Sag mir bitte

Vier Stunden lang war für mich der Andere, war Mitt Romney Präsident geworden. Im Traum zwischen vier und acht Uhr morgens sah ich Barack Obama weinen, eine entschuldigende Rede halten, Florida jubeln, Ohio und Colorado. Als ich aufwachte, gab es zwei Welten, und für Stunden glaubte ich weder der einen noch der anderen.

„Sag bitte, wovon redet der Wind, wenn er durch die Bäume fährt?“

Kalifornien: Zeitgleich mit der Wahl des US-Präsidenten, des  Senats und Repräsentantenhauses wurde über die Abschaffung der Todesstrafe abgestimmt. Sie bleibt bestehen. Siebenhundert zum Tod Verurteilte würden, heißt es, auf ihre Hinrichtung warten (7.11.). Sie warten, ich mit ihnen, auf Gnade.

„Die Provence gibt’s jetzt im Supermarkt.“

Themen

Tagesthemen: Chrysanthemen

Die weiße Aubergine – zurück aus der farblosen Welt

„Ein Ton – der Tod – ein Ton – der Tod – ein Ton – der Tod“
(Wolfgang Rihm)

Vom Ich zum Du

Das erste Wort, das Wolfgang Rihm in seinem Gespräch mit Ulrich Greiner in den Mund nimmt: Musik. – „Musik ist ja wie ein Wind“, sagt Rihm und spricht vom Schock, grundtief, auf Gedeih und Verderb irgendwann doch „Ich“ sagen zu müssen. Bei Bach, Wagner und Schumann höre er Kraftlinien, die ihn zum Weinen bringen, und eine dieser Linien, unzweifelhaft, sei der Zweifel, die Ungesichertheit. – Und Systematik, Konzept, das Instrumentarium? „Mozart hören“, antwortet Rihm. Da liege er hörbar und sichtbar vor einem: „der Weg vom Ich zum Du.“ (Meßberg, 5. November 2012)

Drei Klammern

Im mittäglichen Nieseln kehren die Schulkinder auf ihren Fahrrädern heim, lachend, singend, und die Vögel in den Bäumen, unter denen sie hinfahren, auch sie singen (und lachen).

Nicht ohne Grund (und oft das Tiefste): die Todesanzeigen im Feuilleton

„Eine Zukunftsrente (noch ohne Namen)“

Das Kind, das Gras

Wie reich – ein Tag unter Kindern. Das dichterische Gemüt, sagt Keats, werde unter Kindern kindlich. Nur für ein Leben unter Kindern lohnt es sich, den dichterischen Blick … fahren zu lassen.

Nicht die Jahreszeiten verändern den Gesang der Vögel, – es ist umgekehrt.

Drei Stunden benötigen mein sechzehnjähriger Sohn und ich, um ein Bett aufzubauen – vielleicht das letzte Mal, dass wir die Köpfe über einem Bauplan zusammenstecken (4.11.).

Die Spinde

Jeden Morgen spürst du das Gift neu durch den Körper wirbeln, jeden Morgen sagst du erneut zu deinem Gift: Ja –, während das Gift von neuem beginnt, dich zu verneinen.

Ein Inbild: In der Sammelumkleide gibt es 47 Spinde, durchnummeriert. Meine Tochter hat Schranknummer 9, und sie ist neun Jahre alt, ich aber bin 47. Hinter jeder verschlossenen Spindtür kann ich mir ein vergangenes Jahr vorstellen, zurückrufen Sommer, Abschiede, Reisen, Musik, Umzüge, Bücher, Neuanfänge, Gedichte, ich kann an den Spinden die Spanne der Zeit ermessen, auch wenn sich keine Tür je wieder öffnet (3.11., Eppendorf).

Sterne

Quasarabsorbtionslinienspektroskopie

„Nach kurzer Zeit verließen sie das offene Land und drangen in den Wald; es wurde noch einmal kühler, was nach dem Wettrennen, das sie erhitzt hatte, angenehm war, sehr dunkel und sehr still; das Zikadengezirpe, welches sie eingehüllt hatte wie unsichtbar in den Wiesen liegende, dafür tönende Sterne, blieb hinter ihnen zurück, war bald nicht mehr zu hören.“ (Reinhard Kaiser-Mühlecker, „Roter Flieder“)

Die verlorenen Fenster

„Bonnés Traklpark ist mit Erinnerungen angefüllt, nicht ohne eine Prise Wehmut“, schreibt Tom Schulz in seiner Rezension im „Tagesspiegel“. „Bilder der Kindheit flackern auf, Orte und Lebenssituationen, als wolle der Autor die verlorene Zeit einholen. Die sprach-magische, an der Moderne geschulte Beschwörung einer brüchigen Erinnerungskraft, wie man sie in vielen Gedichten Bonnés findet, scheint das eigentliche Element seiner Poesie zu sein.“ Schulz irrt, ist es doch viel dramatischer! Nicht die verlorene Zeit einzuholen, versucht der Traklpark, sondern will vors Auge führen, wie Verschüttung geschieht und durchleuchtet werden kann: „Ich schreibe, um mich des Moments zu erinnern, als ich das schrieb“ (Claude Simon) – das Gedicht als Versuch, den Augenblick seines Entstehens zu konservieren, Gedichte wie im Bernstein Insekten, wobei nicht Inhalte, sondern Struktur und Form den Fortgang der Zeit dokumentieren.

Stille Vollmondnacht, in der Ferne, zartblass, steht mit einem Mal Orion.

Zwei junge Handwerker stemmen die Wohnzimmerfenster aus den Wänden. Binnen Minuten lebst du in einer rachenartigen Höhle, draußen die grüne Wildnis. Kalter Wind zieht durch die Räume, Papiere und Fotografien wehen aus den Regalen, vergeblich festgehalten von den Fensterbauern, deren Freude an ihrem Beruf hinauswirbelt (1.11.).

Glitzerrezession

„Die Menschen verstehen nicht, wie stark die Natur ist“, sagt New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg, der Milliardär. Hat er Ezra Pound gelesen? „Die Ameise ist Kentaur in ihrer Drachenwelt. / Lass ab von Eitelkeit, nicht schuf der Mensch / Den Mut, schuf Ordnung oder Schönheit, / Lass ab von Eitelkeit, sag ich, lass ab. / Lerne von grüner Welt erkennen, was dein wahres Maß / An Erfindungsgabe oder rechtem Können. / Lass ab von Eitelkeit, / Paquin, lass ab! / Die grüne Schote hat dich ausgestochen.“

Glitzerrezession

„Nach vorn sehen musst du! Zu leben ist immer gut.“ Drei Biertrinker auf dem dunklen Parkplatz im Herbstwind. „Hörst du mich? Dreh dich um, und was siehst du?“ – „Schmerzen.“ – „Und morgen? Morgen gibt es keine Schmerzen.“ (Alsterdorf, 31.10.)

Unverbundene Ereignisse

Die Geschichtsschreibung, heißt es, forme aus „unverbundenen Ereignissen“ die Historie. Du also, aus deinen unverbundenen Erlebnissen, formst was? Das Erinnern? Das Gedächtnis? Das Bild, die Romane von dir? Die Gedichte? Dies hier, „Das Gras“?

„There’s only one flag I believe in, and that’s the white flag.“ (Bono)

Der New Yorker Holland-Tunnel steht unter Wasser, sieben U-Bahnröhren unter dem East River sind geflutet, dutzende Menschen kamen um, in New Jersey brach ein Damm, überschwemmt drei Kleinstädte, und vor der Küste North Carolinas sank der Nachbau der HMS Bounty – unverbundene Ereignisse am Tag von Hurrikan „Sandy“ (30. Oktober 2012).

Scharrbilder

Nachmittagsstunde im Krankenhauswartezimmer. Über den Bildschirm an der Wand flimmert zum Brummen des Kaffeeautomaten eine Doku über die seit ihrer Entdeckung vor beinahe hundert Jahren noch immer nicht erklärbaren Scharrbilder der Nazca-Linien. Wie Bilder von Schmerz und Sehnsüchten durchziehen die Gleoglyphen den roten Sand der Gebirge am Pazifik, wo im heutigen Peru einst Nazca und Palpa lagen. Die Bangigkeit, die Vergeblichkeit, die Verwüstung der Küste, der Aufbruch ins Landesinnere und der Trost der Neubesiedlung nach achthundert Jahren vertaner Opfer und Hoffnungen (St. Georg, 27.10.).

Die wiedereröffnete Freiheitsstatue hat seit heute eine Klimaanlage.

Steuererklärung: Hiermit erkläre ich, nicht zu wissen, wohin ich steuere.

Bewegung

Eiskalte Herbstnacht, der Mond mit Wolkencorona. Unsichtbar klettert durch die gelbe Ahornkrone ein Vogel oder Eichhörnchen: Lautlos, wie in punktuellem Wind, bewegt sich hier und da ein Zweig. Bewegung – Wege durch das Dunkel.

Noch einmal: Lichte Wege

Am Grab von Hermann Lenz und während des Gesprächs über ihn mit Norbert Hummelt denke ich zurück an den Sommer vor zwanzig Jahren, den letzten auf der kleinen Kattegatinsel Sejerø, spüre das Licht auf der Haut und die Regenwärme, liege wieder auf der durchgelegenen Matratze unten in dem Doppelstockbett im Vandrerhjem und lese Hermann Lenz‘ „Der Wanderer“ (Nordfriedhof, München).

Geldbombe: Wenn ich den festverkapselten Aluminiumbehälter aus dem Laden meiner Großmutter hinüber zur Bank trug, um ihn dort in den Geldbriefkasten zu werfen, stellte ich mir jedes Mal vor, buuumm! – die Geldbombe würde wirklich detonieren – und alle Scheine (so viele waren’s nicht …) durch den Himmel wirbeln und niedersinken auf die Straßen. (Am Münchener Hauptbahnhof, Beladen eines Geldtransporters, 26.10.)

Lichte Wege

München, Hauptstadt meiner Kindheit, des Freistaates ICH, Stadt, in der ich lesen lernte, oder verstehen, dass ich lesen konnte: die Leuchtbuchstaben auf den Dächern am Stachus, mit einem Mal bedeuteten sie nicht allein Licht, sondern lichte Wege, Wegweiser, und ich entschied, ob ich folgte oder nicht (Schwabing, 25. Oktober).

Pferde in den Straßen, Schimmel mit Scheuklappen und grünen Filzkappen über den Ohren – München.

Wie du

Das kleinste Zimmer, das ich je hatte: München, Schellingstraße, Hotel Hauser, Hotel Kaspar Hauser, kaum größer als ein Sarg, aus-ein-an-der-zu-schrei-ben.

„Warum liebst du mich nur so? Ich hab das nicht verdient.“ – „Ich lieb dich ja nicht, weil … nur dafür, dass du bist, wie du bist.“ – „Aber wie bin ich denn?“ – „Du, wie? Wie du.“

Der junge Obstverkäufer muss lachen, als auf dem Display seiner Kasse der Preis für den Apfel erscheint, den ich mir ausgesucht habe: 735 Euro. „Eindeutig Adamsapfel!“ Bestimmt meint er den Apfel am Baum der Erkenntnis.

München, China

Endlich, Dämmerung, und ich im Englischen, im endlichen Garten, nach 47 Jahren am Chinesischen Turm, von dem schon immer ein Ölbild im Wohnzimmer meiner Eltern aus meinem Leben ragt. Ein Hund rennt auf den Isarwiesen, der „Liesl“ heißt, Krähen, die einander rufen („Rabe! Rabe!“), und Kinder toben unter der Pagode durch: „China! China! Wir sind in China!“ (München, 24.10.)

– „Kinder, kaum größer als Schwertlilien“ (Reinhard Kaiser-Mühlecker, „Roter Flieder“)

Im „Türkenhof“ unter dem hölzernen Flügelpaar – weißt du noch? – die gleichen Gesichter, dasselbe Bier wie vor 22 Jahren – Edelstoffe! Eine Ältere führt ihre neuen Stiefel vor, die Jüngeren gehen vor die Tür, rauchen. „Bachelor“, „Master“, „China, ein Monster!“, „… wenn du erfolgreich sein willst …“ Hört auf, erfolgreich sein zu wollen. Ihr werdet nicht erfolgreich sein.

© Foto: Bayrische Schlösserverwaltung

Duisburg, Ohio

Hellblau illuminiert, der Abendnebel überm Haus der Baustoffindustrie, und hinter den Glasfassaden des Lehmbruck-Hauses stehen die Plastiken und blicken hinaus in den Park, wohin Hunde ihre Besitzer führen (Duisburg, 23.10.).

Am Morgen nach der Lesung aus Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ spricht mich am Duisburger Hauptbahnhof ein Unbekannter an, den ich erkenne. In der Innentasche seines Parkas sitzt ein Nagetier – Hop Higgins, Nachtwächter und Frettchenzüchter aus Andersons „The Teacher“. (Zufall – Sprache der Welt!)

Ins nervöse Leere laufende Hektik der Uniformierten im dunklen Anzug, wenn das Smartphone aus dem Netz fällt, wenn – Hilfe! – der Kontakt abbricht!

Weg

Da stehen sie, die großen Bäume in der Nacht, im Sprühregen wie unter Wasser. Horch auf die Wildgänse, wie sie aus der unsichtbaren Dünung rufen: „Sommer, Sommer, aus und vorbei!“

Ein einzelnes Ahornblatt taumelt vom Baum zu Boden, ins nasse Gras, und bleibt liegen. Wie tot. Tot. (Wind rüttelt daran, hebt es auf, weht es fort. Trägt es weg. Weg.)

Unnachgiebigkeit

In der U-Bahn jammert ein Mädchen: „Warum bist du so, Mama?“ Aber die Mutter, Russin, bleibt hart, unnachgiebig, dass es wehtut schon beim notgedrungenen Lauschen. „Was ist das, ein ,Straflager‘?“, will die Kleine wissen, als sie den Ausdruck auf dem Bildschirm des Fahrgastfernsehens liest. „Ein Gefängnis“, sagt die Frau, „in Russland aus Scheiße und Schnee. Ich will nichts mehr hören!“ (Hamburg, 22. Oktober)

Puppen und Pappeln

Im Auswandererhaus die lebensgroßen Puppen in Mänteln, die an einer Pier zwischen Kofferbergen stehen, unter der nachgebauten Bordwand eines Amerikadampfers: Bewegt sich einer aus deiner Besuchergruppe, kannst du wenigstens für Augenblicke nicht unterscheiden, ob nicht auch du selbst fortgehst, ohne zu wissen, wohin (Bremerhaven, 21.10.).

Pappelreihen im kühlen Sonnendunst über den Flussschleifen der Lesum, als säße am Ufer Sisley und malt einen Oktobertag bei Bremen.

Autobahnschild: „Müllfabrik – Universität folgen“ (Bremen-Schwanewede)

Ins Gesicht

Wortspielchen der Macht: Eine „Romnesie“ attestiert Barack Obama seinem Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen Mitt Romney – und will so wohl ablenken vom eigenen Gedächtnisverlust – Guantánamobama.

Die warme Herbstbrise, die dir ins Gesicht weht, wie viele glückliche Erinnerungen sind darin! (20.10.)

Vertrauter Klang: Aufheulen eines Kindes nach dem stumpfen Schlag (ins Gesicht).

Daheim

In hilfloser Euphorie die Fernsehwissenschaft, das Infotainment. Jeder Käfer lässt verzweifeln, kein in Stücke springendes Glas Wein verrät, warum es zurückstrebt zur Ordnung – und, wie gleichmütig, alle Teile fahren lässt.

Daheim: da, Heim – wo der Lärm nicht alles niederwalzt und gleichmacht, sondern jedes einzelne, noch das leiseste Geräusch zählt (bis unendlich).

Erster Schreibtag seit zwei Jahren oben, unterm Dach, im Ballonkorb der Mansarde. Sonniger Oktobertag – draußen das unvermutet wieder aufgeflammte Geschwirr von Fliegen, Wespen und Scheinwespen. Die Unabhängigkeitserklärung von dem einen Schreibtisch: Wann, wo hast du sie unterschrieben? (19.10.)

War

Beim tagelangen Wiederhören der frühen Alben von U2 mit einem Mal der Gedanke, als Frage an dich selber: WAR es ganz anders? Sind dieser seltsame Josua und die biblischen Erzählungsschnipsel deiner Gedichte seinerzeit (in den „Traklpark“ aufgenommen „Klee“, „Trinitatis“ und „Die Erlöserkirche von Lohbrügge“) etwa aus den Songs von damals genommen, hat dich „The Joshua Tree“ so tief bewegt? Die Gedichte entstanden alle in der Zeit, als du „War“, „The Unforgettable Fire“ und „The Joshua Tree“ (1983 – 87) hörtest, als U2 Landschaft, Überlieferung, Erzählen noch einmal zum Klingen zu bringen versuchten, ehe mit „Achtung Baby“ Zeitgeist und akute Politik Einzug in Songs und ihre Strukturen hielten. Ist dein Gedicht viel mehr Antwort, ja, Reaktion, als du es wahrhaben wolltest und wahrgenommen hast?

Foto © U2 „War“, Island Records 1983, Coverfoto von Ian Finlay

Angstmüll

China, das sei ein einziger großer Müllhaufen, ein Reich, das zerbrechen müsse, sagt über sein Heimatland der Exildichter Liao Yiwu. Seltsam respektvoller Hass, nacheilend schimpfender Gehorsam, der aus solcher Drastik spricht. Ist sie von Albträumen genährt? Beinahe nur Albträume sind es, was mir bleibt von den Wochen, nicht Jahren, nicht Jahrzehnten, in China – in Shanghai, in Hangzhou. Müllhalde meiner Eindrücke, ja. Kanalisation einer verfallenden Wasserstadt, durch deren von Krabben und Spinnen bewohnte Kloake ich krieche, um am Ende kopfüber in ein Erdloch gerammt zu werden, bis mir mein Blut den Schädel sprengt. Was kann das bedeuten? Es ist Angstmüll, herausgeschmuggelt aus einem Reich der Ordnung, an dem wir alle bauen (18.10.).

Dort nicht, nicht da

Trockene Herbstkälte der Nacht – früher Oktober. Lautlos blinkend kommen die letzten Maschinen herein. Laub, das am Morgen in den Pfützen schwamm, bricht knisternd, wie Krebskrusten an einem Strand, unter deinen Schritten in Stücke.

Dort nicht, nicht da und nicht unterwegs, hin, her, – hier noch am ehesten kannst du leben.

Ein Rätsel

Ein kleiner Junge mit langen blonden Haaren sitzt allein am Tisch im Großraumwaggon, alleinreisendes Kind, unterwegs zwischen Städten, in denen, einer hier, einer dort, seine Eltern leben. Abwechselnd blickt er aus dem Fenster in die Nacht, in die Leere der Beschäftigungslosigkeit, die Gesichter der Erwachsenen (auch meines). Sie geben ihm das immer gleiche Rätsel der Gewissheit auf (14.10.).

Ruhebereiche

Ruhebereich: Zwei ältere Paare sitzen einander im Zug gegenüber, ein Mann und seine Frau erzählen vier Stunden lang ohne Unterlass Erlebnisse, Gedanken, Gefühle, von Bekanntschaften, Plänen, Versäumnissen, Kindern, Haustieren, Zimmerpflanzen. Die anderen Zwei hören zu, hören hin, schweigen duldsam, mit durchlöchertem Gesicht. Richtet Erzählbereiche ein! Lasst sie aufeinander los, die Erzähler, sollen sie quasseln.

In Frankfurt an einem Buchmessenabend erwähnt der niederländische Autor Otto de Kat, dass schon am 11. Juli Rutger Kopland gestorben ist – der Tag, als ich durch stundenlangen Regen nach Karlsruhe fuhr und dort allein in dem verwaisten Bahnhof stand. Mit Kopland, dem Dichter und Schlafforscher, standen Hendrik Rost und ich vor fünf Jahren in seinem Garten in Glimmen bei Groningen, sprachen über unsere Übertragungen seiner Gedichte, auch über „Boomgaard“, „Obstgarten“, mein liebstes von ihm. „Sehen Sie, dort drüben“, sagte er einmal in seinem wundervollen Deutsch zu mir, obwohl er deutsch zu sprechen nicht mochte, „die Bäume jenseits des alten Zauns – das ist er, mein Freund der Obstgarten.“ (13. Oktober)

Fluchten

Vergiss nicht, morgens kurz nach sechs, den rosigen, manchmal gar goldenen Schimmer über den noch leeren Straßen und Gehwegen zwischen den Türmen, wo schon die Spritzwagen fuhren. Eine Vogelluft und Vogelstille – doch selbst Spatzen und Tauben wussten, was bevorstand, und waren lange geflohen, um Atem zu schöpfen in umzäunten Parks (Erinnerung an Changning, 10.10.).

Mit einem Korb vorm Bauch geht eine dunkle junge Frau, vielleicht Türkin, durch den Waggon und ruft, nein singt herzerweichend: „Brezel! Frische Brezel! Wer möchte eine Brezel?“ (Göttingen, im Zug nach Frankfurt)

Von der Messe geflohen, über die Brücke, am Main lang, zu den Bildern (im Kummermuseum), den Bildern im Städel: Mit zweifelndem Blick folgte mir Franz Pforr durch die Säle. Und mit unseren 220 Jahre alten Augen sah ich drüben am anderen Ufer im Regendunst den Wolkenkratzer der Europäischen Zentralbank in die Höhe wachsen und zugleich schon dastehen als Ruine (Frankfurt, 11. Oktober).

Bild: Franz Pforr (1788 – 1812), Selbstbildnis (1810); Städel-Museum Frankfurt am Main

Drei Zimmer im Haus des Gedichts

Richte dich ein in der Vergeblichkeit (– ihre Zimmer sind die des Gedichts).

Der Nachthimmel über den Wohntürmen und Wolkenkratzern von Changning war ein einziger Lichterdunst, blaugrau und milchig. Sterne – keine, oder, sehr selten, ein einzelner, sehr starker (welcher?), wie ein still über Shanghai stehender Satellit. Im dunklen Garten brauchen die Augen Minuten, um die Plejaden zu unterscheiden. Orion ist nah, er wird aus Nordosten kommen (9.10.).

Der greise Nachbar streicht mit dem Handteller zärtlich über die Hecke: ein Tasten, um zu erfühlen, wann der nächste Schnitt fällig ist.

Tulpe und Taschenlampe

Da ist es wieder – zum Glück! –, das Ächzen, Knispeln, Rasseln und Surren eines durch die Dämmerung rollenden Fahrrads, das noch Fahrrad ist.

„Ich bin eine Tulpe“, sagt meine Tochter, als sie einen Poncho überzieht. – Ja, das bist du, Tulpe, ein Mädchen, ein wildes Kind.

Ein alter Bekannter: Taschenlampenlicht streicht im Dunkeln über die tropfnassen Brombeerhecken.