And thou art far in humanity

„… if there is anything good about exile, it is that it teaches humility. One can even take it a step further and suggest that the exile’s is the ultimate lesson in that virtue. And that it is especially priceless for a writer because it puts him into the longest possible perspective. ,And thou art far in humanity‘, as Keats said. To be lost in mankind, in the crowd — crowd? — among billions; to become a needle in that proverbial haystack — but a needle somebody is searching for – that’s what exile is all about. Pull down your vanity, it says, you are but a grain of sand in the desert. Measure yourself not against your fellow penmen but against human infinity: it is about as bad as the inhuman one. Out of that you should speak, not out of your envy or your ambition …“ Joseph Brodsky, „The condition we call exile“, 1987

Ein vielsagender Lapsus unterläuft Brodsky hier in dem so brillant eingesetzten Keats-Zitat. Statt aus dem Jambus gefallen „And thou art far in humanity“ heißt es nämlich bei John Keats „And thou art distant in humanity“, statt „Und du bist in der Menschlichkeit weit“ also „Und du bist fern inmitten aller Menschen“. In seinem Versepos „Isabella; or, The Pot of Basil“ von 1820 verarbeitet Keats eine Novelle aus Boccaccios „Dekameron“: Isabella soll mit einem „Edelmann und dessen Olivenbäumen“ verheiratet werden, liebt aber den Angestellten Lorenzo, der daraufhin von ihren Brüdern ermordet und verscharrt wird. Lorenzos Geist erscheint ihr im Traum und berichtet Isabella, wo sein Körper zu finden ist; sie gräbt ihn aus und beerdigt Lorenzos Kopf in einem Basilikumtopf, der in ihrem Zimmer steht. Brodsky deutet durch das Zitat an, dass Exil stets eine von einem Einzelnen empfundene, kaum mitteilbare existientielle Demütigung darstellt – weshalb er in dem Ausschnitt aus seinem für eine internationale Tagung von Exilanten verfassten Aufsatz versteckt auch auf Ezra Pound hinweist, den wohl bedeutendsten us-amerikanischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Aufgrund seines fatalen Engagements für den Faschismus Mussolinis wurde Pound nach der Befreiung Italiens von US-Truppen gefangengenommen und längere Zeit in einem Käfig „ausgestellt“, bis man ihm den Prozess machte. Der Todesstrafe entging Pound allein durch ein Gutachten, das ihn für geisteskrank erklärte. Für 12 Jahre war er Insasse in einer staatlichen Heilanstalt, ehe er nach Italien auswanderte und bis zu seinem Tod 1972 in Venedig lebte. Vom Faschismus distanziert hat er sich nie. Brodskys Ausruf „Pull down your vanity, it says, you are but a grain of sand in the desert“ geht auf Ezra Pounds Pisaner Canto LXXXI zurück, in dem es heißt: „Pull down thy vanity / How mean thy hates / Fostered in falsity“. Brodsky und Pound liegen in Rufweite zueinander bestattet auf der Friedhofsinsel San Michele in der Lagune von Venedig. Pounds Grab wirkt monumental und karg zugleich, antikisch, archaisch. An Brodskys ist ein Briefkasten befestigt. Hier die 39. Strophe aus „Isabella; or, The Pot of Basil“ von John Keats:

„«I am a shadow now, alas! alas!
«Upon the skirts of human-nature dwelling
«Alone: I chant alone the holy mass,
«While little sounds of life are round me knelling,
«And glossy bees at noon do fieldward pass,
«And many a chapel bell the hour is telling,
«Paining me through: those sounds grow strange to me,
«And thou art distant in Humanity.“

Bild: William Holman Hunt: „Isabella and the pot of basil“, 1868, Öl auf Leinwand; Laing Art Gallery, Newcastle-upon-Tyne

Erst wieder in Belgrad

Zum ersten Mal hörte ich genauer zu, was – nein: wie eine Elster erzählt. Denn dass sie erzählt, daran kann kein Zweifel bestehen, außer vielleicht in den Erzählungen der Ornithologen; aber die zählen hier nicht, oder nicht mehr als alle anderen. Die Elster gurgelte, schackerte, kollerte, piepte, krächzte und sang, ja kurz flötete sie sogar. Und saß dabei allein, elsterseelenallein oben im kahlen Geäst – offenbar ein Selbstgespräch.

Jeden Donnerstag tritt der junge Hausmeister in den begrünten Innenhof und geht unter meinem Fenster vorbei wie der von seinen Aufgaben bekümmerte Tod.

Ein Tag grauer als der vorige, und der nächste, Wittgenstein zum Trotz, mit Sicherheit noch grauer, noch novembriger. Warum? Im Ernst: Weshalb dieses ewige Gleiche in der Hässlichkeit? Warum ist das Üble, das Zerstörerische und Bekümmernde beinahe stets das Vorherrschende? Denn wir alle wissen doch, wie lachhaft sie sind: der Tod und sein Kurier der Schmerz und alle seine Claqueure: die Niedergeschlagenheit, der Liebeskummer, der Stumpfsinn, die Verfemtheit, die Verzweiflung, die Mutlosigkeit, das Selbstmitleid, die Erbärmlichkeit und so weiter und immer so fort.

Im grauen Regen sehe ich eine schillernde Elster – dieselbe, die sich mit Selbstgesprächen die Zeit vertreibt? – an einer Backsteinhauswand sitzen. In der Vertikalen. Wie eine Fliege von der Größe einer Elster.

Handkes Verwandlung, sobald er anfängt, von Politik zu schwadronieren.

Das Kind zuckt zusammen, sobald das wilde Kind ins Haus gebrochen kommt. Das wilde Kind lacht, johlt, singt, brüllt, stampft und schreit, ob im Treppenhaus oder Keller, im Badezimmer oder Flur, wo es für gewöhnlich Fußball spielt. Das Kind blickt bestürzt zur Decke: Das wilde Kind ist zurück! Der Staub rieselt von den Wänden. Seine Mutter versucht das wilde Kind zu beschwichtigen, vergeblich. Vergeblich! Das wilde Kind heult gegen die Mauern an, bis sie sich öffnen werden oder bis das wilde Kind vergisst, weshalb es eine solche Wut in sich trägt. (Barmbek, 16.12.)

„Ich träume, dass eine Dame, die mir ins Gesicht blickt, sagt: ,Ich sehe, Sie waren bei dem Wettbewerb dabei, aber ich kann an Ihrem Gesicht nicht ablesen, ob sie gewonnen haben oder nicht.’“ John Cheever

Erinnere dich: an die Erzählung deiner Jugendliebe von ihrem jugoslawischen Onkel. Kurz bevor die Familie in Hamburg ins Auto stieg, sagte er ernst: „Jeder, der noch mal muss, der gehe jetzt! Denn ihr wisst, ich halte erst wieder in Belgrad.“

Man kann nie wissen

„Man kann nie wissen“ – im Grunde ein quantentheoretisches Axiom in Form einer Redewendung, eines geflügelten Wortes. Auch darin zeigt sich die Tragweite der Bohr’schen Revolution (die die Leute gar nicht mitbekommen haben): Die Quantentheorie ist zutiefst demokratisch, ein Akt der Befreiung vom Joch der Newton’schen Mechanik, nach der alles wissbar, ausdrückbar, erklärbar, darstellbar sei. Bohr sagt: „Man kann nie wissen, es sei denn, hm …“

Änderungsschneiderei an der Fuhlsbüttler, der „Fuhle“: eine vermeintliche Familie. Der Schneider ist mit Wichtigerem beschäftigt, die Frau kommt aus dem Hinterzimmer und grüßt kurz, der Sohn ist der Zauberlehrling, der eine Hose kürzt. Doch alles scheint bloß so. Und dazu singt – nein tschilpt resigniert – über dem Nähtisch des Schneiders der Kanarienvogel in seinem Käfig. (Barmbek-Nord, 24.11.)

Der Aasee, schön, beinahe unwirklich im verspäteten Oktoberlicht. Aber da ist nichts, was darüber ein Gedicht zu schreiben nur möglich erscheinen lässt. Einer wie ich geht umher im Promenier-Idyll. Obwohl es ja bestimmt ein Licht gibt, irgendwo, irgendwann, in dem auf eine Weise die Dinge leuchten und erstrahlen, dass alles Verfälschte und Gestellte darin (oder daran) verfliegt, und zwar augenblicklich. Ein Licht, in dem das Unwirkliche verschwindet, weil es zurücksinkt. Aber wo, und wie? Das gilt es herauszufinden? Und diese Leute, ihre Gesichter, sind nicht die schlechtesten Wegweiser, nein nein. Wir alle sind zufrieden, viele scheinen glücklich, wollen gar nichts Echtes, lieber, was sie hier am Aasee haben. Nein, in Wahrheit halten sie das, was sie hier sehen, für das einzig Wirkliche und Wahre. Es gibt nichts Anderes, kein anderes Licht in diesem Augenblick. Also? Guck, das schöne Licht. (Münster, 26.11.)

Der bürgerliche Entwurf ist ein Übergriff und daher vielleicht hinzunehmen – von jedem, der sich dazu entschließt –, nicht aber „wahr“ oder gerecht.

Der Steinmetz fährt ein besonders wendiges und schmales Lieferauto – um zwischen den Gräbern umhermanövrieren zu können? Einer, der bei den Skeletten arbeitet.

Weißt du noch: deine Großmutter? Wenn sie zum Arzt „in den Ort“ fuhr, stand sie schon eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt des Busses an der Haltestelle. „Man kann nie wissen“ – auch ein Kindheitsaxiom. (4.12.)

Heute wählen die Österreicher ihren neuen Bundespräsidenten, den Rechtspopulisten H. oder den früheren Grünen-Chef Van der Bellen, den manche hilflos „Öbama“ nennen. Heute ist Rilkes Geburtstag. Er wird 141.

Elsternfüttern

In dem alten, halb verwilderten Wäschegarten im Innenhof des Nachbarblocks haben sie sämtliche Bäume gefällt. Zersägt in von halbwegs kräftigen Kerlen zu verladende Holzscheiben – sterbende Uhren –, liegen die Stücke im novembernassen Gras und verströmen abends und morgens einen betörenden Geruch in der Straße – nicht den der Trauer, den des Lebens. (17.11.)

Dieses Foto fand ich auf dem Bürgersteig vor den Mülltonnen, es zeigt Spuren des Regens, der Schuhe, die darauftraten, der Räder, die darüberfuhren. Ein Zufall, ein Windstoß hat es bewahrt vor dem Schredder, dem Feuer. Eine seltsame Szene hält das Bild fest, so banal wie archaisch, eine stille Poesie, die mich sogleich ergriff, als ich das Foto im aufgeweichten Laub liegen sah. Ein Feld. Sechs darin beschäftigte, zumeist junge Leute. Ein mögliches Gemälde-Motiv, wäre eine andere Zeit. So aber bloß ein Foto, weggeworfen. Wonach wird dort gesucht? Nach dem Sinn.

In der Abenddämmerung durch den Stadtpark. Das blaue Licht. Das Wasser. Die Leere über dem weiten Gras, und das Schwarz, die Stille der Bäume. (Winterhude, 18.11.)

Der schöne Zufall, ein poetischer Bote, als beim Umzug in die neue Bude der Freund das einzige Buch aufschlägt, das in der Gegend herumliegt: KEATS. Und laut vorliest: „Once more been tortured with renewed life.“ Kurz vor Schluss des ersten Teils in Keats’ Epos lässt Endymion seine Begegnungen mit der ihm rätselhaften Mondin Revue passieren. Vor 24 Jahren übersetzte ich die Passage, die in die Werke-Ausgabe nicht aufgenommen wurde, so: „Und schwerer noch befiel mich jetzt der Gram, / Als da ich aus dem Mohn der Hügel kam: / Und ein jahrzehntelanges Zaudern kroch / Hier faul vorbei, eh größre Freude noch / Jäh auf die tödlich gelbe Schwermut fiel. / Ja, dreimal sah ich dieses Zauberspiel; / Ward noch einmal geplagt mit neuem Leben.“

Elsternfüttern im Innenhof.

Wenn die Männer mit den gelben Laubsaugern und den gelben Laubsaugeranzügen von ihren Transportern springen, um im Viertel die Vorgärten und Innenhöfe von Laub zu säubern, den Herbst zu eliminieren mit ihrem erbarmungslosen Lärmen, dann ruf zum Fenster hinaus: „He, Heiopeis! Haut ab! Verschwindet, ihr Pissnelken! Weg, weit weg! Los, verflüchtigt euch!“ Oder ich schicke euch (in) die große Stille.

Handkes seit über 20 Jahren geliebte Notiz – „Ich sah einen Bekannten wieder: er war gescheitert, er war Sportler geworden“ – hat der Suhrkamp Verlag für mein Fehmarnbuch nicht freigegeben, da ich das Notat „nicht sinngemäß“ verwenden würde. Nach Rückfrage, wer bitte entscheide, ob ein Handke-Zitat sinn- oder unsinngemäß verwendet werde – ich würde diesem Sinnstifter von Suhrkampangestellten gern den Speichel von der Hose lecken –, wurde das Zitat freigegeben.

The surrounding bullshit

Für immer und einen Tag wird ihr Nashorn unter meiner Küchenbank liegen, „vom Lichte erwärmt“. Ilse Aichinger ist gestorben. (11.11.16)

Und gestern oder vorgestern starb angeblich Leonard Cohen – der nie sterben wird. Ich habe seine Lieder schon gehört, da war ich noch keine 16. O., der treulose Freund, traf als Bubi auf Cohen in den Dünen von Hydra und zehrte von der Begegnung ein halbes Leben lang: Der dunkle Fremde mit dem über der Brust offenen Hemd, der den ehrfürchtig schweigenden Jungen mitnahm in seine Schreibgemächer im Strandhaus, wo er einen Totenschädel auf dem Tisch stehen hatte. 1982 vielleicht. Zwei Jahrzehnte lang debattierten wir, ob Cohens Gedichte Literatur seien „oder bloß Lieder“ – anstatt sie zu lesen und ihre nichtswürdigen Übersetzungen zu hinterfragen. Unvergessen: sein dreibeiniger Hund im Nebel; in einem meiner Gedichte, das noch gar nicht veröffentlicht ist, taucht er wieder auf und behauptet sein Recht. Cohen war und ist eine Brücke, auf seine Weise bedeutender als Bowie und Dylan. Was Judentum heute unverändert ist, lernte ich nicht in der Schule, sondern an den Nachmittagen und Abenden, wenn ich seine Songs hörte und seine Romane las. „Das Lieblingsspiel“. „Schöne Verlierer“. Einige der Mythen herübergerettet und aufbegehrt zu haben gegen die Macht der Liebe wird sein Vermächtnis bleiben.

Am Morgen leuchtet das Gold einer russisch-orthodoxen Basilika durch die Bäume auf dem Hügelkamm – die Sonne geht auf, und das Gebäude dort oben über den Feldern voller Raureif gibt es nur in deiner Vorstellung und für zwölf, fünfzehn Sekunden. (Windeby, 13.11.)

Ob Obama sich gewundert hat über Trumps Wahl zu seinem Nachfolger? Vollmundig behauptet der Noch-Präsident, er wäre auch ein zweites Mal wiedergewählt worden. Ob er sich gewundert hätte über einen anderen Nachfolger, vielleicht Sanders, wenn der sich gegen die Todesstrafe ausgesprochen, Guantánamo geschlossen, die Bespitzelungen freier Bürger durch die NSA unterbunden anstatt gerechtfertigt und den Mut besessen hätte, eine TV-Liquidierung wie die Bin Ladens als unmenschlich zu brandmarken anstatt sie für sich auszunutzen und zu belächeln. Ob sich Obama über sich selber wundert, oder darüber, wieviel er unterließ? „In fantastischer Atmosphäre“, sagt er, habe das erste Vorbereitungstreffen auf die Amtsübergabe mit dem populistischen Hetzer Trump stattgefunden.

„Nothing’s changed but the surrounding bullshit that has grown … / And now he’s home, and we’re laughing like we always did … / My same old, same old friend … / Until a quarter-to-ten …“ Pearl Jam

Abgeworfen hat das Rennpferd seinen Jockey / und galoppiert allein durch Louisville, Kentucky.

„Die Welt ist leer, sie ist auserzählt“, sagt im Radio der Literaturkritiker, und ich schalte das Gerät aus.

Wie die Gesichter beschreiben

„Ich glaube an Kinder, wie man früher an Apostel glaubte.“ Victor Hugo

Jeden Morgen im Moment des Aufwachens neuen Mut schöpfen zu müssen – wo ist dein Brunnen, dein Trog, deine Kelle voller Zuversicht? Das Selbstvertrauen, das Selbstzutrauen eine Art Wasser: Vertrau dir; trau dir das zu. Jeden Morgen im Moment des Erwachens die Empfindung, dein Bett steht im Freien. (Barmbek, 7.11.)

Wie die Gesichter beschreiben, die Traurigkeit, das Staunen darüber, das Hineinblicken in die vertraute Fremde? Hier sind so viele „neben der Spur“, wie sie wohl selber sagen würden. Das Gesicht zittert. Der Blick fliegt davon. Man möchte zuschlagen, eigentlich aber umarmen, lachen, abhauen, nie weggehen. Es ist ein Lied. Es ist eine Kirche. Da musst du jetzt mal sehr stark sein. Waffen. Lärm. Ich möchte – möchte? –, ich will mich hier nicht verlieren? Aber was sonst?

Am frühen Morgen eine WhatsApp, in der dir der liebste Mensch schreibt: „Der erste Schnee!“ – und du ziehst die Vorhänge zurück, und da sind die drei Wörter wirklichgeworden: der erste Schnee – und das Ausrufezeichen ebenso, wirklichgeworden: der erste Schnee! Um ihre Schlaftanne herum schwirren aufgeregt die beiden Elstern; das Weibchen ist weißer als das Männchen, aber so weiß wie der Schnee ist keiner von beiden. Hin und her, auf und nieder durch die beschneiten Äste flattern sie. Ist das kein ausgelassenenes Spielen? The sound of the birds. The birds of Flims. Yeah I asked around but nobody knows the names of ’em. Of the birds. The birds of Flims. (8.11.)

Jetzt hat die Welt, jetzt haben sie, haben wir, hast du den Salat. Den Trump-Salat. Welches Dressing? Demagogisch, bitte. Lasst es euch schmecken. Ich wachte auf gegen 3.40 Uhr und las, Florida gehe verloren, träumte dann vier Stunden lang von einem Erdrutschsieg des Trump und wachte auf und fand den Albtraum wahrgeworden. Die Leute in Ohio, Pennsylvania und Kentucky haben sich für die Unterhaltsamkeit der brachialen Dekadenz entschieden. Ihr gutes Recht. Schämen sollen sie sich trotzdem. Wohlan, Lüge! Ich bin zuversichtlich – wie stets, ihr hellgeschminkten Schwarzseher. Dieser vermeintliche Triumph der Reaktion ist der erste Tag ihres Niedergangs. Nero wird aus Rom verjagt werden. Aber zum Teufel scheren sollen sich vor allem, die diesen Ausverkauf demokratischer Prinzipien ermöglichten und herbeiriefen. (9. November 2016)

Krimiwerbung: „Spannung bis zum Herzstillstand!“

Krimiwerbung (erfunden): „Langeweile bis zum Herzstillstand!“

Warum der Schnee im frühen November so schön ist, die liebe Frau des Freundes sagt: „Es ist so hell, so licht dadurch.“ Und der Freund lacht, weil er im Schnee nicht mehr im Garten sitzen kann, um zu schreiben. Und ich lache, weil ich den ganzen Tag lang immer wieder dachte: Die Blätter sind noch da, und jetzt wird es weiß.

Eingeschlummert in der Bahn, die dich heimbringt in die Stadt, umgeben von konsterniert in die Dämmerung blickenden Gesichtern. Hör ihnen zu, hör zu, was sie erzählen! (Altona, 9.11.)

Das Gras von Trégana

„Ich werde von mir selbst nicht mehr in mir gefunden.“ Andreas Gryphius

Die Dinge, wie sie waren, bringt nichts zurück, so ist es; alles, was das Gegenteil behauptet oder verheißt – Lüge, Trost, Hoffnung, Trug. Die Erinnerung ein unvergänglicher Schein. (Brest, 21.10.)

Respectez les hommes jaunes!

Bei Mons drei Frachtkähne im morgendlichen Nebeldunst, und über den Äckern brausen große Starenschwärme auf.

Der Strand von Trégana: Wohin hat es alle die Toten getrieben? Warum ist keiner, der am Leben blieb, hier geblieben?

Nachts mit dem Möbelwagen quer durch Paris, die Seine entlang, vorbei an La Défense, an Chaville, an Versailles, an der Porte de Saint-Cloud. Ich sprach von den neun Millionen mit nur Einem, und der lachte und war die Freundlichkeit in Person. (Paris Auteuil, 22.10.)

Was weißt du schon von den Fernfahrern, den Arbeitern? Nur, dass sie wie die Spinnen oft kunstvoll ihr Leben weben und verweben. Ausbruchsversuche? So gut wie keine. Das Glück scheint im Erfüllen zu liegen – dem Erreichen, dem Erlangen wovon? Erinnere dich: an den jungen Supermarktkassierer, der in jeder Pausenminute in einer Biografie Georges Bizets las.

„Besser, die Koffer packen. Ende.“ Pessoa

Der Fernfahrer tanzt mit elegantem Hüftschwung durch das Drehkreuz, um das Entgelt für den Gang zum Stillen Ort zu sparen. Ihm nach! – nicht um der paar Kröten willen, sondern wegen der schönen Bewegung. (Aachen, 23.10.)

Wenn ich die alten Lautsprecherboxen zurechtrücke und ihnen den neuen Platz einräume, warum denke ich sogleich zurück … an den einen, somit unverwechselbaren Nachmittag vor über 30 Jahren im Sachsenwald, als ich sie einem Schulkameraden abkaufte? Das Licht, die Bäume, ihr dunkles Grün. Sein zufriedenes Gesicht, seine langen blonden Locken. Das Gewicht der schwarzen Kästen in den Armen, als ich zur S-Bahn ging und heimfuhr. Die ganze Musik, die ich hörte seither! Musik der Erinnerungen, innere Musik: der Möglichkeiten zu ganz neuer. (2.11.)

Im Dunkeln wirbeln zwei Hunde hin und her und anscheinend umeinander herum: Den hellen siehst du, der dunkle kann auch Schatten sein.

Das Tageslicht ist nicht das wahre Licht

Der Erste, der mich in der neuen Bleibe begrüßt: eine Amsel. (Barmbek, 16.10.)

Wenn Reformation heißt, vermeintlich Wahres und scheinbar Wirkliches zu hinterfragen, ist Poesie die beständige Reformation.

Jeder Strauch und jeder Busch war freundlich.

Zwischen den Mietblocks der überwucherte frühere Rasen, aus dem die Wäschestangen meiner Kindheit ragen. Seit Jahren ist dort niemand mehr gegangen, hat dort keine Wäsche gehangen außer der schwarzen der Krähen.

Heute vor 29 Jahren: Ich fuhr mit dem Bus hinaus nach Othmarschen und kaufte mir eine schwarze zuschanden gefahrene Giulietta: „der Satan“, Baujahr ’78.

Kurz hinter der belgischen Grenze steht in einem grasbewachsenen Tal zwischen Bahndämmen ein ganzer Güterzug und verrostet und verrottet im Regen. (18.10., bei Walhorn)

In der Dunkelheit die Seine-Mündung. Und das tausendfache Licht von Le Havre!

Rote, gelbe, vielfach grüne verwilderte Hecken: Die Normandie verblüfft. Bei St. Lô ist sie weit wie die Erinnerung – die mir nicht meine zu sein scheint.

Zwei Stunden später bist du nach 34 Jahren zum ersten Mal wieder in Caen. Mit 17 nachts am Strand, und das Licht im Dunst. Und der Wind kam über den Atlantik. Und der Wind kommt über den Atlantik.

In den Kellerräumen das ausgeräumte Leben, die Leere, die Spuren an den Tapeten von namenlosen unbekannten Augenblicken. Die Dinge, die wir weggeben, wegnehmen und wegwerfen, bleiben in der Erinnerung. Sie sind widerständig: Sie sind, was sie sind: gegenständig! (Plouzané, 19.10.)

Verzweifelt nicht jede Frage an ihrer Antwort?

„Der Baum steht vor dem Wohnzimmerfenster. Ich frage ihn jeden Morgen: ,Irgendwas Neues heute?’ Die Antwort kommt auf der Stelle, hunderte Blätter geben sie: ,Alles.’” Christian Bobin

Und noch einmal Bobin: „La lumière du jour n’est pas la vraie lumière.” — „Il y a des îles de lumière dans le plein jour. Des îles pures, fraîches, silencieuses. Immédiates.” – „L’amour seul sait les trouver.“

Fluss aus Sirup

Die Frau fährt mit dem „SUV“ von der Größe eines Räumpanzers von Laterne zu Laterne und klebt an eine jede ein selbstgestaltetes Suchplakat: Wo bist du? Darunter ein Foto, die Größe, die Farbe, der Name, die Besonderheiten. Ich bleibe vor einer Laterne stehen und erkenne das Gesicht nicht wieder, aber ich sehe den Kummer darin. (Sasel, 10.10.)

Im Fernsehen psalmodiert der Psychologe von der Psyche, und die Psychotherapeutin, seine Tochter, seine Frau, bekennt, so habe sie das Problem noch nie betrachtet, er sei ein Meister, sie habe noch einen weiten Weg vor sich, bis sie die Psyche verstehen werde.

„Frankentrump“ nennt die französische Presse den us-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten der sogenannten Republikaner – und benennt damit das Problem Donald Trump. Keiner will für dessen Demagogie und Sexismus, dessen Dumpfheit und Brandstiftung verantwortlich sein. Ein Monster, aus der Art geschlagen, muss dieser Milliardär sein. Nur ein Mensch, mit Abgründen und Fehlern, darf Donald Trump nicht sein. „Wenn ich nur an Bücher denke, muss ich gähnen“, sagt Trump. Er ist ein ungebildeter Idiot, ein Lügner, ein Widerling, ein Frauen- und Kinderverächter, ein hässlicher Drecksack und Hanswurst, und das ist nur der Beginn. Doch er ist kein Ungeheuer, dem man mit Argumenten und Kritik nicht beikommen kann. Er ist ein Mensch, und ich fürchte, er ist das getreueste Inbild unserer so gottlosen wie lachhaften Zeit.

Sie schwimme jeden Tag durch einen Fluss aus Sirup, sagt die Klavierlehrerin.

„He worships God with ashes.“ This Mortal Coil

Nobelpreis für Bob Dylan. „It’s not dark yet, but it’s gettin’ there.“ Ein gutes Zeichen in dieser furchtbar klanglosen Leere.

Morgen ein Kellertag

„Of course I’m a horse.“ Sioux-Wort, vielleicht.

Die Dinge, die sich nicht sagen lassen, gehen in der Stille der Überlegung durch die Wehmut hindurch und verwandeln sich. Das Allermeiste wird zu etwas Regenähnlichem, einem Niederschlag, der im Gemüt versickert. Aber es gibt auch Erkenntnisse, die bleiben, wie Erinnerungen an immense Wolkenschatten an einem lichten Tag. Der Zufall treibt dir Schatten zu, und mit einem Mal kannst du sagen, wie du weiterleben möchtest, weil vom Alten nur ein Unglück übrigblieb. Cheever sagt es in zwei Zeilen: „Am Morgen sage ich also: Springt, mein Herz, mein Geist. Es geht nicht anders. Sie müssen springen.“ (Grindel, 3.10.)

Zu jedem Zeitpunkt stehst du am Ende des Lebens und fängst, wenn möglich, neu an.

Ich ging, das Telefon am Ohr, durch die Siedlung, in den Wald hinein, wir sprachen, über das Glück, über die Gewalt, über das Unglück, über Auswege, und auf einmal lag vor mir, wie ich so lauschend und sprechend ging, ein grünes Tal, Bäume rings an seinen Rändern, die auf mich zukamen, und Leute, entfernte, Spaziergänger, man hörte jedes Wort, ohne es verstehen zu müssen. Wir sprachen über die Liebe, über das Ende der Liebe, über die Kinder, über die Klugheit der Kinder. Das grüne Tal. Die Bäume. Die Weite. Die Enge. Das Ende, die Öffnung der Enge. (6.10.)

Kreuzworträtsellöser im Bus. „Weltmacht mit drei Buchstaben?“ — „Ich.“

Denk an Torberg. Friedrich Torberg und seinen „Schüler Gerber“, den du in der Oberstufe last. Benda hieß der gegen seinen selbstherrlichen Lehrer „Gott Kupfer“ aufbegehrende Schüler, nach dem du dein einziges Pseudonym benannt hast. Vergiss den Namen nicht! … Keiner kennt ihn mehr, nur du. Vergiss Friedrich Torberg nicht!

Morgen ein Kellertag.

Der Staub auf den Gegenständen – der Staub auf den Geschehnissen. Deshalb wird allenthalben Staub gewischt, vorgeblich.

„Ich werde so störrisch sein wie ein Rotkehlchen – in einem Käfig werde ich nicht singen.“ John Keats

Freiräume und Gärten

Den besten Empfang hatte ich unter der roten Krone der Zierkirsche.

Mein Tagebuch – jetzt ausklappbar für eine erweiterte Pumpen-Dokumentation!

„Behandle einen Gast zwei Tage lang als Gast, aber am dritten gib ihm eine Hacke“, lautet eine Swahili-Weisheit, und ich las statt „Hacke“ „Hecke“. Beim Freund zu Gast. Und wirklich, es war, als schenkte er mir eine prächtige Hecke. (Sülldorf, 28.9.)

Im Nachtwind das Rauschen der Bäume, und in einem Vorgarten fünf Wicken, groß wie du, schwankend wie du.

„Darlegen, was ich weiß, ebenso wie was ich zu wissen hoffe. Meinen Alkoholdurst beschreiben, wie er um neun in der Frühe beginnt und manchmal unbeherrschbar wird um halb zwölf. Die Schmach beschreiben, in der Speisekammer einen Drink abzuzweigen – und den aufreibenden Geschmack des Gin; über das Gewicht aus Entmutigung und Verzweiflung schreiben; über ein namenloses Grauen schreiben; über die zermürbenden Krämpfe haltloser Angst schreiben; über den Horror des Scheiterns schreiben. Das Ringen, eine Schärfe an Gefühl zurückzuerlangen, des Gefühls, dass ein Rand dessen, was Hoffnung versprach, weggebrochen ist.“ John Cheever

Ein Lieferwagen fährt langsam vorbei, in dem sechs – 6 – Arbeiter sitzen und rauchen, unrasiert, lachend, guter Dinge aufgrund der Schönheit des Lebens auf dieser Welt. Ihre Firma: FREIRÄUME UND GÄRTEN (Barmbek, 30.9.)

Was ist das Wissen der Welt schon? Das Kind ist fest überzeugt: Meerrettich ist der Name eines Fischs.

Die Alte, die in den Bus steigt mit einem umfunktionierten Einkaufswagen, an dem lauter Tüten, Beutel, und Taschen befestigt sind, voller was? Ein Rad ihres Gefährts ist kaputt, aber auch mit dreien tut es noch seinen Dienst. Die Alte, die am Morgen freundlich lächelnd im Bahnhof das Stadtmagazin anbietet – und acht Stunden später unverändert dort steht. Die Alte, die vor dem Supermarkt vorbeigeht und laut flucht auf die Kinder, die mit ihren Rollern vorüberbrettern – und der junge Kerl, der sie zurechtweist: „Asozial sind Sie! Asozial!“ Die Alte, an der du vorbeirennst mit Deinem ganzen Gepäck und die dir nachruft: „Gibt’s das? Gibt’s das?“ (Ohlsdorf, Winterhude, Sülldorf, September 2016)

Die Schuhe in Genf

Eine brennende Lampe im Fenster heißt immer, immer: „Rette mich!“

Sie brach die Brücken ab, die noch Bestand hatten, nur um dadurch behaupten zu können, am anderen Ufer zurückgelassen, verlassen worden zu sein.

Erinnere dich an die Schuhe in Genf: Zwischen zwei Frauen entbrennt vor einem Stundenhotel im Bahnhofsviertel ein lautstarker Streit. Die eine bewirft die andere mit ihren Schuhen, und die Beworfene wirft die Schuhe nicht zurück, sondern auf die Straße, dorthin, wo sie plattgefahren werden sollen. Der Mann, ein Brustkorb mit Beinen, der Anlass für die Querele, tritt mit großer Geste auf die Fahrbahn und sammelt die Schuhe der Liebsten (welcher?) vom warmen Asphalt.

Das Kind schreibt eine Klassenarbeit über Platon, Aristoteles, Sokrates und die vier kantischen Fragen. Die drei ersten, sagt das Kind, seien berechtigt; die vierte allerdings redundant. (21.9.)

Ein Leben lang hast du sie am Leib und warten sie darauf, dich zu zerreißen – deine Furien.

Schütte den Rotwein in die Sträucher.

„Gestorben am Tod“, sagt das Kind.

nussbaum-gru%cc%88ner-hut Das „Selbstbildnis (mit grünem Hut)“ von Felix Nussbaum – du siehst das Gesicht und du siehst den Hut über die Jahre, in denen seine Gemälde entstehen, wie sich beide zugleich verändern und doch dieselben bleiben; bis zum Schluss. Noch im Angesicht der Verfolger und Deportierer malt er sein Gesicht, den Blick, sich selber zugewandt, malt die grüne Kopfbedeckung fahler, immer fahler. Malt Bäume, einzeln, immer kahler. Nie schwindet die Hoffnung – der Glaube – ganz aus seinen Bildern. Noch „Sieg des Todes“ von 1943 wird konterkariert durch die Leben und seiner vergangenen Freuden zugewandte Weise von Nussbaums Malen. Er verschwand nicht einfach in Auschwitz. Die bis zum Ende aufrecht erhaltene Schönheit seiner Gemälde zeigt die Vernichtung und ihre gewaltige Absurdität. (Osnabrück, 24.9.)

Sehr sonderbar, die Vertrautheit von Felix Nussbaums Gemälde „Selbstbildnis mit Judenpass“ – das mich seit Jahrzehnten begleitet, wie ein wiederkehrender Traum. Da spricht die Sprache meiner Vorstellung: Mauer, Gesicht, Pass, Identität, zerstörte Natur, doch ebenso: Trost des Blicks, Suche nach Trost – Flug der Vögel.

Die Vögel von Flims

Sooft ich an dem Telefonladen vorbeigehe, -fahre, sooft ich davor stehe oder warte, immer telefoniert darin der Angestellte.

Im St. Petrus-Dom tief bewegt von den Kalvarienreliefs im Kreuzgang, Jesus von Nazareth, wie er das Kreuz aufgeladen bekommt, wie er es schultert, wie er stürzt, es weiterschleppt, stürzt, es von Neuem aufnimmt, stürzt und auf der Erde kauert, verhöhnt, beweint, verlacht, atemlos, am Ende. Wie er es weiterträgt. Die Reliefs erlauben den Blick in die Gesichter aller Beteiligten. Ich ging nochmals zurück, um die Chronologie zu verstehen. Die Körperlichkeit. Das Erdulden. Das Wissen um die Ungerechtigkeit. Die augenfällige Gleichzeitigkeit. (Osnabrück, 16.9.)

Im stillen Dom ein Pulk Flüchtlinge, die von zwei Damen erklärt bekommen, woran die Deutschen glauben. Einer fragt, was der Löwe bedeute, und erhält zur Antwort, dass der Löwe für Kraft stehe, die Kraft des Glaubens. Im überfüllten Zug heim sitzt auf dem reservierten Platz neben mir ein junger Syrer, der bald vertrieben wird von einer Gruppe Kegelbrüder. Er kauert sich ins Gepäckfach zwischen Sitzen und Tür, übermüdet und wortlos. Ich lese Cheever: „Bevor es hell wird, wache ich auf in einem Rausch der Heiterkeit. Ich glaube, dass ich es alles zurückbekommen werde: die grünen Wogen des Nordatlantik, den Witz und die Hochstimmungen eines geilen Lebens, den Blauen-Himmel-Mut, einen natürlichen Zugriff auf die Dinge. Ich glaube, dass ich es alles zurückbekommen werde. Ich träume einen angenehmen Traum mit angenehmen und unangenehmen Gestalten. Der Allerwiderwärtigste lässt die Hosen runter, aber, guter Gott, warum sollte ich mir darüber noch länger den Kopf zerbrechen? Ich treffe alte Freunde aus meiner Kindheit. Mit dem Guten an der Liebe ist es ähnlich wie mit langen Stoffen, ruhigen, unaufgeregten, einem feinen, welken Schatten. Und ich werde auswandern aus diesem schrecklichen Land, in dem ich schwitzend im Bett liege, darauf warte, dass der Ölbrenner dem Haus mit Feuer den Rachen stopft, darauf warte, dass meine Schulden mich zugrunde richten, während mir die Leiste schmerzt wie eine Wunde. Ich werde es alles zurückbekommen.“

Erinnere dich: Wie du Ausschau hieltest nach den Güterwaggons, auf denen ihr Name stand, bloß um … ja, was? Aber es gibt keine Verbindung zwischen den Gegenständen und den Empfindungen, es sei denn im Wünschen, im Wunsch, es möge diese Verbindung geben.

Auf dem Spielplatz, der umgeben ist von lauter eingesperrten Tieren, sagt die Frau zu ihrer Tochter, während die sich die Turnschuhe bindet, „damit es endlich losgehen kann“ (was denn?): „Würdest du bitte nicht auch daraus jetzt so einen Spielfilm machen?“ (Harburg, 17.9.)

Unter den Tieren fiel mir besonders der Luchs auf, der war, wie ich gern wäre, wenn auch nicht eingesperrt: Der Luchs schlief auf einer hölzernen Plattform in einer Baumkrone. Aber auch das Schwirren der Luft in dem Fledermaushaus war ergreifend, die Fledermäuse, die mich für einen nennbaren Widerstand zu halten schienen. Und in einem Sonnenfleck, der zwischen zwei Büschen auf einem Stein lag, döste eine schwarzweiße Schlange. The sounds of the birds! The sounds of the birds of Flims.

Atmen beraubend und lichtvoll

„Mein Vater hatte so viele Pseudonyme, dass ich ihn nirgends finden kann.“ Jeanine Osborne

„Eine dunkelgrüne, grasgrüne Heuschrecke kroch Linda über die Hand“ – wundervoll lebendige Prosa: Leta Semadenis „Tamangur“.

Mitte September: Im Rhein schwimmen die Leute, und in den Parks der Stadt sitzen sie, müde, matt, verlangsamt. Immer ist die Witterung auch Ausdrucksform. Immer sucht die Natur das Gespräch. (Basel, 11.9.)

Die Vorsitzende der AfD (Ausgrenzung ferlangt Demütigung) fordert eine Rückbesinnung auf die positiven Aspekte des Völkischen. Die völkische Frauke (DvF) beobachtet das Volk und sieht das Völkische als ihm zugehöriges Attribut: „Das Volk“ sei „völkisch“. Demnach muss „der Hund“ „hündisch“ sein und „die Dame“ „dämlich“ und „der Herr“ „herrlich“. Die rechtsradikale Menschenverachtung gründete stets auf Vertumbung und Dumpfheit – und hat übrigens zu keiner Zeit, schon vor zweitausend Jahren nicht, zu irgendetwas Nennenswertem geführt außer zu Hass, Gewalt und Zerstörung. Die Sprache bewahrt das Gedächtnis auch an die Verheerungen. Der braune Mob, nie hat er gelernt, die der Sprache innewohnende Geschichtlichkeit, ihre Jahresringe, als Argument der Einzelnen zu akzeptieren oder gar wertzuschätzen. Glaub du unbeirrbar an die Verantwortung der Wörter und Worte!

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I m K u n s t mus eu m Ba sel se he ic h noc h ei nma l die Schrift / muster / bilder von Cy Tw omb ly, die mir seit sieben Monaten durchs Gemüt gehen, das Weiß, Hellblau, Blau der Schraffuren, Linien, grasartigen Strukturen, die Skizzenartigkeit, das Flüchtige im Bleibenden, den Malerei gewordenen Moment, Bewegung und Bewegtheit, Regung und Erregtheit: „Nini’s Painting“. – „I have my pace and way of living, and I’m not looking for something.“ (C.T.)

Als „Atmen beraubend“ und „lichtvoll“ bezeichnet Pierre-Laurent Aimard seinen Mentor Pierre Boulez in einem morgendlichen Interview.

Bild: Cy Twombly, „Returning from Tonnicoda“ (1973); Foto: Cy Twombly in Rom, 1972

Das Übergangscafé

Auf einer schmalen Landzunge im Sund jagt ein großer Hund übers sonnenbeschienene Gras, und Augenblicke später flattert ein Schwarm Wildgänse auf und fliegt über das blaue Wasser davon. Ein Glücksmoment, nicht nur für den Hund.

Im Wartezimmer des Stadtteilarztes – das Krankenhaus im Zentrum hielt die Beschwerden für nicht relevant genug –: Kinder und Familien und Freundespaare und trist durch den Raum blickende Männer und Frauen aller erdenklichen Sprachen. Vibrierende Lebendigkeit, Erleichterungen, Tröstungen, Verzweiflungen. Das Profil einer alten Spanierin, bewundert von ihrer jungen Nichte oder was immer. Die beklommene Schönheit der Araberin mit drei kleinen Kindern und pragmatisch organisiertem Gatten. Das Bürschchen aus dem Kosovo. Zwei französische Lesben. Dazwischen sitzt du mit deinen Tagebüchern von Cheever, ein Buchleser im Trenchcoat. The poetry of earth is never dead. Und keiner muss hinausgetragen werden. Und jedem, der sich verabschiedet, gilt die Bewunderung aller, die ebenso zu überleben versuchen und festhalten an der Freundlichkeit. (Farmsen, 3.9.)

Café de Passage. Das Übergangscafé.

Geh so nah an die Geschehnisse wie möglich. Beobachte die vor sich gehenden Möglichkeiten: die Wörter, die Berührungen. Du bist der Poesiekorrespondent. (8.9.)

Der alte, schlohweiße Nachbar sieht aus wie ein weiser Grass, der lebenskluge Bruder von Günter Grass. Er schiebt sein altes Sportrad durch die Sonne, würdevoller Rollator.

Du musst jetzt in eine andere Pracht gehen – und ihr Teil sein. (9.9.)

Ein Dampfer im Platzregen

Lange Bänder und Bögen ziehen die Seeschwalbenschwärme über die Dünen, am hellblauen Himmel, bevor sie sich zu achthundert, tausend Tieren zusammenfinden in einer flexiblen, schnellen Wolke, die inseleinwärts rollt. (Bojendorf, 31.8.)

Ein Bau, in Trümmern am Strand des Campingplatzes Fehmarnbelt – ich erinnere mich oder will mich erinnern an die Regentage zu Pfingsten 1983, als O. und ich dort drei Tage mit meinem Dobermann im Zweimannzelt verbrachten. Die Trümmer müssen auch da schon da gewesen sein. Die Dinge überdauern Vergängliches, Freundschaft, Liebe, Erinnerungen. Der Trost ist allgegenwärtig. Die See. An diesem Strand bin ich heute älter, als mein Vater es seinerzeit war. Meine Cousine ist dick geworden, aber ihr Lachen noch das des Mädchens, das ich liebte. Es gibt kein Ende. Ein Imbiss für Gespenster. Ein Container, auf den die Toten sprühen, wenn sie sich treffen zur Demonstration gegen das ganze elende Lebendigsein. „Ich wusste gar nicht, dass Sie auch Schatten verkaufen“, rief ich heute am Meer dem profitgierigen Strandkorbbesitzer nach.

„Tut ein Platzregen weh?“, fragt das Kind.

Ein Raucher war ich so lange und rauchte, aber jetzt bin ich ein Dampfer.

Act with a free heart

Der psychoanalytische Blick sei ein Turmbau wie der zu Babel, sagt Peter Handke 1989, nur in den Menschen hinein. Auch dieser Turm werde abgebrochen werden müssen. Den Abriss, erleben wir ihn nicht eben jetzt?

Die Kinder im Nintendo-Lazarett.

Handkes Wesen, ist es eines der Entlarvung, der investigativen Selbst-ent-Täuschung? Mutwilliges Wundsein; Dahinschrammen am für wirklich Gehaltenen; immer wieder auf Abwegen Nazarener-Allüren. Suche nach der Glücksdauer, nicht augenblicklich, sondern im Augenblick.

„One must act with a free heart – there can be nothing covert – and seek the best ways of expressing ourselves within the conditions under which we live. And waking I think how narrow and anxious my life is. Where are the mountains and green fields, the broad landscapes?“ John Cheever – wie leicht dahingesagt, und doch benennt er hier das vielleicht Schwierigste von allem: „seek the best ways of expressing ourselves WITHIN the conditions under which we live.“

Fehmarn: in den leeren, vom Wind gepeitschten Dünen die wilden Apfelbäume.

Wie so oft schon, wenn jemand gestorben ist, dem dein Herz zugetan war, siehst du ihn oder sie in den Wochen nach dem Ableben wieder, nicht am Leben, aber auch kein Gespenst, unbekannt neben dir auf der Welt. So auch wieder heute mitten auf der Insel zwischen den Stoppelfeldern, unter den südwärts ziehenden Vögeln. Für Karl-Heinz Ströhle

Manche spüren den Regen, andere werden einfach nass.

Es ist ganz einfach anders

„You gave me pale shelter. You don’t give me love, you give me cold hands.“ Tears for fears

Es ist ganz einfach anders.

In der Mitte deines Lebens, ist da nicht die Leere? Nicht an den Rändern, den Wochenenden, und nicht an der Oberfläche, da, wo du glaubst, tätig zu sein – in der Tiefe, in der Mitte, im Kern, ist da nicht die Leere, die Abwesenheit?

Schon vor Jahren bekannte sich der US-Schmunzelpräsident zur Richtigkeit (nicht Rechtmäßigkeit) der Todesstrafe in (vermeintlich) angemessenen Fällen. Zeit, in der Versenkung zu verschwinden, Barack Obama, Inbegriff der Enttäuschung.

Die wilden Wolken dieses Sommers! Der ganze Regen! Die vielen Toten! Die Gespenstigkeit des Abwartens! Die Zeichen! Die Wunder! Wir leben! Glückwunsch!

Tag für Tag mehr ähnelst du einer Echse.

„Haben wir einen Feuerlöscher?“, fragt das Kind.

Still und sehr lange blickt das Kind aus dem Fenster, bevor es fragt, ob ich weiß, dass Marienkäfer rote Beine haben.

Wieder auf Fehmarn. Der Sommer ist weit fortgeschritten, ein blasses Gold auf den Feldern, die fast alle bereits abgeerntet sind, Stoppelfelder: Leichter, warmer Wind. Der Garten ist bugförmig, eine Stockrose, ein alter, verwilderter Birnbaum, Efeu an der Hauswand. Nebenan wohnt eine junge Großmutter mit ihren Enkeln, drei Jungs von 10 bis 15 Jahren, und ihrem Münsterländer Lupo. Kommst du deshalb immer wieder hierher auf die Insel deiner Kindheit und Jugend, um der vermeintlich wiederzufindenden Erinnerungen willen? Oder ist deine Liebe zu Fehmarn, viel sinnlicher, dem Wind, den Farben, der Stille, der Zurückhaltung der Leute geschuldet? Das Rauschen der Bäume. Die Schwalben. Ihr leises Gezwitscher. (Bojendorf, 27.8.)

What a wild night! Mit einem Mal brach über der Insel ein von Osten gekommenes Gewitter los, mit tiefstem Donnern, grellen Blitzen über dem Meer, die überall auch ins Rosige, Bläuliche und sogar Grünliche verliefen. Wildes Rauschen durch die sturmgepeitschten Bäume. Die Nachtvögel kreuzten umher, wie ich es zuletzt am Rand des Regenwaldes von Cairns in Queensland erlebte, nachts, unter den um sich schlagenden Palmen. Am Morgen ist heute der ganze Buggarten zerwühlt, und die Sonne braucht Stunden, um die Herbstkühle wieder zu vertreiben.

Kind of waking up where you are

Dir wird eine Lesung angeboten vor einem Gemälde von Kirchner, du und das Bild – und ein Security-Angestellter, der das Bild schützt, auch vor dir.

Platzregen – weil die Wolken bersten und zerplatzen? Oder weil ein Platzregen auf einen ganzen Platz prasselt? Beides.

Zwei Eichhörnchen – absolut identisch wirken sie – jagen hintereinanderweg um einen Baum herum in die Höhe, in die Krone hinein, durch die Wipfel, wie zwei Windstöße mit braunem Fell hinaus auf die Brückenäste, die zur Nachbarkastanie führen, dort dasselbe Spiel, dieselbe Jagd, bis der Gejagte innehält im Blickschatten des anderen, der gleichfalls innehält, bis der Gejagte sich regt und das Jagen weitergeht, um den Baum herum, weiter aufwärts. (14.8., Eilbek)

Der Vorteil der Handwerker besteht darin, dass sie stets Nutzbringendes, Zweckdienliches, Sinnergebendes schaffen, selbst dort, wo sie schludern. Denn sie bewahren die im Bau befindliche Welt, den fortwährenden Weltumbau. Sie sind wirklich.

cheeverJohn Cheever berichtet in seinem Tagebuch von dem Traum, sein Konterfei würde eine Briefmarke zieren. Man kann das als Eitelkeit verstehen (Psychologie), auch Größenwahn (Psychologie), oder Ruhmsucht (Psychologie). Poetisch betrachtet kündet Cheevers Traum von der Vorstellung, auf jedem möglichen Brief in alle möglichen Hände zu gelangen.

„Wie können wir uns hier innovativ aufstellen?“ Gar nicht.

Jeff Tweedy„You know, the idea of like getting out of denial was kind of waking up where you are in your life, you know.“ Jeff Tweedy

Ein immenses, wie ein riesiger Karpfen geformtes Wolkenfeld treibt von Norden nach Süden über Haus und Garten und Bahndamm und Friedhof, in zugleich unendlich langsamer und rasender Geschwindigkeit. Zwischen den einzelnen Wolken einzelne Sterne und Sternbilder. Und der Hintergrund der dunkelblaue Nachthimmel, seine leere Tiefe, die Stille, fühlbare Stille. (20.8.)

Ein Modemagazin herausbringen mit dem Namen BOSHAFTIGKEIT.

Niemandshimmel

Der Leuchtturm blinzelt. Alpakas im Regen.

Das Unlicht!

„Ich habe mich nie erholt von dem Anruf Gottes.“ Marie Noël

Erdbeeren als Erinnerung an Erdbeeren. Süße als Erinnerung an das, was süß war. Liebe als Erinnerung an die Liebe. (Gammendorf auf Fehmarn, 5.8.)

Am Nachbarfrühstückstisch ein Streit zwischen Eheleuten, und an der Wand hinter ihnen kriecht hin und her eine dicke schwarze Spinne eine ganze Stunde lang. Der Streit. Die Spinne. Kriecht hin und her. Das Gespräch. Das Gewebe. Das Spinnennetz. Als der Streit endet und das Paar ermüdet geht, ist die Spinne verschwunden.

In der Abendsonne kam mir der vor sechs Wochen verstorbene Vermieter entgegen. Ich nickte ihm zu, als ich mit dem Rad vorbeifuhr, und er grüßte zurück und ging weiter Richtung Friedhof, im Arm eine Fremde. (Ohlsdorf, 6.8.)

„Kein Mensch war glücklicher. Seine geringen Ansprüche konnte er mehr als in ausreichendem Maße befriedigen. Freunde besaß er mehr als große Fürsten, Feinde hat er kaum gehabt. Warum sollte er nicht fromm sein?“ Julius Meier-Graefe über Camille Corot, und kurz darauf: „Gibt es noch Kinder in der Welt? Darf es sie geben?“

45 Tage lang hat das Kind gewartet und heruntergezählt, bis es heute so weit war und das Computerspiel in die Läden kam, das „Niemandshimmel“ heißt.

Ein grüner Abschleppwagen jagt vorbei, und vom oberen Fensterrand fällt im selben Augenblick ein Tropfen hinunter in den regennassen Garten. Unsere Gedanken suchen einander. Sie sind wie die Hände. Aber die meisten Leute stehen in den Hauseingängen oder im Schutz der Bushaltestellenhäuschen und können die Tristesse nicht fassen.

Zwei Schneewittchensärge an einem Abend.

Himmel

Jeden Abend, pünktlich wie die Heimkunft der Krähen zu ihren Schlafbäumen, schüttet es. Der verregnete Juli. Die monströsen Hecken. Die Bäume hypertroph. Verstummte Vögel. Jedes Haus wird zum Dampfer im Orkan. Es ist ein Herabstürzen von zuviel Wasser, ein Meer, das dem Himmel zuviel ist. (27.7.)

Um den Erdball kreisen rund 900.000 von Menschenhand gefertigte Objekte. Kritische Annäherungen des Orbitschrotts kommen für Satelliten im Durchschnitt zweimal die Woche vor.

Im Verlauf eines Gottesdienstes im polnischen Tschenstochau ist Papst Franziskus gestolpert und gestürzt, blieb aber unverletzt und konnte die Messe leicht humpelnd beenden.

Der Vorbeiflugabstand!

„Nie den ersten Eindruck vergessen, der uns bewegt hat.“ Camille Corot

Der liebe Freund – Aloha! – schwingt sich im Park an einem Baum empor. „Er braucht das zu seinem Glück“, sagt seine Frau und sieht ihm bei einem Dutzend Klimmzügen zu, lächelnd wie er. Bei Edgar Rice Burroughs, dem oft kleingeredeten Tarzan-Erfinder, lese ich den schönen Satz: „Nie hat ein Mensch mit weniger begonnen.“ (Wilhelmsburg, 31.7.)

Wieder auf Fehmarn. Wie oft noch willst du hierhin, hm? Große einzelne Wolken fluten über die Insel, die sind wie du. Und hunderte tieffliegende Schwalben über den Stoppelfeldern, die sind auch wie du.

Die Bäume sind schuld

Jahrelang dachte ich, es müsse doch eine Verbindung, und noch so winzige, zwischen Muhammad Ali und Ali MacGraw geben – und ich denke das noch immer, und schlage hier deshalb jetzt die unsichtbare Brücke.

Das Kind mit dem Gesicht eines Erwachsenen fragt dich nach dem Weg. Es hat eine tiefe Stimme. Es ist ausgesucht höflich. Aber es hat den Körper und die Gestalt eines Kindes. Es fragt für die ganze Familie. Vater, Mutter, die Großeltern und Geschwister, alle sprechen nicht deine Sprache, aber das erwachsene Kind tut es. Ist es ein Kind? (Frankfurt-Süd, 21. Juli)

„Die Bäume sind schuld“, sagt der zahnlose Alte auf dem Bürgersteig, nachdem die Nachmittagsgewitter durchgezogen sind. „Sie speichern den Regen. Es ist schon wieder sonnig, aber unter den Bäumen regnet es weiter! Sie sind hinterlistig und erfinderisch.“ (Alsterdorf, 22.7.)

Der Amoklauf von München. Der neunfache Todesschütze war 18, zwei Jahre jünger als mein Sohn, erschoss sich vor den Augen der Polizisten, nachdem er seine Opfer via Facebook in eine McDonald’s-Filiale gelockt hatte. Er beschaffte sich die Tatwaffe im Darknet, den Substrukturen des Internet, eine aufgesägte Theaterpistole. Wenn dem allen so ist – was hat es zu tun mit dem, was wir Wirklichkeit nennen? Es ist – in aller Deutlichkeit – die todbringende Unwirklichkeit.

Mit deinem kleinen Neffen allein nach draußen in den Garten geflohen vor der Enge der Familienzerrüttung. A figure in the sky, a figure in the sky! Die Kastanie zeigen bereits die Verwundung durch die Minierraupe – halb vergibtes Laub im Juli. „Schau die Flecken auf den Blättern!“, sagst du zu dem kleinen Mann, der dich anstaunt mit seinen fünf Jahren, seinem eigenen Blick, seinem Glück von Downsyndrom. Er zeigt auf seine Wunden am Unterarm – Flecken, kleine Kratzer. Das Kind und die Bäume, seine Freunde in diesem einen Augenblick.

the-chameleons

Wer ihre Musik nie hörte, der wird kaum verstehen, wie es zum zersplitterten Gemüt der nachmodernen Jahre kam: The Chameleons aus Middleton bei Manchester, die es von 1981 bis 1987 und 2000 bis 2002 gab. Das Akustikalbum „Strip“ von 2000 zählt zu den eindringlichsten musikalischen Darstellungen der um sich greifenden Verunsicherung und Zerrüttung, die ich kenne – wobei Sänger Mark Burgess und Gitarrist Dave Fielding immer wieder Klangräume schaffen, die von ganz anderen Möglichkeiten erzählen, von kristallener Wehmut, nächtlicher Klarheit. Das Aufbegehren der Chamäleons ist ein unbedingtes. „Oh, when you think of it, when you think of it / Try here / A word in your ear / You can’t go back to the trees“, heißt es in „Soul in Isolation“ von 1986.

Die alten Gesichter – von früher – die Visagen – Antlitze dennoch, fürwahr. Ist hier die Grenze der Poesie? Nein.

Woher der Glaube an die Macht der Vorbeugung?

Der Schädel am Brückenturm

„Die Welt besteht aus Licht.“ Camille Corot

Unter meinen Papieren die erste Sterbeurkunde.

Die wichtigsten Entscheidungen stellen keine Probleme dar, weil sie sehr einfache Lösungen verlangen: atmen oder ersticken, springen oder verbrennen, lesen oder dumm sein. Schwierig wird es im Entscheidungsdickicht, und ebenso, wenn du mit Lösungswerkzeugen behängt bist und keinen Freiraum hast, um nur eines zu benutzen. Beinahe jede Lösung ist genau das: eine Lösung – ein Loslassen oder Sich-Lösen oder Etwas-Herauslösen. Und so auch die meisten Entscheidungen: Sie sind ein Trennen, Voneinanderscheiden, Heraussuchen, -sammeln und -nehmen. Das oft so grausame Aussortieren, die Selektion. (Kassel, 19.7.)

cheever Der immer aufs Neue, von einem Satz zum nächsten verblüffende John Cheever: „Ich muss mich selber davon überzeugen, dass für mich, einen Mann mit meiner Veranlagung, das Schreiben keine selbstzerstörerische Berufung ist.“ Doch es geht Cheever nicht um das Breittreten des altbekannten Verhängnisses etwa Fitzgeralds, dass zu schreiben und dabei – oder deswegen – zu trinken nur kurz etwas von Güte zeitigt, dann aber rasch, tief, unaufhaltsam – und gähnend! – der Abgrund auf einen wartet. Cheever verfolgt in seinen Tagebüchern eine viel grundsätzlichere Analyse der eigenen Rauschhaftigkeit: „Ich hoffe und glaube, es ist nicht so, aber wirklich sicher bin ich mir nicht. Es (das Schreiben) hat mir Geld und Ansehen eingebracht, und doch habe ich den Verdacht, es hat etwas mit meinen Trinkgewohnheiten zu tun. Die Begeisterung für den Alkohol und die Begeisterung für die Phantasie sind sich sehr ähnlich.“

Fettmilch, Gernegroß und Schopp hießen die Räselsführer des sogenannten Fettmilchaufstands 1612 bis 1614 in Frankfurt am Main, in dem nackte Geldgier und unverhohlener Hass auf die Juden der Stadt sich miteinander paarten. Vinzenz Fettmilch wurde am 28. Februar 1616 in Aschaffenburg öffentlich hingerichtet, ihm wurden die beiden fettmilchSchwurfinger der Rechten abgetrennt, der Kopf abgeschlagen und sein Körper gevierteilt, bevor man ihn an den Galgen hängte. Das Haus Fettmilchs in der Frankfurter Töngesgasse wurde geschleift und eine Schandsäule an seinem Platz errichtet. Fettmilchs Kopf pflanzte man auf eine Eisenstange am rechtsmainischen Brückenturm, dort steckte er 185 Jahre lang, von 1616 bis 1801, als man den Frankfurter Brückenturm abriss. Goethe erinnert sich an den Anblick in „Dichtung und Wahrheit“, und durch seine Zeilen zittert der Schauder: „Unter den altertümlichen Resten war mir, von Kindheit an, der auf dem Brückenturm aufgesteckte Schädel eines Staatsverbrechers merkwürdig gewesen, der von dreien oder vieren, wie die leeren eisernen Spitzen auswiesen, seit 1616 sich durch alle Unbilden der Zeit und Witterung erhalten hatte. So oft man von Sachsenhausen nach Frankfurt zurückkehrte, hatte man den Turm vor sich, und der Schädel fiel ins Auge.“

„Niemand kann sich verstecken, wenn er kein Kind ist.“ Alissa Walser

Woran wir uns nicht erinnern

Der schöne Juli-Wind: Nach tage- und wochenlangem Regen und dem grauen Himmel scheint verhalten die Sonne, und es weht ein Wind, ah, frischer Westwind.

„I trust no emotion, I believe in locomotion.“ Wilco

Kind, das eine Fahrradpanne hat vor deinem Fenster. Gehst du hinaus zu ihm? Nein. Die Ruhe selbst, steigt es ab, überprüft, repariert, überprüft, steigt auf, steigt ab, überprüft, steigt auf, fährt, fährt weiter und davon. So warst du auch!

Wohin du auch gehst, nimmst du dich mit. Bleib stehen, und du lädst ab, was dir – an dir – zu schwer wurde. Freiheit, Freiheit, Freiheit! Aber der erste Schritt weiter lädt dich dir erneut auf deine Schulter.

Vorm Supermarkt wieder er, der mit den Bäumen spricht („He! Du Kastanie!“), den Briefkästen, Autos, Einkaufswagen, Gehwegplatten und Mülltonnenhäuschen und den Geldautomaten („Ha, da lacht er, der Automat! Ja, lach nur!“). Was willst du ihm sagen, hm? Viele Grüße!

Der Anschlag von Nizza – Ausverkauf der Barmherzigkeit. (14. Juli 2016)

Vereitelt, der angebliche Militärputsch in der Türkei, und der angebliche Präsident schwadroniert weiter, vermeintlich bestätigt, lässt er weiter verhaften und niederkartätschen.

Am Morgen die Amsel unter den Dotterblumen im Vorgarten – ihr Schnabel als Blüte.

Das Kind bringt einen Zettel nach Haus, auf dem als Gedächtnisstütze notiert ist: Streichquartett 15, op. 132. Eindeutig, das Kind hört Beethoven, den späten.

Und jeden Tag Regen: Juli 2016.

Der Klavierrestaurator zeigt mir hinter seiner Werkstatt seine kleine Wohnung und erzählt von den Bildern an den Wänden, von seiner Schwester und deren Gemälden, von seinem Vater und dessen Malerei, von Keramiken und Kindheitssommern auf Rügen. Eine Wohnungsführung, die kaum drei Minuten dauert, doch die ein wirklicher Rundgang ist, wie durch ein Klavier, voller verborgener Klänge, Holz und Bewegtheit. (Ottensen, 16.7.)

„Woran wir uns nicht erinnern, das hat nicht stattgefunden.“ Christoph Bangert

Foto: „Steps to nowhere“, Christoph Bangert, 2013, Naraha bei Fukishima

Das Sklett

Denk zurück an den Tunnel von Vereina. 22 Kilometer lang Dunkelheit, zusammen auf dem Rücksitz des Autos mit einem Dichterfreund, dem die Angst durch den Leib steigt. Der Autozug donnerte durch den Berg, und ich dachte, glücklich, das erleben zu können, an Peter Handkes „Die Wiederholung“, wo Filip Kobal durch genau so einen, nur etwas weiter östlichen Tunnel läuft, von Kärnten nach Slowenien, nicht Südtirol in Richtung Liechtenstein, und sich müde in eine Nische zum Schlafen niederlegt. Jedes Ding in der Nische erzählt ihm von sich. Krachend braust ein Zug an ihm vorbei, keinen Meter entfernt der Lärm des Lebens. Handke überträgt die unvergessliche Szene – oder hat sie deshalb überhaupt erdacht, vielleicht erträumt – auf sein Schreiben, den eigenen Tunnelblick dessen, der erzählt: „mein einziger Weg zu einer Menschheit ist es, den Dingen des stummen Planeten, dessen Häftling ich, Erzähler sein wollend – selber schuld! –, bin, die Augen eines mich begnadigenden Worts einzusetzen.“

Auf dem Bahnsteig sitzt in sich versunken ein Einarmiger und wirkt verzweifelt. In seiner Hand ein Beutel Tabak, „Samson“. Während es zu nieseln beginnt, dreht er sich unter dem Bahnsteigdach einhändig eine Zigarette. Nur ein einziges Mal in 33 Jahren Rauchen ist dir das gelungen.

Cos-Player: Versuch, die eigene Lieblingsfigur (die in ihrer Unwirklichkeit gefangen ist) nicht nur selber darzustellen, sondern mit Leben zu erfüllen. (4.7.)

Tiersinn – an der Dicke des Bluts dessen Süße zu erkennen.

Morgen die Abiturfeier deines Sohnes. Weißt du noch, seine bange Frage irgendwann, an deiner Hand: „Hat eigentlich jeder, ich meine wirklich jeder, in sich drin ein Sklett?“

„Jedes Arschloch ist anders“, sagt die fette Frau im Zug zu ihren Freunden, alle vier offenbar Mediziner. Sie erzählt von ihren ganz erstaunlichen Erlebnissen mit Paketkurieren und beim Einkauf. Ja, jedes Arschloch ist anders, schon anatomisch, Frau Doktor, aber auch jedes Antlitz. (Wittenberge, 9. Juli)

Wenn du künftig schwimmen gehst in der Ostsee, wirst du da nicht auch in der Asche deines Vaters baden?

Am Morgen nach dem Streit, bevor du das so elende wie triumphale Streitross deines Körpers aus dem Bett hievst, bringen sich die Worthülsen und Redewendungen in Stellung, die dir seit Jahrzehnten jedes Sprechen, jeden wirklichen Austausch verunmöglichen. Erbärmlicher Knecht.

„And I am so sensitive that I seem to be insane; even the stars in heaven discountenance me.“ John Cheever

Hatsune Miku

Drei Lebensbeschreibungen gelesen – Schande, wie erbarmungswürdig mir seither die Gestalt des Andreas Gryphius erscheint! Aber hilflos, ohnmächtig ist doch in Wirklichkeit nur die wissenschaftliche, verwissenschaftlichte Biografieschreibung, die kein bisschen Leben, nichts Zweifelhaftes, kein Spucken, kein Äugen zulässt von dem vor 400 Jahren begonnenen Leben zwischen Glogau, Leiden, Glogau, Danzig, Glogau, Breslau, Glogau. Kein Bild von Andreas Greif – vom „Gryph“, wie der zackige Walter Jens ihn ewigbeflissen von oben herab nennt. Dennoch spricht gerade aus den frühen Sonetten deutlich der Jugendliche, der gestenreich ungestüme, zweifelnde und neugierige junge Mann. (27.6.)

„Magensäure“, sagt das Kind, „könnte in sieben Sekunden ein Fahrrad auflösen.“

Heute wieder Keats. Da in der Publikation von „Die Poesie der Erde ist nie tot“ neun leere Seiten zu bestücken sind, suche ich alte, bisher unveröffentlichte Sonettübertragungen heraus – vor 25 Jahren entstanden, so alt, wie Keats nur wurde. Ich muss schon da wie ein Bekloppter geschrieben haben, auch wenn es sich leichter anfühlte als heute (Trugschluss). Wer ist der, der das alles zusammenstückelte, tausende und abertausende Seiten? Ich fühle mich nicht identisch mit diesem „Mirko“. „That what I want I know not where to seek“, las ich heute in meiner fremden Handschrift von 1991. Und in einem Notizheft von 1988: „Der König ist entthront. Er hat immer nur gelogen.“ Damit konnte nicht Herr Erdogan gemeint sein, denn der war da gerade 34 und dabei, als die türkische Wohlfahrtspartei zur Tugendpartei wurde. Ich erinnere mich, dass der, der das damals notierte, an meinen oder seinen Vater dachte. Auch der hatte allerdings mit Wohlfahrt oder Tugend nichts am Hut.

Das Kind sagt, es freue sich auf die Vollnarkose. „Ich werde herausfinden, wie lange ich widerstehen kann gegen die Ohnmacht.“ (1. Juli)

Hatsune Miku Hatsune Miku hat Millionen Anhänger, es gibt Devotionalien jeder Art von ihr, sogar Ganzkörperkissen, die der verliebte Fan ins Bett mitnehmen kann. Hunderte haben Hatsune Miku bereits geheiratet, und jedem war und ist dies möglich, denn Hatsune Miku ist kein lebendiger Mensch, aber auch tot ist sie nicht, sie ist eine virtuelle Figur eines japanischen Software-Konzerns, die allerdings im Laufe von zehn Jahren eine Art künstlerisches Eigenleben entwickelt hat. Hatsune Miku singt, ihre Gestalt tanzt und schreitet über den Bildschirm, der in Bühnengröße über der Bühne aufgespannt ist, und tausende ihrer Anhänger hören ihr im Saal zu, schwenken ihre Smartphones und singen Hatsune Mikus Songs mit: „Tell your world“, „World’s end dancehall“ und „World’s end umbrella“.

Achte auf die, die zögern, „ich“ zu sich zu sagen. Sie suchen das Gespräch.

Ein gutes Projekt: sieben Jahre Gras.