt von Frank Heibert: 1. „Dieser Aspekt der Beziehung zu unseren Eltern wird oft übersehen oder geringgeschätzt: Sie verknüpfen uns in unserem begrenzten Lebensrahmen mit etwas, das wir nicht sind; das sorgt für Nähe und Fremdheit zugleich und schafft ein fruchtbares Geheimnis – sodass wir auch umgeben von ihnen in gewisser Weise allein sind.“ 2. „Diese Lektion [wie andere Leute die eigene Mutter sehen – M.B.] lernt man natürlich am besten früh – niedlich, klein, schwarzhaarig, eins vierundsechzig –, weil das umfassende Kennenlernen unserer Eltern zu den größten Herausforderungen für uns alle gehört – vorausgesetzt, sie leben lang genug und es ist lohnenswert, sie kennenzulernen, und überhaupt physisch möglich. Je umfassender der Blick auf unsere Eltern ist – ein Blick, der letztlich einschließt, wie die Welt unsere Eltern sieht –, desto größer unsere Chancen, auch die Welt so zu sehen, wie sie ist.“
Vergeblichkeit
Ausflug in die Nekropole
„Ich betrachte dieses Heft, ich habe nur das Datum geschrieben, ich hebe den Kopf, ein Sperling schlägt am Himmel die Flügel, und voilà: Meine Seite ist geschrieben, der Vogel trägt gerade den ganzen Tag auf seinen Flügeln.“ Christian Bobin
Im Regal – dem „Sideboard“ – stehen sechs Geräte und blinken vor sich hin. Was ist ihre Aufgabe, ich meine: Was bedeuten sie? Was wollen die? Etwas wissen? Etwas mitteilen? Etwas vergessen oder vergessen machen? Etwas vermitteln oder unvermittelbar halten?
Seit vier Tagen schüttet es. Auf den Straßen keine Seele. Nur die Katze kommt frühmorgens, mittags und abends zu dir. Liegt auf deinem Schreibtisch vor dem grauen Garten, als würde sie sagen: „Schreib nicht, okay? Was soll das Ganze?“
Wunder geschehen – ich weiß es –, und mitunter sind sie elektrisch. Der Elektro-Installateur ist ein Amateur im besten Wortsinn: Er liebt, was er da tut. Für die Reparatur des Geschirrspülers will er kein Geld, auf keinen Fall. „Ich mache das für Sie“, sagt er, „ich mache das aber auch für mich, aus Neugier, als Herausforderung.“
In Marseille erkenne ich an den Hauswänden die alten Graffiti und Wandsprüche wieder, nicht die gleichen von vor 20 Jahren – Januar 1998 –, sondern dieselben. Auch in diese Stadt bin ich immer wieder zurückgekehrt – zufällig? Wohl kaum. Wie Frankfurt und Innsbruck ist Marseille eine der Hauptstädte in meinem poetischen Kosmos. Einige der besten Passagen aus „Ein langsamer Sturz“ nehmen in Marseille ihren Ausgang. In Marseille, im C.I.P.M., dem internationalen Poesiezentrum, einer der bedeutendsten Lyrikbibliotheken Europas, las ich im Sommer 1997 zum ersten Mal Gedichte von Ghérasim Luca und fing an, ihn zu übertragen. „Die verzweiflung hat drei paar beine …“ Die kürzeste Erzählung in meinem Band „Feuerland“ heißt „Tauchen“ und spielt in Marseille – sie ist ursprünglich ein ausgegliedertes Kapitel aus „Ein langsamer Sturz“, doch ich habe die Geschichte 15, 17 Jahre lang immer wieder bearbeitet und
umgeschrieben. Ich war dafür immer wieder in Marseille, zumindest in meiner Vorstellung. Hier nahm mein Leben eine Wendung, die nicht abgefälscht werden konnte durch Geldverdienenmüssen und das Unheil der sogenannten Sachzwänge. In Marseille erfuhr ich im Januar 1998 vom Tod meiner Großmutter. Im Januar 2011 reiste ich mit einer Delegation des PEN nach Sanary-sur-Mer, um eine Plakette zur Erinnerung an deutschsprachige Exilautoren zu enthüllen, eine Reise, die auch nach Marseille führte, zu einer Lesung in einem Café am Alten Hafen. Ich sah im Panier, dem alten Korbmacherviertel, wo heute größtenteils Nordafrikaner leben und Künstler ihre Ateliers haben, die Straße wieder, in der meine Wohnung seinerzeit war. Marseille ist meine Nekropole. Fast alle Freunde, mit denen ich je dort war, sind keine Freunde mehr. (27.1.)
Fotos: Treppe zum Bahnhof Marseille-St. Charles (1), Bibliothek des Centre international de poésie Marseille (2), Rue du refuge, Marseille (3)
A so chli gsi
„Dass wir das Leben unserer Eltern nur unzureichend erfassen, sagt nichts über ihr Leben aus. Nur über unser eigenes. Es ist höchstens ein Ausdruck von Respekt, wenn man anerkennt, dass man nicht alles weiss, Kinder haben ohnehin einen verengten Blickwinkel auf alles, was sie umgibt. Das Nichtwissen hingegen, das blosse Spekulieren über das Leben eines anderen lässt diesem Leben die Freiheit, mehr zu sein, als es wirklich war“, so Richard Ford in seinem „Memoir“ vom Leben seiner Eltern, „Between Them“, „Zwischen ihnen“, übersetzt – immer wieder sehr glücklos – von Frank Heibert.
In der Nacht scharrt das Bergland ans Fenster, und du wachst auf und bist wieder Kind, verwandelt vom Regen. Am Morgen überall der Schnee auf den Feldern und in den Wäldern. (Looren, Zürcher Oberland, 17.1.)
„Drr Chella Gotfritt!“, ruft eine so kleine wie breite Schweizerin, als sie im Kunsthaus Zürich in den Saal platzt und ein Bildnis Gottfried Kellers erblickt. „Drr isch a so chli gsi!“ So klein sei der gewesen! Und die Beule von Frau zeigt auf ihren sich in den Raum stülpenden Bauchnabel.
Jacottets Gedichte gelesen, eingeschlafen über dem silbernen Leuchten des Zürichsees.
Noch einmal Ford, in seiner Vorbemerkung zu „Between Them“ notiert er: „Das Eindringen in die Vergangenheit aber ist in jedem Fall eine heikle Sache, weil die Erinnerung uns zu den Menschen machen will, die wir sind, und immer wieder halb daran scheitert.“
Am Leben, d. h. zu zweit
Große Begeisterung, und man umringt mich und strahlt mich an, als ich nach meinem allerersten Supermarkteinkauf fünf Bonuspunkte an dem vor sich hin bimmelnden Apparat am Ausgang gewinne. „Es funktioniert! Sie sind ein Glückspilz!“, ruft eine Frau guttural aus, die schon seit Jahren oder Jahrzehnten hier einkauft. (Lenzburg, 9.1.)
„Sie berücksichtigen besser das dialektische Prinzip so einer Neonröhre“, sagt der Elektriker und schaltet das Licht an, aus, an, aus.
„Alles rückt näher zusammen. / Alles will miteinander sprechen.“ Christian Saalberg
Jeder weiß, hier ist nirgendwo.
Wie leben, ohne ab und zu dich zu versichern bei Neil Young, dass du noch am Leben bist, d.h. zu zweit? I’ve been first and last / looking how the time goes past / but I’m all alone at last / rolling home to you.
„Wenn ihr mich zu Gesicht bekommt, lasst es gut sein. Das bin nicht ich.“ Henri Michaux
Im Haus nebenan, bei Müllers, im Müllerhaus, ging Hermann Hesse ein und aus. Sehr großes, sehr gediegenes und feines Haus, fein im besten Sinn. Haus fast ganz aus Fenstern. Ich stelle mir Hesse vor, wie er hinaussieht, aufs Schloss oben am Hang. „Mal bissi gehen“, sagt er.
Drei Besichtigungen
Eigentlich, im Grunde genommen, ja in der Tat – en faite –, hast du nie zu denken gelernt. Du kannst nur lesen und schreiben – nur? Du liest – vergeblich – in den Gedanken anderer, du schreibst, um nicht denken zu müssen. Die Wörter, die Sätze, die Silben und ihre Klänge setzen sich, wie Sternbilder vor den leeren Raum, vor deine Gedanken – so scheint es, so scheinen sie. Und womöglich ist das – alles – ein Merkmal, ein Denkmal des Dichterischen. Hier würde das Denken beginnen, beginnen können.
Bleib eigen. Gestalte den Rand, das Ufer. Denn mit dem Strom schwimmen nur die toten Fische. (6.1.)
Besichtigung der Wohnung eines Verstorbenen – als schrittest du eine Viertelstunde lang durch dreieinhalb Zimmer im Jenseits. Alle Gegenstände sind nicht mehr ganz anwesend, wirken, als wollten sie unbedingt erzählen – nicht von ihnen, sondern ihrer Geschichte mit dem Menschen, der hier lebte und sie täglich in die Hand nahm –, ehe sie verschwinden müssen. Im Aufstellrahmen Fotografien von einer schönen Frau in einem schönen Licht, einer für immer anziehenden Toten, vorausgeschritten in die norddeutsche Unterwelt. Und in den Bücherregalen die wirklichen Landkarten, die Romane eines Lebens, Proust, Lawrence, Lowry, Fontane, Hemingway, Hammett. Der Sohn des Toten ist der eigentlich, der einzig Leblose: „Nehmen Sie alles mit“, sagt er tonlos, ohne Herz, mit kalter Visage. „Ich habe nicht vor, noch einmal herzukommen.“ Und mag der Tote auch ein Scheusal gewesen sein. Seine Habseligkeiten haben es mit ihm ausgehalten.
Wer hier liest
„Sind Augen Organe?“, fragt das Kind.
Um Totgeräusche auszuschließen, schneide er sehr leises, kaum hörbares Rauschen in die leeren Räume zwischen Sprechaufnahmen, sagt der Toningenieur. Todgeräusche. Der Todingenieur. (Winterhude, 20.12.)
„I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist“ Destroyer, „Sky’s grey“
Zum Zwiebelschneiden setzt sie die Sonnenbrille auf.
Seit Monaten auf dem Nachbarbalkon die achtlos bei Wind und Regen liegengelassenen Pflanzen, die umgestürzten Kübel, die Erde, der schwarze Mulm. Manchmal treten sie heraus unter den Nachthimmel, die Mieter (die keine Bewohner sind), stoßen an mit Sekt (oder, uh, Prosecco), lachen, feixen, glotzen herüber (und ich strecke den Zeigefinger aus, hebe den Daumen und krümme den Zeigefinger), bevor sie wieder hineingehen zu ihrer nichtswürdigen Abendserie, ihrem schwarzen Mulm.
„Warum sich abgeben mit Leuten, die dich immer bloß traurig machen?“, fragt das Kind.
Wer hier liest, begibt sich auf Grasgebiet. Hier herrscht nichts und niemand, d. h. das grüne Gras. Hier mäht keiner den Rasen. Hier werden Rasenmäher in die Luft gesprengt. Wir wachsen, das Gras und ich, und liest wer hier herum, so muss er mit, so muss er mitwachsen. Lass, Grasleser, Deinen Dünkel, der bloß Angst vor dem Nichtverstehen, d. h. vor dem Unbekannten, d. h. vor dem Sterben ist. Hier trabt das Gras. Hier ist der Hass zu Ende. You are leaving the prejudice sector. Alles wird grün, allem wird grün vor Augen. Wir wehen im Wind, und der ist Atem, wessen auch immer. (3.1.2018)
Meine Saturn-Anrufe
„Code Is Poetry“ – der Slogan eines der wichtigsten Web-Providers (oder so) macht deutlich, wie vereinnahmt (die) Poesie bereits ist. Gibt es poetische Strukturen, die dem Zugriff durch die massenabhängigen Medien standhalten?
Dein eigentlicher Job: Beobachtung der Gerechtigkeitsgrenze. Im Ernst?
Nein. Aber „redundant“ ist eine prachtvolle Berufsbezeichnung! „Und Sie, was machen Sie so?“ – „Ich bin redundant.“ Oder für die Schnittigeren unter uns, die ja eher häufiger denn seltener werden: „Ich bin Redundant, versteht sich, Oberredundant!“
Der Freund sagt am Telefon, es gebe einen Hund dort in diesem Haus, der sei wie er.
Christian Saalberg nannte sich so nach seinem Lieblingsort in der Kindheit, dem niederschlesischen Saalberg, heute Zachełmie im westpolnischen Jelenia Góra. In seinem frühen Gedicht „Saalberger Sommer“ beschreibt Saalberg den Ort, lädt ihn sinnlich auf, verpuppt ihn in den Fäden seiner Erinnerung. Die vierte (und in der überarbeiteten Fassung letzte) Strophe des Gedichts schließt:
Hinter Wall und Staketen nistet
Unberührbar der Sommer, meine Geliebte,
Hütet mein Wort das Schweigen ein.
Weiß und immergrün steht das Haus,
Gesäumt von der strömenden Zeit,
Gelassen auf blättrigem Grund.
Saalberg. Das soll dein Name sein.
Wohlgemerkt, es ist nicht der Dichter, der sich selbst hier anspricht und seinem poetischen Ich den Namen des geliebten Ortes zuweist – vielmehr erhält der Ort den Namen, ganz so, als hätte er zuvor anders geheißen oder irgendwie heißen können. Dennoch – und hierin besteht Saalbergs hohe Kunst, die er über die folgenden Jahrzehnte immer weiter verfeinert – rücken Ort und Kind, Erinnertes und Dichter hier merklich zusammen. Die poetische Parabel biegt sich der Welt zu. – Benannt nach dem Lieblingsort in der Kindheit, wie würde dann ich heißen?
„Die Anerkennung meines Tuns, ein erstarrter See“, sagt der Freund.
Tel.nr. v. Saturn: 0221-22243123.
Reste von Licht
Nach 37 Jahren wurden heute die stillstehenden Triebwerke der in die Weite des Alls hineinfliegenden Raumsonde Voyager 1 erstmals wieder gezündet. 1980. Ich war 15. Zwei Wochen zuvor hatte ich meinem Vater ins Gesicht gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Im Jahr darauf verließ der Tyrann mein Leben und überließ mich den Scherben meines Gemüts. Ich fing an zu schreiben. Ich fing an zu lieben. Ich fing an zu rauchen. Die 37 Jahre alte Software an Bord der Voyager soll tadellos funktioniert haben. Die Dunkelheit, die Stille, in die man hineinfliegt. So ist die Zeit. So bin ich. So bist du. (4.12.2017)
Eine neue Steuernummer. Im Brief des Finanzamts wird mir auch die Bezeichnung meines Betriebs mitgeteilt: Selbst. Journal. Pressefot. Richtig muss sie lauten: Selbst. Gras. Irrt.
Morgen in Kiel. Mit dem Blick auf die Förde aufgewacht, und da kam tatsächlich gerade der große Dampfer des Lichts hereingefahren.
„Fern, fern geht die Weltgeschichte vor sich, die Weltgeschichte deiner Seele.“ Franz Kafka
Und noch mal Kafka: „Nichts davon, quer durch die Worte kommen Reste von Licht.“
Manche, ja viele Erwachsene, Männer und Frauen, schaukeln, rollen, wackeln dahin wie kleine Kinder, die erst vor vielleicht Wochen oder wenigen Monaten laufen gelernt haben. Manche, nein viele Kinder gehen, schreiten dagegen vermeintlichen Erwachsenen ähnlich, hoch erhoben, den Rücken durchgedrückt, gravitätisch, Kraniche, Mischlinge aus Kran und Ich. Alle sind wir immer Kinder. Bleiben es immer. Tun alles, damit es unbemerkt bleibt, und scheitern darin minütlich. (8.12.)
Die gestohlenen Stunden
„Gestohlene Stunden“, sagt ein junger Maler (Handwerker) zu einem älteren in der U-Bahn. „Sie vergessen, dir deine Stunden aufzuschreiben, manchmal absichtlich.“ Die Poesie zieht sich zurück in die Gespräche der sogenannten einfachen Leute. Gespräche finden in sogenannten Intelektuellenkreisen gar nicht mehr statt. Schriftstellerunterhaltung heißt: Unmittelbarer Austausch Fehlanzeige. Wie das Telefonieren verlorengeht nach dem Briefeschrieben, indem wir einander (eigentlich aber uns selbst) Sprachnachrichten schicken (vorsprechen), geht der innige Austausch kaputt und verliert sich. „Gestern bin ich wieder allein rauchen gewesen“, sagt der junge Maler. „Ich stand an der Hecke. Kennst du ja.“ – „Allein, an der Hecke?“, fragt der ältere nach. Er schüttelt den Kopf. „Ja. War ein guter Moment. Aber mich ärgern die gestohlenen Stunden.“ (Berlin-Zehlendorf, 24.11.)
Der überall sein Rad mit hinnimmt – er hat Angst, nicht schnell genug wegkommen zu können. Er hat Angst vor dem Feuer, dem Lebensfeuer.
Auf dem Bahnsteig kommt dir der frühere Großstadtbürgermeister entgegen – an dessen Frau du gerade dachtest. Er wirkt wie ein weißer, alter, ein welker Schatten. So wie sie auf dem Podium, das greise Mädchen, die Erfolgsdichterin.
Reiß dir alle Wimpern aus. Wünsch dir, was zu wünschen ist. Es ändert nichts, es ändert nichts. Nur deine Augen werden frieren.
Auf der Straße zwischen den Mietblöcken streiten sich lautstark – und schubsen und rempeln einander – ein Paketkurier und ein Mieter, beide auf Arabisch.
Im Laden an der Ecke, erster Frostmorgen. Ein alter Herr, offenbar Witwer, erzählt mir vom Winter ’46, zwischen den „stockwerkhohen Trümmerhügeln“. (Eppendorf, 2.12.)
Traum, ich wäre ein wilder Hund und lebe in den Hügeln über einer Metropole. Wie der Lärm am frühen Morgen in die Bäume heraufzieht, gefolgt vom Qualm des Smog. Gestalte deinen Tag. Nie vergessen, welche Freiheit diese Freiheit bedeutet.
Foto: Alec Soth, „Dog Days Bogotá“, 2007
Grüne Kräne
Fenster auf Dunkles, die Stadt dort,
weihnachtlich beleuchtete Kräne – Zimmer
mit Ausblick aufs Jenseits. Im Park sieben
Stockwerke tiefer liegt der alte Stutt-
garter Friedhof, aber du fliegst da
nicht hinunter, gehst noch nicht
durch die Luft, und pfeift auch noch
so lockend ein tödlicher Adventwind. Du bist
noch ganz von der Welt umgeben. Die Kräne schwenken
grün durchs Dunkel, sie sind Wolkenkuckucke, sie
kokettieren wie Lilith mit dem Teufel. Last-
brennnesseln, die du fassen zu können
glaubst, indem man sie beherzt
packt, ohne Furcht.
Anmerkungen zur Ungerechtigkeit
Jonquillen kamen verhältnismäßig früh in die Gartenkultur, lese ich. Als Gartenflüchtling ist die Jonquille verwildert und bildet in Südfrankreich, Italien und Dalmatien – wer kann ihr das verdenken – wilde Populationen. Jonquillen, eine südeuropäische Narzissenart. Helmut Scheffel übersetzt ein schönes Wort in Claude Simons Roman „Die Schlacht bei Pharsalos“ so: „… jonquillengelb färbt sich der Dunst des Himmels.“
Welches Befremden in dem morgendlichen U-Bahnwagen, als das Mädchen am Fenster (vor dem Licht steht) lauthals singt. Ja, welches, welches Befremden, deines, unser, euer? Bist du überhaupt imstande, überhaupt befugt, so etwas zu mutmaßen? Vertrau(st) du deinem Gespür (?)! (Barmbek, 6.11.)
Ausgebootet. Die Hawkins-Bande meutert und übernimmt deinen Segler. Sie setzen dich in die alte Schaluppe. Und jetzt, was tun? Rudere ihr nach, solange du kannst, bleib ansprechbar, bleib in Rufweite. Viva, Hispaniola!
Erstes weißes Licht. There he goes again. Wilder Winter. Wieder Winter. Widerwinter.
Zwei Krebsleiden muss jede Liebe überleben: Ironie und Antizipieren.
Der Dichter, der mit seiner Familie auf dem Land wohnt und in der Stadt ein kleines Pflegedienstunternehmen leitet, das er selbst gegründet hat und von dem sie alle leben, er ist am Abend, bevor er wie üblich den Zug nahm, in dem er für gewöhnlich weiterschreibt an einem Gedicht, in seinem Büro überfallen und verletzt worden, sodass er operiert werden muss. Was sagt das aus, sagt es etwas aus über die Ungerechtigkeit? Oder die Barmherzigkeit? Gar nichts? Was würde dann überhaupt etwas aussagen? (Barmbek, 16.11.)
„,Mit jemand wie dir ist kein Staat zu machen.’ – ,Das will ich auch hoffen.’“ Peter Handke
„Das Erinnerungsvermögen des Eises“, sagt der Glaziologe. (Innsbruck, 20.11.)
Wenn ein jeder dir ungerecht gegen dich erscheint, zieh in Erwägung, dass dein Gerechtigkeitssinn dich trügt. Immerhin gut möglich, dass in Wahrheit du es bist, der gegen dich ungerecht ist. (Nein.) (Doch.) (Nein!) (Doch.)
Unterwegs unter den Bäumen
Berlin, im Sargzimmer. Nur erfolglose Vertreter und mediokre Autoren werden so untergebracht, zumindest in Berlin. Hauptstadt? Nicht die meine. Meine Hauptstadt ist eine unsichtbare, umso hörbarere dafür. Dort rauschen die Bäume, braust der Regen, sind die Tiere freie Bürger, ist der verkappte Selbsthass unbekannt. In dem Sargzimmer der deutschen Hauptstadt weißt du, dass du nicht besser bist als ein ausrangierter Güterwaggon, abgestellt an einem grauen Feldrand an der polnischen Grenze oder tief in Belgien irgendwo. Niemandszüge rattern vorüber, und einer wird kommen, dich anzukoppeln, in zwei, drei Jahren. Horch! Du lauschst. Von Wand zu Wand sind es anderthalb Meter. (Charlottenburg, 19.10.)
„Jedes Tagebuch“, sagt das Kind, „besteht aus Briefen, die unbeantwortet bleiben.“
Bitte achten Sie darauf, dass sich auf Ihrer Kleidung keine Schmetterlinge befinden.
„Wirr sind das Volk! Wir sinnt das Volk!“
Das Problem des Fränkischen ist das Fränkische. Eine außerfränkische Welt scheint es von Franken aus betrachtet lediglich in Form von etwaig zu beliefernden Betrieben zu geben. Mirr sinn mirr. Über die außerhalb Frankens bestimmt irgendwo liegende Außenwelt wird das fränkische, das frängische Schweigen gebreitet. (Nürremberg, 25.10.)
Jede Nacht zwischen halb vier und halb fünf wachte er auf und trat ans Fenster, und stets war er da auch dort draußen auf der Straße unterwegs, als Hund vielleicht, oder er schwankte als welkende Stockrose an einem Zaun durch das Dunkel. Er lag im Bett. Er schlief und war zugleich unterwegs unter den Bäumen. Er stand im Zimmer am Fenster, war ruhelos und lief so müde wie unermüdlich zugleich durch die Straßen, ob in seiner Stadt oder einer anderen.
Tier
Die Immortellen
Die Nebelbänke in den Talsenken und Mulden westlich von Strasbourg – durch die ich hindurchrausche mit 307 Stundenkilometern.
Nach Nietzsche muss „eine große, feste Glocke von Unwissenheit um dich stehn“. Es sei nicht genug, einzusehen, in welcher Unwissenheit Mensch und Thier (!) leben würden – „du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen.“ Es läutet. Und ich glaube ihm nicht, diesem Bildergeklingel von der Kanzel herab. (Mein Fuchs aber weiß nichts, er lächelt.)
In den Gärten, die zur Yvette hinunterführen, hängt im Sprühregen die Wäsche. (Gif, 1.10.)
Der Leichenwagen kommt und schiebt – langsam, ungeheuer, wie in meinem Gedicht … – das Heck vor das Kirchenportal. Dort stehen im weißen, bis zu den Knöcheln reichenden Alben zwei Ministranten und weinen. Aus einem Kleinbus steigen die sechs Sargträger (und spätestens jetzt hätte ich vor einiger Zeit noch begonnen, ein Gedicht zu konzipieren). Sie schultern den hellbraunen Kasten mit dem Leichnam darin: Das Gewicht lässt einen Lidschlag lang den Toten sichtbar werden, wie er oder sie noch am Leben war. Dann erlischt die barmherzige Vorstellung. Der Ruck auf die Schultern ist das Menschliche, das keines Prinzips bedarf. Im Kasten schlägt der Gestorbene mit der Stirne kurz gegen das Holz. Sobald der Sarg auf den Schultern ruht und ihr Weg die Träger an den weinenden Messdienern vorbei in die Küche führt, legen sie jeder die freie Hand, den Handteller nach außen gewendet, auf den Rücken. Seltsam bleibendes Bild von dem Toten im Sarg, der das alles miterlebt.
Unterhalb der Friedhofsmauer, auf Kopfhöhe mit den im Erdreich (selig, unruhig) Schlafenden, trabt ein Pulk Sportler durch den Abend und weiter, hinaus aus dem Ort, wo über den die Hügel hinaufstrebenden Wiesen voller Ginster, Taxus und Immortellen schon die Nacht wartet. Die Toten wachen auf von dem hellen Lachen und Johlen der Lebendigen. Die Blumen auf den dunklen Gräbern drehen die Köpfe an ihrer Statt, ich habe es nicht mit eigenen, aber fremden Augen gesehen.
Unter dem tschilpenden Baum in der abendlichen Stille die Dorfjugend am Tisch im Freien. Ils se racontent. Die Immortellen rasseln. Ils se racontent. (Volx, 3.10.)
Frei zu sein, das heißt auch frei zu sein von Dünkeln, Hassen, Angst oder Kummer haben.
Milchziege
Titel einer ERZÄHLUNG: „Blick in eine bessere Zeit“.
„Erinnerst du dich noch an das Gebiet, wo man immer diese Geister hatte?“ – „Ja, war das beste Gebiet überhaupt.“ — „Sie haben es abgeschafft. Gibt es nicht mehr, das Gebiet.“ – „Nein.“ — „Doch.“ — „Nein. Mein Lieblingsgebiet.“ (Bamberg, Unterer Kaulberg, 13.9.)
Heute Nachmittag, wird gemeldet, werde die seit Jahren durchs All reisende Forschungsraumsonde Cassini kontrolliert in den Saturn stürzen. Auf ihrer Reise habe Cassini u. a. einen unterirdischen Ozean auf einem der Saturnmonde entdeckt. (15.9.) (So ist der Tod.)
„Brauchen Sie die Telefonnummer der Sonne?“, fragt die Frau am anderen Ende der Leitung.
„Wenn du es dir aussuchen könntest“, sagt das Kind, „würdest du dich lieber teleportieren oder lieber fliegen können?“ Darüber, sage ich, müsse ich erst mal kurz nachdenken, eine wichtige Entscheidung! „Ich“, sagt das Kind, „wäre der Wind.“
Chevrolet – Chèvre au lait – Milchziege.
Einen fraßen die Schnecken. Das brauchte seine Zeit.
Gespräche wie Baumgruppen
Vier Reinmachedamen am Nebentisch führen das tiefsinnigste Gespräch seit meiner Ankunft gestern. (Berlin, Charlottenburg, 1.9.)
Autoaufkleber (quer über die Heckscheibe): EISERN UNION
Die ENDYMION-DATEIEN!
Immer öfter die Abende, an denen dich nur die Musik rettet – wovor? Dem Klanglosen, dem Abgesang. Vor Jahren hätten die Gedichte das für dich getan, dir Trost gespendet. Aber Gedichten ist nicht mehr zu trauen, den falschen eh nicht, und den echten, die so selten geworden sind, kaum mehr … sind ja so schwer zu erreichen, die Biester. Hier, diese Notate, dieses Notizengestrüpp, zig verhinderte Gedichte. Genichte. (Bamberg, 4.9.)
Flexibler Kopf,
mit Zungenreiniger.
Es gibt Gespräche wie Baumgruppen und Unterhaltungen, die ähneln Vogelflügen. Aber das meiste Reden ist Zaun. (7.9., Mainauen)
Der Muskelprotz wankt seinem Söhnchen hinterdrein wie dessen Doppelgänger – Riesenbaby. (Stellingen, 9.9.)
Sommerwolken
Wie das Tageslicht, das Feuer, seinem Ego Kraft verleihe und es verfeinere, schreibt John Cheever: „With my eyes closed in sleep I seem to be a very different man. The moral quality of light.“
Das geliebte Ungeheuer abgeschlossen, ein Tatzelwurm: Henry James’ Brieferzählung „The Point of View“ in meiner Übersetzung, „Wie man es sieht“.
Mireille Darc ist gestorben. Wie furchtbar die Welt ohne sie. „Darc“ wählte sie als Künstlerinnenname, nach Jeanne d’Arc. Sie starb nach langer Herzkrankheit … wer hat das nicht verhindert? Schande über den Tod, einmal mehr. (28. August 2017)
„… wenn du an der Laurenzihaltestelle nunderwärts stehst …“ – wundervolles Fränkisch.
Die beiden Bauarbeiter, die das Barockgebäude gegenüber ausschälen, werfen alles im Haus nun Unnötige hinunter in den Rosengarten. Vormittag mit mächtigen Staubwolken, kolossalem Lärm. Latten, Bretter, Steine, Toilettenbeckenbrocken in den Beeten. Wolken quillen oder quellen aus den Zimmern durch die Fenster in die Gärten hinaus. Wabern durch die Höfe. Die Vögel ducken sich weg. Die Rosen versinken unter dem Staub. Die Bamberger wundern sich, aber keiner bleibt stehen.
Tous les mercredis
Am See in der ersten Mittagshitze nach den Tagen des Mistral beobachte ich einen kindergroßen Windwirbel, der, über den Sand rotierend, an einem Spielplatzzaun entlang, hinunter zum Wasser wandert, wo er sich auflöst. Die Blätter und der Staub in seinem unsichtbaren Schlauch sinken zu Boden und bleiben reglos liegen. (Les Vannades, 12.8.)
Das Quietschen der Schaukeln ist der Gesang der Vögel in den Uferbäumen.
Jeden Mittwoch. Immer mittwochs. Alle die Mittwoche. Ach, ihr Mittwoche alle. Die ganze Zeit Mittwoch. Immer Mittwoch, unablässig Merkurtag. Tous les mercredis.
Hornissenkämpfe auf der Terrasse unter dem Feigenbaum.
„In Digne“, sagt dein Herz, „gibt es immer Gewitter.“
Und das Kind sagt: „Hab ich abgescreenshottet.“
Das mittägliche Schwirren in der Krone des Feigenbaums stammt von einem (immer demselben?) Schwarm Vögel, der sich darin niederlässt und sogleich zu diskutieren beginnt. Wem gehört hier was? Den Menschen, diesen mickrigen Stoffmollusken? Oder uns? Ja, uns! Her damit. Her mit unseren Feigen! Holen wir sie uns! Aber halt, langsam. Wir haben Zeit. Hier oben langen die nicht herauf, selbst mit ihren langstieligen Mistwerkzeugen nicht. Molluskenärsche. Volltrottel aus Asche und Kot. Flügellos, ganz flügellos! So schwirren sie, und zetern, und lachen. Ab und an prasselt es drei, vier Feigen, platsch, auf den Beton von uns Molluskenärschen. Dann rauscht es auf, dann rauschen sie davon. Stare? Drosseln? Ich kenne ihre Namen nicht.
Der kurze Jubel, der furchtbare Trubel, der Geld bringt und Einsamkeit, geht von neuem los. Longlist-Nominierung. Der Deutsche Buchpreis. Der Buchpreis der Deutschen Bank AG. Freunde schweigen sich aus und ziehen sich zurück, als hättest du sie beleidigt. Triumphale Niedergeschlagenheit. (Volx, 15.8., am 21. Geburtstag deines Sohns)
Mistral
Auf dem Friedhof wässern die Kinder die Steine, die aber nicht zum Leben erwachen. Sie wollen nicht wachsen. (8.8. Pour Annie.)
Baden im See bei Gewitter, mit Wasserschlangen? Ja.
An der Pont de la reine Jeanne, einer alten, von Stahlklammern gestützten Brücke über den Vanson: Steine, Koniferen, Wasserläufer. Wanderer klappen Wandererklapptische auf, bestens vorbereitet mit Gurkensalat, Baguette und Kompass. Die Sterne werden noch über den Trümmern funkeln, und im Vanson der Schlamm wartet wie der Schlamm vor Jahrmillionen.
Mistral. Der kühle Wind vertreibt die abgestandene Hitze. Plötzlich Herbst. Rasseln der Platanen. Ein Wind aus Licht, sobald die Wolken vertrieben sind. Die Leute lächeln. Die Leute leben mit dem Mistral. Unsichtbare Uhr auf der Haut. (Manosque, 10.8.)
Ausgelöscht wie überall ist auch die Landschaft der Provence und des Luberon entlang der Küstenstraßen oder bedeutenderen Landwege, bis sie münden in die sogenannten Gewerbegebiete, die in Wirklichkeit Zerstörungsgebiete sind, wo die heillose Vernichtung jeder Form von Lebendigkeit gerechtfertigt wird mit dem billigsten Grossistenangebot aus Ramsch, Nutzlosem und chinesischer Plastikmassenware. Fahr drei Minuten lang landeinwärts, und das Land öffnet sich, da sind Felder, Wälder, da fliegen Vögel und gehen Leute umher, ohne müde zu sein von ihrer sie zermürbenden Verzweiflung.
Ein Absatz, in dem sich beinahe so etwas wie die Essenz des profunden Lebenschronisten John Cheever verbirgt: „Who, after all, is that man who puts a dime in the lock of the public toilet and in its privacy drinks from a flask of vodka? It is I. When? Last month, last year, six years ago. I seem to have changed more than the airport.“ In der Schwabinger Uni-Buchhandung für englischsprachige Bücher entdeckte ich kürzlich ein Kompendium, das unter Cheevers Namen den Titel „Drinking“ führt. Darin wird Cheever reduziert auf den großen Erzähler, der ein Säufer vor dem Herrn gewesen sei. Das aber ist genau das, wogegen er sich ein Säuferleben lang wehrte – bis er schließlich mit weit über sechzig zu den Anonymen Alkoholikern ging und der Trunksucht den Hahn abdrehte. Schreiben und Trinken sind für Cheever verwandt, ja Ausdruck von ein und demselben. Schreiben ist das Offene, das keiner Kategorisierung bedarf. Bloß Literatur ist Schublade, Literatur und Literaturkritik kommen ohne Kategorien nicht aus. Aber was hätte Schreiben mit Literatur zu tun? Es existiert keine Zeile Cheevers, in der er theoretisiert. Das Trinken ist ihm lebensnotwendig als Rätsel. Und die Furiosität seiner Poesie zeigt sich in einem Satz wie „Ich scheine mich mehr verändert zu haben als der Flughafen.“






