Wirst du besessen?
Auf dem Parkplatz der Bürostadt war Markt, eine blaue Krähe stocherte in altem Laub nach Kirschen. (Hammerbrook, im Juli vor neun Jahren)
„Sterben ist wie ein Biß, der endlich sitzt.“ Nicolas Born
Alles an dem Polsterer, der den alten Sessel begutachten kommt, sieht gepolstert aus: Schuhe, Nase, Bauch, die Augen. Was er sagt, klingt gepolstert, Wörter wie Sofas und Sätze wie Sofaecken. „Wird er besessen?“, fragt der Polsterer und deutet auf den Sessel, so, als würde er nicht wagen, den Sessel selbst zu fragen.
Als ich in der Wandelhalle des Hauptbahnhofs die Neonreklame in einem Schmuckgeschäft las – Beju –, dachte ich augenblicklich an Paul Celan. In dessen letztem Gedichtband „Lichtzwang“ von 1970 heißt das vorletzte Gedicht „Du sei wie du“, und Celan lässt die Titelzeile ausklingen mit einem „immer“: Du sei wie du, immer. Die Angst, die Profanisierung der Poesie könnte mittlerweile viel weiter fortgeschritten sein, als ich glauben mag. Doch ist „Beju“, so fiel mir nach stunden- – stunden-! – langem Grübeln endlich auf, natürlich ein Wortspiel mit dem französischen Ausdruck für Schmuck: bijoux. Aber doch nicht nur. Be you. Eigentlich ja: be yourself. Und Celan rückt wohlweislich ein schmales, aber so bedeutsames „wie“ zwischen dich und dein Du. Denn dein Bild von dir, das wirst du nie erreichen. Immernie. Sosehr du dich damit schmückst. (St. Georg, 16.7.)
Schon mal mit einem geliebten Gedichtband in der Gesäßtasche in einem hochsommerlich aufgeheizten Dachboden gestanden, im Wespenlicht? Ein echtes Erlebnis.
Der Kummer in der Milch
Gegen Ende fällt in seinem Roman „Der See“ selbst einer wie Gerhard Roth auf die blutrünstige Lockung von Spannungs- und Verstörungsramsch herein. Splatter pose. Doch immer wieder wühlt sich schöne Poesie ins Freie: „Er faltete die Hände vor dem Bauch zusammen, bewegte die Lippen, ging zwischen den Bäumen herum und riß Äste und Blätter herunter. Er war anfangs vor den Bäumen gestanden wie vor großen Problemen.“ Oder der Schluss, der nach viel Hanswursterei versöhnt. Wundervoll, die ganz unprätentiöse Syntax, die so blass daherkommt und doch so lebendig macht, weil sie dich in deiner Freiheit fordert: „Ein Schwarm Stare erhob sich aus den Weingärten. Eck hatte plötzlich das Gefühl, selbst ein Vogel zu sein, der schwerelos auf das Blau des Himmels zuflog, während vor ihnen die Stare begannen, ihre rätselhaften Zeichen in die Luft zu malen.“
Griechenland – die so genannte Finanz- oder Schuldenkrise ist in Wahrheit eine Politik- und Demokratiekrise. Die Habgier verhindert das Teilen, mithin das behutsame Regieren und Regiertwerden. Das Teilen aber ist immer notwendig, d. h. nötig, um eine Wende herbeizuführen. Das Teilen ist dasjenige, an dem es uns Europäern gebricht, weswegen ein vereintes Europa auch nicht der Wirklichkeit entspricht. Wir sollten jedem Flüchtling, der zu uns kommt, allein schon deshalb dankbar sein, weil er uns die Augen öffnet für unsere eigene Ich-Angst und Ich-Sucht. (6. Juli 2015)
Sommerhitze. Die Leute sitzen auf den Stufen vor ihren Läden und erwarten den Regen. Und wenn er dann einsetzt, gleichgültig, wie stark sein Prasseln und Pladdern, bleiben sie noch eine ganze Weile sitzen. So, viel öfter, leben. (Fuhlsbüttel, 7.7.)
Die blauen Mädchen gehen langsam durch den Sommerregen nach Hause, sind ja Pfadfinderinnen.
„I live in a city sorrow built, / it’s in my honey, it’s in my milk.“ The National
Erzähl noch mal, von dem jungen Mann, der in die Bank kommt, um eine Überweisung zu tätigen, und nur einen Stiefel anhat. Der andere Fuß ist nackt, und so steht er vor dem Schalter. Wo war das noch? Überall! So steht jeder, immer, in einer Bank vor einem Schalter, um eine Überweisung zu tätigen.
Vor dem Supermarkt an eine Laterne geleint wartet ein großer schwarzer Hund, der ich sein könnte.
Im Schatten des Waldrands stehen zwei gesattelte Pferde. Ihre Reiter, ein Wankender, eine Kichernde, trinken an der Waldschenke im strömenden Regen Weißwein und Bier, Bier und Weißwein, ehe sie aufsitzen und davontraben in die graugrüne Brandung. (Rissen, 12.7.)
Das Holz der toten Jahre
Berliner Tratsch: Futter für vertrocknete, verhungerte Herzen. Herzfraß.
Selbst bei den sogenannten Inklusionsklassen spricht man von Förderung der Stärken und vom Ausgleich der Schwächen von Schülerinnen und Schülern. Warum nicht Schwächen fördern und Stärken ausgleichen? Wieso nicht Schwächen stärken? Und Stärken schwächen! Peter Handke forderte schon vor 30 Jahren einen mongoloiden Bundespräsidenten für die Republik Österreich, von dem dann so manches zu lernen wäre. Ein starkes Stück! (1.7.)
„Jetzt ist Pizza angesagt!“ – „Morgen erst mal Schwimmen angesagt.“ – „Zuerst bin jetzt ich angesagt …“ – wie viele Leute heutzutage Bahnhöfe sind. Oder Bahnsteige? Aber noch mehr scheinen mir aufgegebene und lange verlassene Regionalbahnhaltestellen zu sein, an denen nur noch der Wind aus den Lautsprechern kommt: „Jetzt ist erst mal Wind angesagt …“
Hitzetage, nah an 40 Grad. Im Treppenhaus kracht das Holz jeder Stufe. Es scheint lauthals erzählen zu wollen von vergangenen heißen Sommertagen, Hitzefrei-Tagen, Kindern, die im kühlen Treppenhausschatten saßen. Aber das Holz der toten Jahre kracht bloß.
Graspause
Das Gras scheint in seinem Wachstum wider Erwarten eine Pause einlegen zu können! Was Mut macht, dass auch ein Grasende möglich ist.
Der Waldrand
Das Tier in der Tasche
„Immer wenn ich einem wirklichen Menschen begegne, vergesse ich alles, was ich gekannt habe.“ Angela Krauß
1852 malte Eugène Delacroix eine Studie aus der Erinnerung und schrieb darüber, jetzt atme die Landschaft auch ohne seine Lunge.
Im Flughafen Wien-Schwechat wird ein Passagier Franziskus ausgerufen, und die Leute blicken einander lächelnd an, um nicht nach dem Papst Ausschau zu halten.
Das Tier in der Stofftasche, das der Flugpassagier neben mir mit sich führt – es scheint wechselweise Angst zu haben und neugierig zu sein. Irgendwann, schon in der Luft, wechseln beide Empfindungen so schnell, dass das Tier einschläft.
„Das Bier kühlte seinen Körper, er spürte es unter der Bauchdecke fließen wie eine Infusion. Ein Segelschiff tauchte gravitätisch im schmalen Kanal zwischen dem Schilf auf. Eck war glücklich, aber er wußte nicht warum. Er bekam nasse Augen. Schwalben flogen zwitschernd über dem Wasser.“ Gerhard Roth, „Der See“
Eigentlich das wichtigste Wort meiner Zeit: „eigentlich“.
Die Beschreibung des katastrophalen Einzelnen, der Vereinzelung – ein nicht großartiges, ein wundervolles Buch ist Gerhard Roths „Der See“.
Weder bin ich Nutzer noch Verbraucher. Ich bin ein Braucher und ein Verschwender. Es ist mir das Glück, gebraucht zu werden, und mein Unglück ist oft, dass ich mich an vieles und so manchen bloß verschwende. (26.6.)
Foto: Eugène Delacroix, Daguerreotypie, 1842, aufgenommen in Frépillon von Léon Riesener
Der Schutzhelm
Hoffnungssüchtig, hoffnungsblind
Die daumendicke, daumenlange Hornisse, die sich ins Zimmer verirrt hat und versucht, das Fensterglas zu durchbohren – wie panisch sie zu fliehen versucht! Wovor? Dem Unbekannten, mir, dem noch größeren, noch gefräßigeren Tier? Was wäre es anderes als Angst, was die Hornisse am Wohnzimmerfenster verspürt? Und Angst soll die einzige Empfindung sein, die eine Hornisse hat? Niemals glaube ich das, und alles andere, das nicht von Angst und Liebe spricht, ist mir gleichgültig.
Die schöne ruhige Oker in Wolfenbüttel – die meiste Zeit versteckt unter Feldrandwipfeln, so rieselt sie eher dahin, als dass sie fließt. Unterhalb einer Brücke, als uns ihr schon vergessener Name wieder einfiel – die Oker! –, lehnte ein halbes Fahrrad an einem Brückenpfeiler, als könnte es sein früherer Besitzer vielleicht vermissen und würde es demnächst abholen. Oder ist er ertrunken?
„Die Menschen waren nach Hoffnung süchtig und vor Hoffnung blind, das war ihr Verhängnis.“ Gerhard Roth
„My friend, don’t confront me with my failures, / I have not forgotten them.“ Jackson Browne, „These Days“
In Innsbruck an einer Kirche: „Universitatis morbuis“ – die Universität der Toten?
Ein Mann und seine greise Mutter sitzen auf einer Bank am Ufer des Inn und blicken wortlos auf den gespenstisch schnell vorüberbrausenden Fluss. Was sie (sich und einander) sagen müssten, brauchen die beiden nicht zu äußern, weil der Fluss es schon sagt. (Innsbruck, auf dem Weg zum Traklpark, 19.6.)
Das Ameisenauto
Die polnische Dichterin, keine 25 Jahre alt, recherchiert für ihr Studium in Schottland und lebt dort davon, Fisch zu entgräten – eine Fabrikarbeit, schreibt sie, noch härter als das Rhabarberstechen in ihrer Jugend.
Auf der kleinen Elbinsel erschien dir jedes Gestrüpp einzigartig in seiner Gestalt, mit unverwechselbarem Schatten, besonderem Rauschen im Flusswind, seltsamen Amseln im Gezweig. Erstaunlicher Strauch – als wäre er selber Insel. (Lühesand, 7.6.)
Die schönen Zuckungen so vieler Leute im Gesicht, das sogleich wieder Antlitz wird, sobald sich einer unbeobachtet wähnt. Alles Kinder.
Setz dich irgendwo – gleich, wo! – hin, und sie kommen, scharen sich um dich und machen dich zum Teil und Mitglied, zum Mitmenschen! „Mit“, eines der bedeutsamsten Wörter, das Mitwort. (Braunschweig, 11.6.)
Das Kind hält ein Schulreferat über den blauen Anteil des Lichts, „das, was ich Himmel nenne“. Das Kind erzählt, Mitschülerinnen würden Tipp-ex als Nagellack benutzen. Und du erinnerst dich an deine ersten Typoskripte, die du nicht bloß geschrieben, sondern auch gemalt hast. (13.6.)
Slogan: „Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klasse.“ (Barmbek, 14.6.)
Dem Kind auf Krücken kommt im Gewimmel des Hauptbahnhofs ein Kind auf Krücken entgegen – das stumme Lächeln auf beiden Gesichtern: Sind die Zukunft.
Das Auto des Nachbarn – voller Ameisen. Er sagt: „Das Ameisenauto.“
Die Welt ohne dich
Die zwölf Jahreszeiten
Ein schöner und guter Versprecher der Literaturhausleiterin, als sie von kreativem Schreiben erzählt und stattdessen sagt „kreatives Sterben“.
„Im Großen und im Ganzen / haben wir allen Grund zum Tanzen.“ Jan Delay
Der Kopfschmerzpapst!
Merkwürdig – wert, gemerkt zu werden –, ja, und seltsam – wesenhaft selten –: der trockene, nicht warme und nicht kalte Wind, der durch die Straßen bläst. Mich erinnert er an so manchen Kindheitssommer in Oberbayern, wenn ich dort an einem Nachmittag im Gras lag, in die Wolken sah, keine Ahnung hatte von irgendwas, auch nicht davon, dass ich schon da ein Dichter war und John Keats mir näher als die meisten Spielkameraden. Der Föhnwind, der mir ins Gemüt drang. Die Sehnsucht nach etwas nicht Ausdrückbarem. Hat sich daran etwas geändert? Vielleicht, dass ich keine Zeit, keine Muße mehr habe und somit stehengeblieben bin, statt im Gras zu liegen und ein bayerischer Buddha zu werden. Hier ist der Kern der ganzen Geschichte. (Hannover, 3.6.)
Der Busfahrer, der drüben auf dem Parkplatz am Flussufer sein Gefährt abstellt und dann im Schatten der Bäume davongeht, vornübergebeugt, fast mit Tippelschritten, er hat auf jedem Fußweg, auf allen Bürgersteigen der Republik seinen Bus im Nacken.
Zwillinge. So bin ich auch, doch bin bloß einer, nein beide, bin Einzelzwilling. (8.6.)
„Ich kenne alle Jahreszeiten auswendig“, sagt das Kind. – „Alle?“ – „Ja, alle!“ – „Sind nicht so viele, oder?“ – „Es geht“, sagt das Kind. „Januar, Februar, März, April …“
„Wir leben“, sagt der Dalai Lama, „in einem Haus, in dem wir an einem überfüllten Fenster sitzen, während hinter uns das Zimmer leer ist.“
Vor dem Fenster geht der Dalai Lama vorbei.
Taifunika
Gestern, im Süden, der erste sonnige Sommernachmittag. Da war sie wieder: meine Stille. Die Stille der Wärme, in der die Vögel nicht mehr hineilen, sondern gaukeln. Und allenthalben, halb hier, halb da, überall bloß halb, die wundervollen Insekten, die Ameisen Zentauren in ihrer Drachenwelt. Dann war es mit einem Mal da und zu sehen: das Flimmern, drüben auf dem Feld, auf halbem Weg zwischen uns und den Bäumen. Duft überall. Die Sonne im Gras. Das schöne Gesicht der Sonne. (28.5.)
Im Ernst: die vier Töpfe mit Spanischem Gras, die seit Jahren unverändert auf demselben Fleck hinter den Sichtschutzgardinen im Treppenhaus so vor sich hinleben – sind sie nicht wie ich? Zum Weinen. Zum Schreien! Zum Lachen. Sind mehr da, als dass sie leben. Aber bedeuten doch in jedem Augenblick: Nein. Wir leben. Was denn, bitte, sonst.
„Einen Haushalt mit Kindern zu führen“, sagt sie, „das ist wie mit Nutella sich die Zähne zu putzen“, und sie lacht.
Und das Kind sagt: „In unserer Klasse geben wir uns allen Spitznamen nach Naturextremen.“ – „Ach ja? Und wie heißt du?“ – „Taifunika.“
Hast du die Hände der jungen Frau gesehen, heute Abend, in der U-Bahn? Sie waren zerschunden, rotfleckig, zerkratzt, schorfig, wund. Und sie erzählte, lachte, strich nur ab und an darüber.
Und auf der durchgehenden Sitzbank im selben Waggon, da schlief einer, lang ausgestreckt über vier Plätze. Im Anzug. Mit Turnschuhen an den Füßen, die waren voller Schlamm.
Das Corot-Bild
Die Augen, die man Himmel nennt
Das schöne Wort Versandkatalog. Was ist nicht alles am Versanden! Und ich lasse ja alles Mögliche versanden, Küsse, Umarmungen, Gedichte, Lieder und tausende Grüße. Und alles geht an die Sandadressen. Versandet!
Es muss auch weniger gute Tage geben! Nur so kannst du überhaupt erkennen, wie schön die Welt ist, zumal wenn du liebst und geliebt wirst, von wem immer. Wobei … ist zu lieben vielleicht stärker als geliebt zu werden? Probier’s aus! „Aimer est plus fort que d’être aimé“ singen Christine and the Queens.
Vom U-Bahnsteig herauf kommt durch den Rolltreppentunnel eine dunkle Taube geflogen – wie selbstverständlich. Sie ist das einzig Wirkliche in der funktionalisierten Unterwelt und weiß davon nichts. (Stephansplatz, 22.5.)
„Du musst dich umstellen!“ – „Ich bin keine Uhr.“
„Der eiskalte Himmel.“ – „The ice-cold heaven.“ – „Die Augen, die man Himmel nennt?“ – „Ja. The eyes called heaven.“
„De heven“ – plattdeutsch für den Himmel, an dem die Wolken fluten. Und der Himmel, der uns erwartet (wie uns gesagt wird: wo der uns erwartet, der uns endlich liebt) – ist er auf Platt auch „de hemmel“?
Elbphilharmonie
Das Schattenwort
Eine Viertelstunde lang in der Lärmröhre. Die lauernde Angst im Schatten. Ich hielt die Augen geschlossen und dachte an Liebes, an weiche Haut, ans Gehen durch sommerliche Felder. Kernspintomografie. Ein Wort für unsere Welt, Nullwort, das Angst einflößen soll und es tut. Ich versuchte, eine Art Techno-Beat in dem Lärm zu hören, ganz vergeblich. Ich stellte mir Foltermethoden vor. Ich dachte an Gedichte, weil nichts mich mehr tröstet. Ich wurde mehr und mehr nur mehr Körper. Dann, als ich fast resignierte und deshalb nah am Losbrüllen war, herausgezogen wie aus dem für mich bestimmten elektronischen Ofen. (Speersort, 18.5.)
Trost? Du.
Das Schattenwort wuchs.
Mit jeder Amsel auf einer Baumspitze kannst du dich unterhalten – so du den Sinn dafür hast, Lust und Zeit und etwas Amselgeduld.
Der ganze Klatsch und Tratsch – über die vermeintlichen Konkurrenten, Rivalen, die Frauen, die, statt dich, andere begehren und in ihr Bett lassen – wozu? Um deiner Angst wenigstens Gesichter zu geben, wo du ihr schon keinen Namen geben kannst? Sehr schade. Um dich, lieber Freund.
Das Schattenwort wuchs.
Brot und Lauch!
Nach einer so schweren Unterzuckerung wie seit Jahren nicht liegst du da in der kühlen Sonne auf dem Bett und schlummerst. Dein Körper – wer ist er? – gibt dir noch immer unmissverständlich zu verstehen – zu begreifen –, wann es genug ist und du ruhen musst. So wird es sein. Und nicht mehr aufhören …
Das Schattenwort wuchs.
Herz, erfüllt
Hygiene der Hyäne
Im gelben Licht der Nacht: Gras, das Gras zwischen den Straßenbahnschienen und der Straße. Wenn du darauftrittst, der Widerstand. (Magdeburg, 8.5.)
„Ob meine Bilder nach der Natur gemalt sind, spielt keine Rolle und ist ohne Bedeutung.“ Claude Monet
„Auf dem Keller“ sagen sie in Bamberg, wenn sie im Biergarten sitzen. Da zeigt sich wieder das Erzählerische – nix da Zeitkolorit, Lokalkolorit – des Dialekts und der regionalen Rede: Zur Kühlung lagerte das Bier der alten Brauereistadt früher in Bierkellern. Und über denen waren Gärten. Und nahe lag, oben, auf dem Keller, auszuschenken, was unten im Dunkeln kühlte.
Von Wolmirstedt nach Woldirstedt!
Laut Peter Handke gibt es im Deutschen keinerlei Synonyme. Auch zwischen Leiblichem und Körperlichem besteht demnach ein Unterschied. Gibt es also den leiblichen Körper, den körperlichen Leib? Und lassen sie sich vereinigen? (Stendal, 10.5.)
B. B. King, der King of Blues, ist gestorben. Sogar der us-amerikanische Präsident schmunzelt nicht länger, sondern trauert, heißt es. Und im Radio, das weniger lügt, heißt es dazu, schließlich sei ja auch B. Obama Teil der Popkultur. (15.5.)
Jenseits der Hecke flitzen bunte Flecken entlang – die Mützen der Kinder, die hinunterspurten zum Spielplatz am Fluss.
Da ist der zerrupfte Vogel wieder, scheinbare Amsel, die aussieht wie Emily Dickinson und seit Wochen im Vorgarten herumhüpft. Sie blickt dich an mit erwartungsvollen Augen. Sie wartet. Auf dich? Jedenfalls wartest du auf sie.
Der Schmunzelpräsident der Popkultur regt sich nicht, als am Tag, nachdem B. B. King starb, das Todesurteil für den „Boston-Marathon-Attentäter“ verkündet wird. Pop war stets nichts als Verharmlosung.
Das Kind, elf Jahre alt, erklärt mir an einem Regenvormittag den Dreisatz der anti-proportionalen Zuordnung.
„Die Konstruktion (das Konstrukt?) des Körpers gleicht der Erfindung des Einhorns (der Erfindung Einhorn?)“, schreibt Michel Serres.
Zu Hause die Hygiene der Hyäne.
Der Lockvogelstreik
„Stars, hide your fires; / Let not light see my black and deep desires.“ Shakespeare, „Macbeth“
Das Kind fragt, als es vom erneuten Streik der Gewerkschaft der Lokführer hört: „Die Lockvögel wollen nicht arbeiten.“
„Was du gesehen hast, verrate nicht – bleib in dem Bild.“ Orakel von Dodona
Lies nicht nur die Neuerscheinungen. Lies auch, was früher schon erschien, lies das Erschienene und die Erscheinungen! Und lies nicht nur in Büchern. Sondern auch in Gesichtern und Gesichten. Lies nicht bloß Zeitung, sondern lies lieber in der Welt.
Noch immer beschäftigt der Lokführerstreik viele, auch das Kind. „Nimm doch einfach ein Pferd“, sagt es ernst.
Weißt du noch? Das eine Gemälde von Camille Corot, entstanden (in deiner Erinnerung) um 1864, betitelt (in deiner Erinnerung) „Sommerlandschaft“ (bei Pontoise?). Doch in keinem Archiv, in keinem Katalog findet sich das Bild. Auf einer lichten Baumgruppe, die den Eingang eines Waldes markiert, liegt schräg und stufig ein auffälliger Schatten, der dem Ganzen ungeheure Tiefe verleiht. Du warst, als du den Schatten lange betrachtet hast, in dem Bild, leibhaftig ein Teil davon. Und spürtest Wärme und Leuchten eines seit anderthalb Jahrhunderten vergangenen Sommertags.
Wilhelmsburg
It Takes An Ocean Not To Break
Das Hochhaus, in dessen Penthouse im 18. oder 20. Stock ich vor zwanzig Jahren Gedichte von John Keats und meine Übersetzungen las, wurde abgerissen. Links und rechts die beiden Türme der Dreierstaffette stehen noch, doch wo an der Esplanade der Glaxo-Turm stand, klafft nun ein Loch, groß genug für das Bett Hyperions.
Nie aufgefallen bis heute: „Dynamik“ und „Dynamit“.
Nachts in Berlin, die stille blaue Kälte.
Das Geheimnis, ist es ein Heim – ein Zuhause –, gar die Heimat? Es ist jedenfalls vom Heimlichen so weit entfernt wie vom Offenen, dem offen zu Tage Liegenden. Wie das, was man Top Secret nennt, immer auch mit Sekreten zu tun hat. Verzeihung, Herr Geheimrat, aber ich bin mein eigener geheimer Sekretär. Das Geheimnis ist das Eigene, das Heimliche erwächst aus der Angst – und ist damit immer schon im Besitz aller.
„Die abhandene Welt“ heißt Margarethe von Trottas neuer Film – ein Titel, der keinerlei Sinn ergibt. Was soll denn da fehlen … die Welt ist ja da, nur mein Sensorium für sie stumpft ab, stumpft immer weiter ab. Ganz zu schweigen davon, dass es aus diesem Grund auch gar nichts gibt, was abhanden wäre. Alles ist da. Erst wenn es verloren geht, kommt es abhanden. (1.5.)
„Ein Meer ist nötig, um sich nicht zu trennen“, singt Matt Berninger von The National. „Wasser in einem Glas ist das Glas, Wasser in einem See ist der See“, sagt Bruce Lee. „Wasser ist so hart, wie es weich ist.“ Und zu einem Reporter, der ihn interviewte, sagte Lee: „Be water, my friend.“
Foto: Bäume wie wir
Die selige Stunde
„Ich bin kein Ballerina-Typ!“ – Sondern?
DIE VEREINIGTEN STimmen VON AMseln
Eine Frau steht am Weiher und umarmt einen Baum. Sie hat die Schläfe an die Borke gelegt, hört der Pappel zu und blickt dabei übers Wasser.
Seit vier Wochen der Schmerz im Kopf, ein nachmittägliches Pochen hinterm Auge – durch das die Welt wirklicher wird, weil sie vergänglich und bedroht erscheint. Ja, überhaupt: erscheint. (23.4.)
Die selige Stunde – die der Stille und leeren Fülle frühmorgens gegen vier.
In den Auenwaldstreifen verdunstet die Wasserkloake des Herbstes und Winters, und auf dem Schlamm sprießt die Buschwindröschenschwemme.
„Einen Freund haben kann nur, wer selbst einer ist.“ Emerson
Ein Kauz in Rouen
„Ich bin dein Schutzenkel“, sagt ein kleiner Junge in der U-Bahn zu seinem Großvater, der daraufhin nicht länger sterben will.
Die Toten lesen. Die Toten, sie lesen.
Treuhandstelle für Dauergrabpflege!
Treuhandpflege der Dauergrabstelle?
Ein kleiner, ein winziger Junge kommt auf seinem Zwergenrad in einem Affenzahn die Straße vom Friedhof heruntergefahren, Wimpel an der Stange im Wind, Helm auf wie auf Honda, verbissenes Gesichtchen! Und oben im Dorf, am Kreisel bei der Schule, rangeln zwei andere Kleine in Judoanzügen in der Sonne. Da ist jede Menge Licht auf dem Fluss! „Endlich“, flüstert eine Alte in der Bank, „es ist Frühling.“ (20.4.)
Auf dem Mittelmeer vor der libyschen Küste sind hunderte, an die tausend, in Wirklichkeit unzählige Flüchtlinge aus den ausgebeuteten und kollabierten nordafrikanischen Ländern ertrunken, als ein weiteres schrottreifes Boot kenterte. „Wir brauchen“, sagt der christdemokratische Minister, der nichts begreift, weshalb er, in seiner Not, Christdemokrat zu sein vorgibt – Lügner vor dem Herrn –, „neue Seenotrettungskreuzer.“
Vergiss nicht den Kauz, den du in Rouen mitten in der Stadt rufen hörtest, in Rufnähe zur Kathedrale.
Jeder Tag, ohne schreiben zu können, sei ein verlorener, ein Tag ohne Atem, sagt W. H. Auden.
Feste Adressen
Günter Grass ist gestorben. 87 Jahre wurde er alt. Einige Male sah ich ihn in den letzten 15 Jahren über die Buchmessen schlurfen, immer kleiner und kleiner, aber immer auch mit denselben wachen, wütenden, neugierigen, nach Geltung heischenden Augen. Gelesen habe ich ihn kaum, verehrt noch weniger. Doch wohin ich auch kam, Grass war schon dort gewesen. Ich mag im Grunde nur vier Zeilen von ihm, sein kleines Gedicht „Glück“: „Ein leerer Autobus / stürzt durch die ausgesternte Nacht. / Vielleicht singt sein Chauffeur / und ist glücklich dabei.“ (13. April 2015)
„Poésie = Gemütherregungskunst“ heißt es bei Novalis. Schön der Akzent, schön auch das Gleichzeichen, beides verweist auf die Bedeutung der Übersetzungen, die in der Tat wahre Kunst sind, ohne dass sie es nötig haben, darauf zu bestehen und sich großzutun.
Wir sind doch alle Flüchtlinge, gerade wir mit unseren vermeintlich festen Adressen.
„,Meine hellste Zeit‘, sagte Colin, ,die verbringe ich damit, sie zu verdunkeln.“ Boris Vian
In dem von Tag zu Tag (und Nacht zu Nacht?) rascheren Knospen, Treiben und Blühen wird auch der Fluss grüner mit jeder Stunde. (14.4.)
„Sonderbare Dinge geschehen im Licht der lebendigen Gegenseitigkeit.“ Martin Buber
Fotos (Cut-ups): Desert Ship (1), Runaway Boat (2)
Ein Jahr alte Wolken
Vierter April, und noch immer ist es winterkalt, wintermantelkalt. Die Bäume kahl, die Sträucher blassgrün voller zager Knospen. Man erschrickt, wenn durch wolkenloses Blau einmal die warme Frühlingssonne fällt. Am Nachmittag scheint sie lange, golden, sodass sich das Gemüt dehnt, die Augen sich weiten und das Geliebte in allem erkennen, was da drüben auf dem Parkplatz herumsteht: Kinder, Frauen, Männer, Hunde, Bäume, alte Autos, die Leute, die lachen im hellen Licht. Da funkelt ein Blinken durch das Hellblau und Gold. Vierter April? Es schneit!
Als das Kind zum Geburtstag ein Klavier
geschenkt bekommt, erzählt sein Großvater, dass er einmal ein Klavier aus dem Fenster geworfen hat – und wie herrlich es sich anhörte, als das Klavier vier Meter in die Tiefe sauste und dann unten auf dem Parkplatz in tausend Stücke zerbarst!
Wie schön die Seine noch immer ist zwischen Louveciennes, Port-Marly und Giverny! Die wechselnden Uferbäume, zumeist Pappeln (Fahnen, Fächer, Federn), die wie ehedem langsam flussabgetragenen Frachtkähne … vor allem aber die Schleifen, Bögen, das Hin-und-her und Mäandern. Monet, der in Giverny drei nebeneinanderliegende Gärten kaufte und sich ein Haus darauf baute, Sisley und die anderen Impressionisten im Paris vor 150 Jahren, sie waren im Grunde Flussmaler, Seine-Maler. (Rouen, 9.4.)
Fotos: Ein Jahr alte Wolken: Offenburg, 8. April 2014, ja.
Die Renaissance der orchestralen Filmmusik
Um nicht vergessen zu werden, schrieb sie vor einem jeden Treffen mit Freundinnen eine Erinnerungsnachricht.
Das Mädchen mit den flatternden Augenlidern – sie flattern während jeder Drehung des Kopfes, flattern und flattern, solange bis das Gesicht zur Ruhe kommt. (Portugiesenviertel, 30.3.)
Fünfundvierzig Millionen „nicht verwendbare“ männliche Hühnerküken werden hierzulande jedes Jahr in eigens zum Zweck dieser Vogelvernichtung eingerichteten Betrieben geschreddert – lebendiges Totholz. Ich lebe in einer
Todesfabrik – einem Staat, dem das Umbringen nie vergangen ist und der zwar vorgibt, ein soziales Gefüge zu sein, in Wirklichkeit jedoch alles und jeden dem Profit und der Effizienz unterordnet. Der für diese so gottlose wie skrupellose Massenabschlachtung verantwortliche CSU-Minister weist jede Kritik an dem Vorgehen zurück, er verweist auf die Forschung, die an effektiveren Tötungsmethoden bereits arbeite.
„,So ist das Leben‘, sagte Chick. – ,Nein‘, sagte Colin.“ Boris Vian
Das Sturmereignis!
Plötzlich fiel das Kind einfach um.
„Ich esse“, sagt das Kind. „Blut mit Pfeffer.“
Und das Kind fragt: „Hat man schon mal so was Schnulziges gehört – ,Die Renaissance der orchestralen Filmmusik‘?“
Foto: Mein Schöpfer und ich
Schwierige Tiere
Abends am Fluss begegnete mir Friedrich Nietzsche. Er hatte seinen dicken weißen Schnurrbart, seine traurigen Augen und das zugewandte Lächeln. Und so blieb er kurz stehen und sagte zu mir: „Glauben Sie an gar nichts, außer an die Begrüßung, die eine wahre Macht ist.“ Ich merkte, dass ich ihm nicht lange in die Augen sehen konnte – in seinen Pupillen tanzte das Feuer. (Klein Borstel, 24.3.)
Du musst sie erst recht einladen, wenn die Leute nicht kommen können oder wollen. Du musst – wie Jay Gatsby – das Haus um jeden Preis offenhalten, zur Not Türen und Fenster rausreißen, auch dann – gerade dann! –, wenn ein Wirbelsturm anrollt.
Alles, was nicht automatisch geht auf dieser Welt, ist gut – allerdings ist das nicht automatisch so.
„Wenn es stimmt daß wir schwierige Tiere sind / Sind wir schwierige Tiere weil nichts mehr stimmt“ – an diesen Vers aus Durs Grünbeins Gedicht „Biologischer Walzer“ muss ich dieser Tage oft denken. Wir alle, so kommt es mir vor, sind wahnsinnig geworden. Da schließt sich
ein 27-jähriger Co-Pilot im Cockpit ein und, wie es in den Meldungen heißt, „fliegt 149 Menschen und sich selbst in den Tod.“ Das deutsche Utoya eines fliegenden Amokläufers.
31.536.000 Sekunden hat jedes Jahr, errechnet das Kind.
Tomas Tranströmer ist gestorben. Leb wohl, Trana.
Fotos: Tomas Tranströmer in den 1960ern und 2014
The Fucking Moon
„Was du innig liebst, ist beständig“: Die liebsten Bücher kommen zu dir zurück, unerwartet rufen sie dich. Angebot, Vian zu übersetzen.
Die das schöne Wetter ausnutzen – wen und was nutzen sie sonst noch aus?
Unter dem Brückenbogen – ein grünes Geflimmer auf dem Gemäuer, lebendig, das Schwirren, eine Wiese aus Licht an einem Nachmittag nur für Gespenster, die bleiben wollen.
Die wahren Vandalen, sagt Naomi Klein auf einer Veranstaltung während der Blockupy-Proteste in Frankfurt am Main, säßen in den Bankentürmen dieser Finanzmetropole. Später distanziert sie sich von den gewalttätigen Krawallen in den Straßen, verweist aber auf den Unterschied von Gewalt an Gegenständen und bewusst in Kauf genommener Gewalt an Menschen, wie Banken und deren Manager und Handlanger sie praktizierten. „Sie zünden keine Autos an“, sagt sie an die Adresse der EZB, dessen geschmacklose Geldkathedrale in Frankfurt eingeweiht wird, „aber die Welt zünden sie an.“ Dir kommen Naomi Kleins Standpunkte wenig radikal vor, dafür sehr bekannt. Du unterschreibst sie, weil sie deine sind seit Mitte der Achtziger. Dir scheint, sie führen zu nichts. Dir scheint, derlei Kritik wird geäußert, weil sie zu nichts führen soll. Die die Welt verkaufen und dabei über Leichen gehen, denen steht die Gewissenlosigkeit noch immer in den fiesen Visagen. Daran erkennt man sie, und daran, dass sie sich längst viel radikalere Claqueure leisten. Der Radikalismus ist salonfähig, und der Salon steht in Flammen. Zu spät.
In Österreich, lese ich, dürfen Asylbewerber als Erntehelfer, Prostituierte und Zeitungsausträger arbeiten.
Black Sabbath haben ein letztes Album angekündigt. Eingespielt werde es, so Sänger Ozzy Osbourne, wenn es sein müsse, „up on the fucking moon“.
Absolut keine Musik mehr
Von South Kensington bis Victoria, und dort weiter mit der Victoria Line Richtung Brixton, nach Pimlico.
Eine Frau wie eine bissige Rose. (Soho, 19.3.)
Der schmale und kaum kopfhohe U-Bahnwaggon rast durch die Tunnel, die Dunkelheit stundenlang, und du am offenen Fenster atmest und lebst. Das Wirkliche, da ist es!
Teilweise Sonnenfinsternis. Mit einem Mal wurde alles grau und merklich kühler. Die nächste totale Sonnenfinsternis wird es – sagen sie – 2081 geben, in 66 Jahren. Da werde ich 105 sein. Und jubelnd über die Felder laufen zu meinen Freunden, den Tieren.
„Kennst du das Gefühl, wenn du absolut keine Musik mehr hören willst?“, fragt das Kind.









