Ein Grillengewitter

„Da gaukelt wieder dieses Licht durch die Baumkronen.“ – „Wo denn?“ – „Schon weg.“

Bundesdeutsche Ausbilder schulen belarussische Diktaturpolizisten, die ein paar Tage später, fachgerecht angeleitet, Oppositionelle (Politiker, Bürger) niederknüppeln und einsperren. Großes Erstaunen. – Erstaunlich ist daran einzig, dass es publik wird (am 23. August), das Leck in zwei Apparaten.

Ein Gewitter zog auf. Die Grillen wussten es seit Stunden.

Zuerst sagt es das Licht. Dann stimmt die Luft ein, die Bäume, die Zweigspitzen, die großen Vögel antworten, während die kleinen noch staunend so tun, als stimmte es nicht: Es wird Herbst. Déjà l’automne? Oui, oui, oui – Wildgänseschwirren, Laubgefispel … in der mit einem Mal von Kühle verdichteten Morgenluft, im verfrühten Septemberlicht (24. August).

Vom Darangeben

Es ist so einfach zu lachen und ist so einfach zu hassen, aber es kostet Kraft, zuvorkommend und freundlich zu sein – seltsam, schon über 25 Jahre lang, wenn Morrissey etwas später singt, „it takes GOODS to be gentle and kind“: Da spricht er vom Aufgebenkönnen, vom Darangeben des Erreichten, um etwas ungleich Bedeutsamerem inne zu werden. Vom Durchbrechen des Zirkelschlusses handelt „I know it’s over“. Erst heute, an der ewiggleichen Kreuzung, stand ich wieder kopfschüttelnd in dem ausweglosen Kreis. Er ist immer ein Gesicht: Sieh ihm in die Augen, dem Anderen – und augenblicklich erlischt bis auf Weiteres seine wie deine Obdachlosigkeit? – Leider nein. Leider bleibt es dabei: It’s over … Bei den Smiths heißt es nicht „it takes goods to be gentle and kind“, sondern lediglich „guts“ braucht es für sie, etwas so Fades wie „Mumm“ hielt der große Morrissey für nötig, um gentle and kind zu sein (22. August, Jakobikirchhof).

Für dich, du „Freund“, komme ich doch gar nicht vor.

Die sichtbaren und die unsichtbaren Gefängnisse – SILENT STRENGTH heißt ein Programmpunkt des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Und LÄRMENDES GLEICHMASS? Und VERSCHWIEGENE MATTIGKEIT?

Hör hin

Das nächtliche Krankenhaus: Im Untersuchungszimmer gegenüber liegt in seinem riesigen Bett ein Greis im Sterbeschlaf, eingefallen, grau, mit buschigen Brauen. Wirbelt eine Schwester vorbei und lacht einem Pfleger hinterher (es ist spät in der Unterwelt), dann klappen die alten schwarzen Augen auf, begierig alles Licht zu schlucken (20. August, Langenhorn).

Kein Schrapnell habe ihm etwas anhaben können, sagte der flinke dickliche Serbe, mit dem ich im mitternächtlichen Krankenhausinnenhof rauchte. „Und jetzt der Zucker. Was hilft da?“ – „Insulin?“ – „Silizium. Quarzit. Granit!“, sagte er. „Guck auf die Pflastersteine. Die musst du zermörsern – TNT. Ich kenn mich aus mit Telefonen.“ – „Sie meinen, es gibt keine Verbindung nach draußen?“ – „Egal, wohin, wir müssen den Weg freisprengen.“ (21.8., Nacht)

Hör hin: Das Lied der Grille hat Strophen.

Ein Hund schwimmt vorbei

„Immer träume ich von dir.“ – „Und was?“ – „Du fragst mich etwas, und ich weiß keine Antwort.“

Ein Hund schwimmt vorbei und ist so braun wie das Wasser. Im Dorf fährt eine Frau eine Schubkarre Mist in den Stall, beschwingt, im türkisblauen Kleid (Großensee, 19. August).

Der Mann, der die Fotokopierer wartet, kommt jede Woche, und immer sieht er gleich aus.

Agreements

Gestern auch, später, die hilflose Lehrerin auf der nachtdunklen Terrasse. Keuchend erzählt sie von einem Schüler, der, vor aller Augen, spaßeshalber, mit einer Kette, einen anderen würgte. Wie das, mit 55, noch acht Jahre lang überleben, sagt sie, eine Hand am Hals.

„Love is an agreement between unlike things“ – Emma Lew

Viertausend Apfelsorten gab es im 17. Jahrhundert, sagt der Pomologe – und das seien nur die, denen man Namen gab und die deshalb bekannt wurden.

Die schönste Frau der Welt ist Chinesin, sie wurde in China dazu erklärt.

Annonce: Frau sucht Mann, um sich gemeinsam zu vergessen.

Foto © Karl H. Koch

Berührungen

Beschimpfung eines Hundes: „Fass!“

Gestern, im Dunkel am Waldrand, erst Rangeln, Rufen, dann schlagartig entflammte Schlägerei unter zehn, zwölf Jugendlichen: Zwei Mädchen und ein Junge droschen und traten auf einen Vorübergekommenen ein. Geschrei vom Geschlecht, verhöhntes Verwunden … ohnmächtig still vor lähmender Angst wir, Zuschauer, und gellend um sich schlagend vor lauter Ohnmacht die Kinder (Volksdorf, 18./19. August).

„Bin ich noch am Leben?“ – „Reiß dich doch zusammen.“ – „Fass mich an!“

O Sommer, o Chateaus!

O Sommer, o Chateaus!
Welch Seele wäre makellos?

Kenn ich doch die Zauberschrift
Dieses Glücks, das jeden trifft.

Lebwohl ihm, gleich, wie spät
Der Gockel Galliens kräht.

Bah! was ist das Leben leer:
Keinen Neid verspür ich mehr.

Reiz auf Reiz packt Leib und Seele,
Bloß damit das Kleinste quäle.

O Sommer, o Chateaus!

Tag seiner Flucht, hurra!
Und der Todestag ist da.

O Sommer, o Chateaus!

Arthur Rimbaud

Eine andere Uhr

Verkehrte Welt, als Roger Daltrey von den Who zum Abschluss der grauenerregenden Nummernschau am Ende der Londoner Olympiade noch einmal ergreifend sang: „See me … feel me … touch me … heal me.“ Als hätte er gesungen „I see you … I touch you … I feel you … I heal you.“ (17.8.)

Manchmal träumt der schnellste Mann der Welt von seinem im Garten die Schnecken aufsammelnden Großvater.

Eine andere Uhr: Das Rufen, das Plärren, das Stillschweigen der Kinder gliedert die Tage, die Jahreszeiten (18. August) – die ganze Zeit?

Ruhe, ihr Rand

Die großen Bäume drüben am Friedhof sind in den vergangenen Jahren so gewachsen, dass es in der Abenddämmerung den Anschein hat, als würden sie auf einem Hügelkamm stehen – als wäre dort um die Toten her eine Umfriedung gewachsen (16.8., Ohlsdorf). Und ist es nicht so?

Peter Handke, der Lauscher: „das Wiehern der Taubenflügel in der Leere“, „das Spielautomatengurgeln und -rülpsen“ und so weiter, und so fort. Und den Freund erinnernd: „Ein feines Geräusch geht durch das Universum / es ist meine Liebe zu dir“ (Nicolas Born)

Ein Auto fährt vorbei, darin Musik, dass es klingt, als treibe sie das Auto an.

There is a light that never goes out

„Be thankful, just once in your life!“, ruft die britische Nachbarin ihrem Mann zu, mit dem sie sich gern im Vorgarten streitet, und er ruft zurück: „I’m thankful, my dear, for ever and ever and ever.“

Als Kind, sagt die Frau, habe sie immer geglaubt, nicht der Wind bewegt das Laub, sondern die rauschenden Blätter der Bäume erzeugen den Wind. –
Bis ich 22 wurde (1987 unterm freien Nachthimmel von Luxemburg) war ich überzeugt, die Erdrotation lässt sich ablesen an der Geschwindigkeit der Wolken (15. August, 25 Jahre später).

The World won’t listen – stimmt. Weil du nichts erzählst. The world won’t listen – stimmt nicht. Sie hört alles, was du sagst, sogar was du nicht sagst, hört die Welt.

Was anziehen, Herr Oktober?

Sternbilder: die Frau im Gewimmel der Einkaufsmeile(n), die mit ihrem Stoffbeutel gegen alles schlägt, was ihr im Weg ist – Auto, Mülltonne, Schild, Hund, du. Am Nachthimmel der Satellit, allein, unbemannt, durchkreuzend den Großen Wagen. Du könntest herausfinden, wie er heißt, wie lange er unterwegs ist, wer ihn gebaut hat und wann (14. August). Wozu.

„Hier ist es heiß“, schreibt die chinesische Dame, die von Shanghai aus die Reise koordiniert, „aber für den Oktober bringen Sie besser einen Mantel.“

Schreiben? Wie gut, davor flüchten zu können – in den hellen Sonnentag, ins ungemachte Bett. Wie gut, aus allem verschwinden zu können: dem sonnigen Tag, dem Dösen – ins Schreiben!

Verabredungen

Manchmal in diesen schon kühleren Spätsommernächten glaubt sie, Orion zu spüren – wie er sich anschleicht am Nachthimmel. Noch aber zirpen die Grillen, achtlos, sommerselig, und sie, auf dem Balkon rauchend, summt vielleicht etwas zu hastig.

Solange Fahrräder fahren, geht die Welt nicht unter.

„Mit wem bist du verabredet?“ – „Mit einer offenen Tür.“ – „Und wo trefft ihr euch?“ – „Abwarten.“

Kometen

Unter der Stadtbahnbrücke saßen im Abendlicht des Regen- und Sonnentags zwei große Krähen – Gedanke und Erinnerung. Ab und an spannten sie zum Trocknen die Flügel auf, da hatten sie so glänzendes Gefieder, dass es zum Federkleid und sie zu Raben wurden, die die Blicke aus dem heimwärtsbrandenden Verkehr auf sich zogen (11. August).

Gestern, sternenklare Nacht, der Perseidenhimmel dunkelstblau, und darin hin und her schnellend die Ideen, verglühend, „hölderlingleich“ die Sternschnuppen: „Möcht‘ ich ein Komet seyn? Ich glaube. Denn sie haben Schnelligkeit der Vögel“.

Früh am Morgen steigt eine junge Frau in die Bahn und fährt mit dir durch Untergrund und Unterwelt. Auf dem Schoß hat sie etwas Rundes, in einer Plastiktüte Verstecktes stehen … und als es mit einem Mal anfängt, in dem ganzen Waggon nach Kuchen zu duften, fahren sie und du, ihr alle momentlang gemeinsam aufs Land, hinauf ins Licht eines hellgrünen Sommers. – Neun Stunden später, die nach dem erledigten (!) Arbeitstag offenstehenden Türen der U(nterwelt)-Bahnstation erwarten dich – so wie du sie erwartet hast (13.8.12).

Down Time’s quaint stream

1656

Stromab die fremde Zeit
Ohne ein Steuer
Heißt man uns segeln
Geheim der Hafen
Einzig Böen Regeln
Was für ein Käpt’n
Riskierte das
Welcher Korsar sucht Breiten
Ganz ohne Sicherheit des Winds
Und Plan von den Gezeiten –

Emily Dickinson

Da seid ihr ja …!

Der verspätete Sommer (siehe oben), auf den alle warten und hoffen, ist doch längst da, nur ist er halt zerstückelt. Es regnet täglich. Aber Tag für Tag aufs Neue überraschend, mit einem Mal, kommt auch die Sonne heraus – Höhlentier, erscheine! Dann landen blau und grün schillernd Fliegen auf der leuchtenden Brüstung und beginnen miteinander zu spielen. Die Haustüren fliegen auf, weil sich auch im Vorgarten streiten lässt. Kinder auf Fahrrädern johlen vorbei, auf dem Rücken ein ganzes Kammerorchester. Von den Margeriten tropft es, und im Garten, durch den die Finken sprühen, überm kniehohen, nicht zu mähenden Gras, steht der Baum: Da seid ihr ja, Äpfel! (8.8.)

Nicht „Zukunftsmusik“ sagte die Großmutter, sie sagte „Zukunftsmelodie“.

99, Huichuan lu, Changning, Shanghai – Septemberadresse. Ich bin keine Suchmaschine, finde sie auf keiner Karte, es gibt keine Beschreibung, keine Bilder. Spring! Wohin? Spring in deine Vorstellung von Changning.

Das Gespräch

Sonntagnachmittag, es wird und wird nicht Abend: Die Welt hat Zeit, und sie fragt und erzählt sich. Unterwegs zu den schon wieder unruhigen Müttern sind die Wochenendväter mit den Kleinen: „Warum eigentlich sagt die Stimme der U-Bahn das von der Sperrung immer wieder? Es wissen doch schon alle.“ – „Damit du es auswendig lernen kannst.“

„Unfüßig“, sagt meine Jüngste, unfüßig habe sie sich heute den ganzen Tag lang gefühlt. Ja – unfüßig, so fühle ich mich oft – wie du! (6. August, einen Monat vor dem Abflug nach China)

Du musst das Gespräch suchen – daran tust du gut. Such das Gespräch: auf der Straße, in der Bahn, in der Schlange vor dem Kontoauszugsdrucker. Wo immer wenigstens Zwei miteinander reden, da hör wenigstens zu. Vor allem (allen) such das Gespräch bei dir: Es ist da, fast immer, und will sich kundtun. Wem?

Dahinschlüpfender

Gestern, im strömenden Regen, der Fährmann auf seinem Boot über die Schlei. Zum morgigen Wetter befragt, blickt er in den grauen Himmel, der Regen prasselt ihm ins Gesicht, und er sagt fragend: „Wie soll es sein?“ (3. August, Missunde)

Im Schleswiger Ortsteil Holm die runde Siedlung, die aber keinen Marktplatz umschließt, sondern den Friedhof. Die Holmer Toten werden nicht vergessen. Fenster blicken auf Gräber, das Gras der Vorgärten ist das Gras der Grabumfriedungen. Nachbarn rufen von Tür zu Tür über den Friedhof, und manchmal antwortet ein Toter.

Ein wundersamer Fleck am silbernen, unwirklich glattgestrichenen Fjord: Haithabu im Dauerregen. Hugin und Munin, die beiden Raben auf Odins Schultern: Gedanke und Erinnerung, die dem Gott jeden Morgen die Neuigkeiten über die Welt in die Ohren krächzen. Ein seltsamer Gott, dieser tierverständige, so menschlich anmutende Odin mit seinen ihm um die Beine schnürenden zwei Wölfen Geri und Freki, Gierig und Gefräßig. Märchenhaft, zum Weinen schön, sein achtbeiniges Ross Sleipner, der Dahinschlüpfende, auf dem Odin durch den Himmel, durchs Meer und zu den Toten reitet. Vier Beine scheinen zu galoppieren und vier zu bremsen. Oder zeigen Abbildungen Sleipners nur, was das ist: Galopp, schnelle Bewegung, Tempo?

Drei Totenreiche kennt Sleipner und malten die Wikinger sich aus: Hel für die von Krankheit Dahingerafften, Ran auf dem Grund des Meeres für die Ertrunkenen, Walhall für die Erschlagenen – keine dieser Unterwelten ist ein Inferno, eine Hölle oder ein Straflager. Welche Musik sie wohl hörten in Haithabu, in Heddeby? (4.8.12)

Foto: Bildstein von Lärbro, Tjängvide, Gotland (Ausschnitt) © Museum Haithabu

Auf der Lichtschwelle

Zwischen den Häusern, den Villen am Elbhang, der schmale silberne Abschnitt des meerwärts fließenden Stroms – seine unfassliche Ruhe. Niemals mein „Nur weg, nur weg!“, immer bloß sein gleichmütiges „Weiter, weiter“ – im Hintergrund das Gebelfer der chinesischen Generalkonsulatsangestellten, Abteilung Visumsangelegenheiten (31. Juli, fünf Wochen bis zum Flug nach Shanghai).

Gestern, der abgestorbene Baum, knorrige vertrocknete Eiche, eine Handvoll gelber Vorjahresblätter hoch droben im ansonsten kahlen Geäst: der vorübergehende Tod! „Diesen Sommer“, dachte ich, „lässt sie vorbeigehen. Sie macht eine Pause, setzt ein Jahr lang aus. In ihrem Alter eine leichte Übung, die Weisheit, die Besonnenheit.“ (Augustbeginn im Hamburger Jenischpark, wieder der Blick, diesmal zwischen den alten Bäumen hindurch, aufs silberne Band der Elbe)

Durch die Gänge und Flure, vorbei an den Warte- und den Schwesternzimmern zu eilen, hinaus ins Freie, ans Licht und in die Luft – wie herrlich und zugleich schauderhaft. Jedes Krankenhaus, ja jede Arztpraxis ist eine Abteilung der Unterwelt. Selten im Alltag fühlst du das Orphische so deutlich wie auf der Lichtschwelle, dem Siechen vorübergehend entronnen (St. Georg, am 2. August, die rasselnden Zitterpappeln zwischen Haus A und Haus M).

Regale

Am Grab seiner Urgroßmutter fragt mein Sohn, ob er demnach auch zum Teil Sachse sei. Im Nachbargrab liegt ein in Smyrna geborener Toter, und ein Großvater meines Sohnes lebt heute wieder in einem Städtchen bei Izmir, dem alten Smyrna. Auf dem Weg zum Ausgang dauert es keine Minute, bis wir an einem Grabstein mit hugenottischem Namen vorbeikommen. Vor der Kirche, schlafend, mit seinen schönen wachen Ohren, ein Totenhund (Aumühle, 28. Juli 2012).

Öffne das einzige Fenster. Die Sonne scheint. Sobald du beginnst, die Gedichtbände aus den Regalen zu räumen, fängt es an zu regnen. Es regnet von rechts oben nach links unten am Fenster vorbei, dann von links oben nach rechts unten, weiter von gerade oben nach gerade unten, und schließlich regnet es von links und rechts unten aufwärts und kreuz und quer vorbei an dem einzigen Fenster, während draußen die Sonne scheint und du die Zeit vergisst und den Rest des Tages (29. Juli) in den Gedichten von Li Bai liest.

„In welchem Käfig man auch sitzt, man muss ihn verlassen“, sagt John Cage, dessen Name Sie dabei nicht außer Acht lassen sollten, geneigter Übersetzer.

Phlox und Kamille

Immer bleibt da eine Stelle,
die niemand kennt – der Phlox.
Ein Feuer, und dann dieses helle
Leuchten, das dort brennt –
Kamille.

Die Stelle lieb ich fast wie dich,
weil du das weißt – du, die Kamille.
Du linderst, und du lässt uns sein,
wenn er mich mit sich reißt –
der Phlox.

Im Nu

Überall überraschend, immer wieder, taucht von einem zum anderen Augenblick, im Nu, ein Gesicht vor dir auf, und in das fällst du dann wie hinein. Warum, ausgerechnet, absichtslos, gerade in dieses? Das Geschlecht – gleichgültig. Es sind immer die Augen. Es ist immer Geschichte: Es geschieht, weil du darauf hoffst, weil es allein das ist, worauf du setzt: Durchbruch. Wohin: woher hinaus? Du fällst durch das fremde Gesicht aus der Unwirklichkeit (Redaktion, Hamburg, im Dreitagesommer, 26. Juli).

Kindheitsgeruch: Nagellackentferner. Die Fingerbewegungen meiner Mutter. Die Nägel, wie zehn rote Augen, die mich fragen, ob sie wohlgeraten sind. Die Watte, die Bäusche auf dem Tisch. Der Glastisch, der heute, hier, genauso wie dort, vor vierzig Jahren, im durch die Fenster hereinfallenden Licht des Wohnzimmers steht, neunhundert Kilometer entfernt.

Abend eines Hitzetags: Der schwitzende Bestattungsunternehmer steht vor dem Kellereingang. Für einen Augenblick hält er in der Tür inne und denkt nach, stirbt in Gedanken und schiebt dann rasch, ehe das Gewitter kommt, sein Fahrrad hinein.

„Wenn alles nichts hilft“, sagte gestern (28. Juli) der Arzt zu mir, „lasse ich meinen Zertrümmerer auf Sie los“ – und er meinte es gut, sogar gütig, und so verstand ich es auch, und doch ganz anders.

Weiter, weiter, leben, leben

Der verspätete Sommer, so spät dies Jahr, dass selbst der irr(ig)e Anspruch auf den Gesichtern: Wo bleibt er, mein Sommer? Ich hab mir die Wärme, die Sonne verdient! – vom Regen weggewaschen scheint … und jeder will wieder leben, lebt auf (Hamburg, Elbe, endlich, unterm rosig hellblauen Abendhimmel des 23. Juli).

Seltsam, seltsam bewegend, heute (heller heißer Sommertag am Alsterlauf) der junge Kerl vor dem Supermarkt, sein schwarzes Shirt mit dem Aufdruck: Weiter, weiter / Ins Verderben, / Leben, leben, / Bis wir sterben – seltsam der auf dem Rücken durch die Welt getragene Fatalismus Büchners, seltsam das Wir (um des Reimes willen?), seltsam das freiwillig Moribunde, das Morituri te salutant. Ich ging durchs Licht, ich ging vorbei und dachte (summte stumm): Weiter, weiter / Trotz Verderben, / Leben, leben, / Nur nicht sterben!

Was heißt „über seine Verhältnisse leben“? Und was „die Ruhe bewahren“? Die Stille bewahren kannst du nicht, aber die Ruhe, die Muße (selbst, gerade, im Lärmen des Fuhlsbütteler Sommerabendverkehrs). Verlier die Muße, und du fällst aus den Bezügen, den Beziehungen. Ruhelos, lebst du über deine Verhältnisse, ruhig wirst du darin.

Rätsel, Rosette

Ein Traum von Peter Handke: Ich sollte eine Nacht lang im Heuschober mit ihm übernachten und, in ein altes Tonbandgerät, flüsternd meine Beobachtungen sprechen (Obernai, Hotel „Le Gouverneur“, 21. Juli, der Innenhof, in dem früher die Pferde standen).

Auf dem Mont St. Odile die Heidenmauer, eine auf und ab laufende, kilometerlange Vergeblichkeit – und die Männer, die Pferde, Esel, die sich hier im Hochwald zu Tode geschuftet haben müssen, wofür? Um aufzufahren in ein abgeschmacktes Bild von Himmel? Wann war das, und wer waren sie? Rätsel, die keine Rolle spielen vor der in die Mauern des Odilienbergs geritzten Schrift: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn was früher war, das ist vergangen.

Wieder der alte Gedanke beim Anblick der leuchtenden Rosette im Straßburger Münster: Nimm alles ernst, ausgenommen nicht das Geringste, nur dich selbst. Dich achte, immer, gerade weil du nicht immer alles Andere achten kannst (die Rosette, la rosace, ihre farbigen Strahlen, Blüten, Blätter, die pupillengleich ausgesparte Mitte: ein BILD für das schöne Auge (des) Gottes?).

Jahrhunderte lang muss es im Münster den Beruf des Namenssteinmetzes gegeben haben: In teils kunstvoller Schrift sind in die roten Mauersteine der Wände hoch oben über der Aussichtsplattform die (Nach-)Namen derer gemeißelt, die im 17., 18. und 19. Jahrhundert den Turm der Kathedrale bestiegen und die Nachwelt das wissen lassen wollten. Goethes Name steht unter der Jahreszahl 1780, Schillers schmucklos und allein, Lavaters ist zu zwei Dritteln („Lav“) herausgebrochen. Darunter, dünn und falsch: LENTZ – (elbwärts, 22.7.).

Foto © Sabine Bonné

Ohne zuzustoßen

Ein Traum von Jakob Lenz. Oberlin fertigt in seinem Arbeitszimmer einen Scherenschnitt von ihm an, den Lenz bestaunt und bewundert. „Ja, das bin ich!“ Insgeheim aber denkt er über das Bildnis, dass es völlig missraten sei, es ähnelt ihm kein Stück, zu plump, zu unförmig ist er unter Oberlins Hand geraten. Fortan aber, seltsam, hält er sich auch selber für unförmig, plump: Er ähnelt sich nicht mehr. (In Obernai, am Tag nach der Wanderung durchs Steintal)

Der Mirabellenbaum voller reifer Früchte gestern, mitten in einem Weinberg am Stadtkernrand. Als ich einige der gelben Früchte pflückte und aß, empörten sich nur die Drosseln (20. Juli).

Abends das Chorkonzert in der Église St. Michel von Wisches: Eine junge Blinde stand in der Mitte, und ihre Freude beim Singen von Ravel und Poulenc war nicht allein hörbar und fühlbar, sondern auch sichtbar (– der riesenhafte Erzengel über dem Altar, der dem Satansboten den harpunenartigen Pfeil an die schwarze Gurgel hält … ohne zuzustoßen).

Unter freiem Himmel

Gestern (18. Juli), im Steintal, die kleinen, sehr einfachen Dorfkirchen der ehemaligen Pfarrei Oberlins: in Fouday wie in Waldersbach der mächtige gusseiserne Ofen in der Mitte des Kirchenschiffs (Kirchenfloßes), zentral zwischen Altar und Gemeinde, walfängerkapellengleich. Gegabelt, auf Umwegen verläuft das Ofenrohr durch den nach Holz und Holzkohle riechenden Raum, um seine Wärme abzugeben. In Waldersbach erhielt ich den Kirchenschlüssel, stieg auf die Kanzel, von der Lenz vor 234 Jahren predigte … und stand stumm dort oben vor der fleckigen Wand auf Augenhöhe mit der Orgel und der Empore voller leerer Bankreihen mit derselben von den Beinen hebenden Furcht wie vor einer Lesung unter freiem Himmel.

Bilderlose Räume: in Fouday einzig ein Gemälde Jesu auf dem Kreuzweg, das Kreuz unsichtbar, unnötig. In Waldersbach fehlt sogar das – dort hängt, in einer dunklen Nische, nur ein Bildnis Oberlins.

Foto: Dorffriedhof von Belmont, Ban de la Roche. © Sabine Bonné

Der Wald im Schloss

Für Oberlin, den Sammler, den Kartografen, den Mineralogen, Geologen, Lehrer, Reformer, den Gottesmann, Pastor, Zeichner, Beurteiler, Prediger, den Gelehrten, den Universalgelehrten, der von sich doch fragte: „Moi? Qui?“ – zwei Wörter, zu denen Goethe nie in der Lage gewesen wäre –, für „Papa Oberlin“, wie man ihn im Steintal nannte und noch immer nennt, war so einer wie Lenz lediglich Casus, ein Fall, eine Marginalie und absonderliche Randfigur. Was immer der Sucher Oberlin suchte – ein Mensch, Lenz war es nicht (18. Juli, im Musée Oberlin, Waldersbach).

Saugend, zwischen den Lippen, weißt du mit einem Mal wieder, was das ist: ein Strohhalm! – Sommerschönes Steintal, „elsässisches Sibirien“, voller wilder Gräser … da schwirrte ein großer, ganz roter Vogel durch einen Streifen Licht, einen Lichtstreif am Waldrand – „Da! Eine Drossel?“ Ja: eine rote Drossel.

Auch die Wegmarken der Wanderer – Sprache. Hilft weiter, lässt zweifeln, macht reicher: rote Raute, gelber Kreis, blaues Viereck. Dort entlang! „Der Wanderer“ sagte meine Großmutter liebevoll zum Auto ihres Vaters, „unser Wanderer!“

Das Schloss im Wald, es war nicht mehr (und nicht weniger) vorstellbar als der Wald im Schloss.

Karte und Brief

Noch immer in dem Berggasthof von Natzwiller in den Vogesen: Traum von dem Ballon, den ich als Achtjähriger losschickte auf die Reise, versehen mit einer handgeschriebenen Karte – den ich mir vorstellte, wochenlang, auf seinem Flug über die Alpen, das Riesengebirge gen Osten, Rosenheim, Wien, Prag, allein in den Wolken und im blauen Himmel, bestaunt von den ziehenden Vögeln. Eines Tages kam die Nachricht, dass er bis nach Böhmen getrieben war, der weiteste der ganzen Schule (Marienstein) – und ich erhielt als Gewinn ein Kugelschreiberset, mit dem ich nie ein Wort schrieb.

Das Dorfmädchen, das jeden Spätnachmittag auf der Brücke über die Serva sitzt und so laut jammert, dass jeder in der Nachbarschaft die Fenster schließt – sie hält einen Schreibblock auf den Knien, sie kaut auf dem Stift, sie rauft sich das Haar, um dann erneut ihr markerschütterndes Wimmern hören zu lassen. Was fehlt ihr? Sicher, sie ist, auf ihre Weise, behindert. Aber was hindert mich, zu ihr zu gehen, mich zu ihr auf die Serva zu setzen? Mein grenzenloses Erstaunen, als ich heute Abend begriff, dass sie nicht jammert, sondern singt, verzweifelt, weil ihr das eine Lied nicht gelingt – ehe die Freude sie neu überkommt, da draußen zu sitzen, in der Dorfmitte, auf der Brücke über dem rauschenden Bach, und alles, was ihr durch den Sinn geht, aufzuschreiben – (Natzwiller, 17. Juli). „Sing bitte weiter …“