Der Westwärtshain

Westbound Grove Rolf Dieter Brinkmann starb nicht nur an Shakespeares Todestag (laut Julianischem Kalender), nicht nur, nachdem er im „Shakespeare’s Pub“ gewesen war (Hörensagen), und nicht nur mit seinem Gedicht „Nach Shakespeare“ in der Tasche (Vermutung) – er starb im Westbound Grove, als er dort, vielleicht angetrunken, bestimmt aber unachtsam dem Linksverkehr gegenüber, auf die Straße trat und überfahren wurde. Nichts kündet davon, kein Schild, keine Plakette, rein gar nichts, ganz so, als wäre hier nie etwas passiert. Oder als hätte die „Bild“-„Zeitung“ recht behalten, als sie im April 1975 schrieb, dass der deutsche Dichter Rolf Dieter Brinkmann in London von einem Auto überfahren worden sei: „Er starb.“ – „Nach Shakespeare“ Brinkmann's Corner erschien wenige Tage später in Brinkmanns legendärem Gedichtband „Westwärts 1 & 2“, und „Westbound Grove“, das ist, so könnte man es übersetzen, der Westwärtshain. Der junge Peter Lach-Newinsky, heute ein angesehener australischer Dichter, übersetzte seinerzeit für einige Londoner Lesungen aus „Westwärts“ Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht über Shakespeare und dessen Gespenst so:

After Shakespeare

The winter hand falls off
and is lying in the garden where now
there’s a wooden scaffold.
The dark summers

fall like the hand.
You’re freezing in your head.
Autumn with its
dead fish on the

bottom of the rivers is
like the kiosk with the old
woman sitting and reading
the newspaper till someone

comes and buys one of the cold
rissoles lying in the
glass vitrine smeary with
fat. The passer-by pays,

eats, throws the bone
at the invisible angel.
And spring arrives, disperses
the headlights through

tinny leaves in the evening
sinking with the wooden scaffolds
by the river.

Die straßenbreite Unterführung unter den Museen der Exhibition Road in South Kensington, die gebe es „since hundreds and hundreds of years“, sagt die junge Londonerin. (17.3.)

In der Tube, als sie einfährt am Leicester Square, verliert eine Dame beim Aussteigen einen blauen Lederhandschuh. Die Männer im Waggon blicken ihn an, wie er da auf dem Boden liegt, aber nur einer hebt ihn auf, ruft durch die offene Tür der Frau nach und wirft ihr den Handschuh zu – worauf sie lächelt und sich bedankt. „,Madam! Madam!‘, hat er gerufen!“, johlt ein anderer. Und noch einer meint, so ein Gentleman, der könne nicht von hier sein. „Hey, you stranger!“ In London, sagt er, gibt es keine Madams, da gibt es nur Männer und Frauen. „Frau!“, ruft er, „Frau! Hier, den verdammten blauen Handschuh hast du verloren!“

Wer bist du, wenn nicht ich?

Hyde Park Finsbury Park – wo die Schule liegt, an der ich von Gedichten erzähle, – dort wuchs vor 200 Jahren John Keats auf. Vor den Fenstern die Bäume.

Fotos: Westbound Grove, London-Bayswater (1 und 2), Hyde Park (3)

Liebe Grüße an Keats

Die grünen Sittiche, frei in den kahlen Wipfeln des Parks, wie Blätter, fliegender Mai, die ausprobieren, wo sie festwachsen könnten. (Hyde Park, 16.3.)

Der Besucher Eine Autoalarmanlage zwitschert, zwei, drei Martinshörner nähern und entfernen sich im Dunkel, und vis-à-vis, da ist ein ganzer Block erhellt, eine leuchtende Fitnessfabrik mit Blick in die keimfreien Gärten des Prinzen, Beine, Arme, Beine, Arme. Am Morgen laufe ich durch die grauen Kensington Gardens nach Bayswater bis zu der Stelle, wo vor vierzig Jahren Rolf Dieter Brinkmann totgefahren wurde.

Die Sprache der Gedichte sei der Minutenzeiger, die der Wissenschaftler der Stundenzeiger auf der Uhr ihres Lebens, sagt eine Schülerin in Islington.

Wer du bist und wer ich bin,
wer wir sind, entscheiden
du und ich und wir für
uns allein, nicht sie, nicht
sieben, die kommen, um heilig
und wichtig und richtig zu tun.

Die Sun titelt: „Wir leben in einem Ford Focus!“

Die Autorin im Apartment neben mir sagt im Flur an dem Morgen, als ich nach Hampstead hinausfahren will: „Send my love to Keats.“

Ein Waldbrand

Der Bankfilialleiter in seinem Funktionsmöbelkabuff, er ist nicht nur arm dran. Zusammengesunken über dem Schreibtisch, mit leerem Blick äugt er in die Leere und weiß genau, was Reichtum wäre. Mut. Er ist arm.

Claude Simons ursprünglicher Titel für seinen Roman über den drôle de guerre „Die Straße in Flandern“: „Bruchstückhafte Beschreibung eines Desasters“.

Schöner Reim im Refrain eines Charts-Songs im Radio:
I got you in my heart, yes
I got you in my soul, yes
like a wildfire in the darkness

Alle sind Freunde. Nur ich bin es nicht – ein Glück.

Wäschereiter

„Mag der Regen die einzelnen Segmente der Hummeln, das Honiggelb, das Bärenschwarzbraun auch frisch zum Leuchten bringen: kein in-den-Handteller-Nehmen und Anhauchen wird euch vorm Sterben retten oder vom Tod zurück ins Leben bringen, das war schon in der Kindheit so, und trotzdem wurde es, ich sag’s dir, ich sage euch, immer wieder versucht, damals an den Hummelsterbetagen wie heute.“ Peter Handke

Wäschereitermine? Wäschereiter? Berittene Wäschelieferanten in die Luft jagen?

„Lass uns die Sternschäden reparieren.“ Tom Schulz

In Stuttgart las ich auf einer Leuchttafel das seltsam schöne Wortspiel „Là pour là“ – statt „L’art pour l’art“ also „da, um da“ zu sein. Und wie wahr! Lieb etwas, liebe einen oder eine, sodass es dir das Leben ist, schon bist du da, um da zu sein. All is full of love, even when you shut the doors. Im Zug nach Münster las ich das in den neuen Gedichten von Tom Schulz, „Lichtveränderung“: „Keines war besser als das andere. Jedes war.“ (12.3.)

Der Körper ist es, der den Raum erschafft, nicht umgekehrt. (Ja.) Durch Bewegung. Nie ist mir aufgefallen, wie schön dieses Wort ist, ein echter Begriff, begreifbar: Da wird der Raum be-wegt. Wege werden gelegt. Und beschritten. Körper und Raum bewegen sich nämlich gleichermaßen. Zusammenzeit!

Der lichte Kern

Erster Frühlingstag – ein sachter Märzwind. Unter dem hellblauen Himmel die noch ganz kahlen Bäume und Büsche, aber alles ist schon voller Liebe, ja, Mensch, sogar wenn du die Fenster und Türen verrammelst, ist drinnen alles längst schon voller Liebe! Einer schreibt mir, meine Gedichte seien zu weich – und irrt, denn in Wahrheit sind sie noch lange nicht weich genug. Sie sind noch nicht wie deine Haut! (8.3.)

In Alf Sjöbergs Filmdrama „Hets“ („Raserei“), das zu Beginn der 1940er-Jahre an der Stockholmer Höheren Knabenschule Södermalm spielt und dessen Drehbuch Ingmar Bergman schrieb, ist Tomas Tranströmer, damals Gymnasiast in Södermalm, als Statist zu sehen. Sein Spitzname war „Trana“, Kranich.

Der lichte Kern im Kometen von Tomas Tranströmers Kindheitsmemoiren „Die Erinnerungen sehen mich“: „Palle, der vor 45 Jahren starb, ohne erwachsen zu werden, – mit ihm fühle ich mich gleichaltrig. Dagegen bleiben meine alten Lehrer, die ,Greise‘, wie sie allesamt hießen, in der Erinnerung Alte, auch wenn die älteren von ihnen genauso alt waren, wie ich es jetzt bin, da ich dies schreibe. Immer fühlt man sich jünger, als man ist. Ich trage meine früheren Gesichter in mir, wie ein Baum seine Jahresringe hat. Ihre Summe ist, was ,ich‘ ist. Der Spiegel sieht einzig mein letztes Gesicht, ich spüre alle meine vorigen.“

Ein Pflanzenschlafmittel? (Ja.)

Zersplitterte Fabrik

„Lieber streiten als einsam sein. Also heirate.“ Irisches Sprichwort

Nach Tallaght

Jervis
Four Courts
Museum
Liffey
Heuston
James’s
Fatima
Rialto
Grand Canal
Suir Road
Goldenbridge
Drimnagh
Blackhorse
Bluebell
Kylemore
Red Cow
Kingswood
Belgard
Cookstown
Hospital
Tallaght

Literaturbetrieb: zersplitterte Fabrik, in der niemand irgendwen von irgendetwas zu überzeugen vermag. (Berlin, 3.3.)

Slogan, Berlin: „Er kam, sah und saugte.“

„Uniformiert, uninformiert“, sagt das Kind.

Talla

Tallaght at night Die Leute von Tallaght, „Talla“, wie sie selber sagen zu ihrer Stadt an Dublins Rand – stark und freundlich sind sie. Seit es eine Tram gibt, die sie geradewegs in die Hauptstadt hineinfährt (und wieder nach Haus in die Dublin hills), öffnet sich ihnen die Welt und fangen sie zu erzählen und zu glauben an: dass es doch weitergeht!

Berge und Gras. Keating Über die grünen Hügel kommt am Morgen ein ungeheures Licht. Es ist die irische Dämmerung, und die Möwen segeln darin über die verwaisten Parkplätze vor dem großen und noch vollkommen menschenleeren Tesco-Einkaufszentrum „The Square“. (27.2)

Blumen. Condron Ich besuche Dominic’s Community Centre in Tallaght. Als Unsichtbarer, als deutsches Gespenst sitze ich am Tisch, als drei Alte ihr Vorhaben besprechen: eine Kupferstecherwerkstatt für vier Senioren und vier Jugendliche! Draußen im Innenhof, im hellblauen Frühlingslicht, spielen Kleinkinder mit molligen Erzieherinnen, die lachen wie die Februarsonne.

Zeichnungen: Isobel Shah Keating, 7 Jahre alt, „Mountains and grass“, John Paul Condron, „Flowers“ und „More flowers“, RuaRed, Tallaght

Deine Aufgabe

„Ich verhandle mit der Zufälligkeit.“ Willy Ronis

Ronis. Ile-Saint-Denis 1956 „In England heißt jedes Pferd Horst“, sagt das Kind, „wusstest du das?“

Betrachte viel mehr als deine Aufgabe. Sag dir, auch das ist dir aufgegeben, wie ein Rätsel!

Der einzige Mensch, der mich im Bus zwischen Heathrow und Gatwick etwas fragte, war eine Taubstumme. Und ich verstand ihre lauten Gesten. Wir lachten miteinander, und vor den Fenstern das Nieseln, das graue Land vor der Riesenstadt. (London, 26.2.)

Foto: Willy Ronis, „Île-Saint-Denis, 1956“

Obacht

Was mein Nebenmann im Zug liest: „Die Seattle-Studie von der Vergebung“?

Am Morgen im Schneetreiben aufgewacht, Flensburg im Februar.

Dem Teufel geht es immer gut, das ist das Teuflische an ihm. Und daher kann ich der Teufel nicht sein.

„Obacht!“ – so hieß es, als ich ein Junge war, wenn wir mit den Fahrrädern auf die Straße oder, später, an den Bahnübergang kamen, wo der Zug nach Lenggries einmal den Fendt-Trecker des berühmtesten Bauern im Ort samt dessen Sohn plattgefahren hatte. Wie, frage ich mich seither, übersetze ich das: „Obacht!“ – mit „Vorsicht!“ oder mit „Achtung!“ – oder mit „Pass auf!“, „Aufpassen!“? Denn das Erstaunlichste an dem „Obacht!“ ist ja, dass mich der Ausdruck bis heute Tag für Tag begleitet im Wort beobachten. So bin ich ein Be-Obachter geworden. Als Beobachter nähere ich mich vorsichtig, im besten Fall achtsam möglichst vielem und passe auf, worauf ich zugehe. Auf dich. (21.2.)

Was die junge Tochter ihrer Mutter zu deren 50. Geburtstag schreibt: „Glaube an die Liebe. Erinnere dich an die schönen Dinge. Erinnere dich an den Anfang.“

„I repeat the word ,stricken‘ to myself / and stand bareheaded under the banked clouds / edged more and more with brassy thunderlight.“ Seamus Heaney

Und noch einmal Heaney: „The riverbed, dried-up, half-full of leaves. / Us, listening to a river in the trees.“

Wo du Vogel bist

Sonntagmorgen im Wald am Fluss, das irre Vogelgeschwirr und -geflirr. Gezwitscher und Glockenklang. Die Lieder der Vögel eine in die Morgenluft zersprengte Glocke. (Klein Borstel, 15.2.)

Die Zukunft deines eigenen Lebens – es ist nur wenig, was dich abhält, sie wirklich werden zu lassen, damit du nicht im Unwirklichen untergehst. Frag dich, jetzt, in diesem Augenblick, wen du liebst und was dir so viel bedeutet, dass du es ebenso liebst wie dich selbst, deine Kinder, deinen Glauben, die Leute mit ihren Eigenheiten, ihrem Ringen, am Leben zu bleiben, und ihrer Verzweiflung. Da hast du es. Voilà! Und daran halte fest, solange du aufrichtig sein kannst. „Was du innig liebst, ist beständig. Der Rest ist Schlacke“, sagt Pound. „What thou lovest well remains, / the rest is dross / What thou lov’st well shall not be reft from thee / What thou lov’st well is thy true heritage“. Die Musik deines Wesens. Die Luft, in der du Vogel bist. Die Zeit, die dir beschieden ist. Dein Glück. (16.2.)

Wie war es wohl so für Robert Walser, Robert Walser zu sein?

Trotz aller Tristesse! Trotze dem Trübsinn.

Pferd

Durch den Abend getrabt
als mein eigenes Pferd.
Lief am Fluss entlang,
ging auf die Suche
nach dir und fand dich
nirgends als in Gedanken.
Und zwischen Bäumen, da
standen überall Kinder,
die riefen: Pferd!
Pferd! Wir sind
die Schatten
der Wildgänse.

Irdische Augen

Alles diagnostiziert!

„Wird schon, wird schon, wird schon“, sagt die schlechteste, nein die beste Ärztin der Welt.

„Nur weil wir irdische Augen haben, können wir die, die vor uns ins neue Leben geboren werden, nicht sehen.“ Gustav Fechner

„Warum ist der Regen, wenn er vom Himmel fällt, nicht blau?“ Sylvain Tesson

Alles aufgeklärt!

Treppe

Den Main flussab fährt unter dem Holbeinsteg hindurch ein Frachtkahn. Es ist ein eiskalter und windiger, aber schneefreier Wintertag. Nur auf dem Schiff liegt in dicken, vom Wind gefrästen Rippen der weiße Schnee von sonstwo.

Es gibt unvergessliche Treppen. Man kann auf ihnen hinaufsteigen oder hinab, wie Könige. Treppe durch die Zeit! Wenn du jemanden hast, mit dem du auf ihr stehst, halt ihn fest, gleichgültig, was rings geschieht.

„I am half-sick of shadows!“ Tennyson, The Lady of Shalott

Durch den Schneedunst gelaufen – in dieselbe Richtung wie erst zwei, dann sieben große, laut rufende Wildgänse, die in Dachfirsthöhe über mir hinflogen. (6.2.)

Der traurige König von Schweden

Alles notiert!

Wie ein Ja in einem Saal voller Nein.

KönigEine fantastische Szene, der junge Karl XII. von Schweden, „der letzte König der Wikinger“, wie er in Roy Anderssons Film „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ auf einem großen Rappen in ein tristes Göteborger Vorstadtcafé geritten kommt. In der Ferne sieht man Strommaste. Aber vor den Café-Fenstern marschieren gelb-blau berockte Soldaten mit Lanzen vorüber „in die Schlacht mit den Russen“, während der König in dem Café ein Glas Mineralwasser verlangt und von abgrundtiefer und zeitloser Traurigkeit erfüllt ist.

Überhaupt, welche Demenz, die Liebe zu vergessen, sie vergessen zu wollen! Ich weiß es noch, es war einer der wichtigsten Wandsprüche meiner Jugend: LA TRISTESSE SANS LA TENDRESSE

Heute in der Wintersonne über dem Garten, da sah ich – unfassbar, aber dann doch plötzlich gar nicht mehr unglaublich! – einen großen blauen Raben, eine nachtblaue Krähe tauchen in eine Tanne, wo sie im Dunkeln ausruhte und wieder schwarz war. (4.2)

In der Küche wird gekachelt – und überall in der Bude ist der Staub der passend geschnittenen Fliesen. Staub überall! Da erhalten die Dinge ihre Form zurück. Sie stehen in der Welt, aber werden unsichtbarer jeden Tag.

Mitsterne

Noch einmal Novalis, dessen Fragmente unauslotbar tief und schön sind: „Wie wir, schweben die Sterne in abwechselnder Erleuchtung und Verdunklung – aber uns ist, wie ihnen, im Zustand der Verfinsterung doch ein tröstender, hoffnungsvoller Schimmer leuchtender und erleuchteter Mitsterne gegönnt.“ Mitsterne. Gegönnte Mitsterne! Vergleiche das mit dem Mitstern Gryphius, mit dessen „An die Sternen“.

Kerzen für den Dornendocht?

Alles überprüft!

„Review“ heißt das Label der Klamotten, in denen ich am Fluss entlang trabe, und der Slogan dazu: Review loves to dress you. Liebend gern kleidet die Rückschau dich ein.

Ein Wintersonnenuntergang, gelb vor dunkelviolettem Himmelshintergrund wie das Flutlicht über dem abendlichen Sportplatz, als ich ein Junge war. (2.2.)

Heute hat das erste Mädchen, das mich küssen durfte, Geburtstag. Es wird ein halbes Jahrhundert alt.

Alles getestet!

„Von dem negativen Prinzip des Staats (Sicherheit) und dem positiven Prinzip des Staats (Erweiterung oder Sicherheit im höhern Sinn). Beide greifen ineinander ein. / Polizei – und Politik“ Novalis, 1797

Blick der Landschaft

Die Landschaft … „Schwer zu verstehen / ist nämlich die Landschaft, / wenn du im D-Zug von dahin / nach dorthin vorbeifährst, / während sie stumm / dein Verschwinden betrachtet“, schreibt W. G. Sebald, ein Gedicht, entstanden in den frühen Sechzigerjahren, das er an den Anfang des zu Lebzeiten nie veröffentlichten Bandes „Schullatein“ stellt. Das verwirrend spiegelbildliche Verhältnis von Landschaft und Beobachter, von Betrachtetem und Betrachter scheint zurückzugehen auf Sebalds Lektüre der Schriften von Maurice Merleau-Ponty, von dem er, ohne es kenntlich zu machen, später in einem Aufsatz über Gerhard Roth die Aussage übernimmt, „wir“ würden „im Schauen“ spüren, „wie die Dinge uns ansehn, verstehen, daß wir nicht da sind, um das Universum zu durchdringen, sondern um von ihm durchdrungen zu sein.“ … blickt ins Zugfenster Sebald, so hat es auch hier den Anschein, muss das Weltall interviewt haben. Merleau-Ponty beschreibt dagegen schlicht einen Eindruck, der zum Alltag nicht nur des Dichters, sondern eines jeden empfindsamen und mit den eigenen Zweifeln lebenden Menschen gehört. In „L’œil et Jillian Edelstein. W. G. Sebald l’esprit“ heißt es: „Action et passion si peu discernables, qu’on ne sait plus qui voit et qui est vu“ – ein Gedanke, den Sebald in der drei Jahre vor seinem Tod erschienenen Porträtsammlung „Logis in einem Landhaus“ auf das bildnerische Werk Jan Peter Tripps bezieht und dem er auch in seinem einzigen auf Französisch geschriebenen Gedicht Ausdruck gibt: „J’ai senti // certains jours / que c’étaient / les arbres qui / me regardaient“. In der Übersetzung von Juliette Aubert lautet dieses micro poem, das von der lebenslangen Beschäftigung Sebalds mit einer intersubjektiven Poesie erzählt:

Mir schien

an manchen Tagen
die Bäume
waren es
die mich ansahen

Ein Brief aus Venedig

Wo er sei, da sei oben! Er habe sich gut verkauft, sagt der Skisportler noch, bevor er abtransportiert wird und man ihn für immer vergisst.

Hurra! Hurra! In drei Monaten ist Ostern! Hurra! Viva Las Vegas!

Im Schneetreiben die davonstürzenden Vögel wie Flocken.

Am Morgen wurde mir klar: Der Teufel kommuniziert mit den verlorenen Seelen per SMS. Falls er überhaupt kommuniziert.

Der Brief eines älteren Herrn aus Venedig traf heute ein, dezent parfümiert, voller Noblesse und Zurückhaltung.

„Der Baum kann mir zur blühenden Flamme – der Mensch zur sprechenden – das Tier zur wandelnden Flamme werden.“ Novalis

Sophie_Gray O Sophie! Nicht erst seit dem Tod seiner fünfzehnjährigen Verlobten Sophie von Kühn war der Begriff Philosophie für Novalis von zentraler Bedeutung: Hardenberg war Philosoph im romantischen Sinn, war es durch und durch. Eines seiner verblüffendsten Notate aus dem „Blüthenstaub“ könnte ich auch heute Abend in der U-Bahn von einem halbstarken Slammer gehört haben: „Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Phil(osophie).“

Bild: „Portrait of a Girl“, das 1857 gemalte Porträt der Sophia (Sophy) Gray von John Everett Millais

Das Wacholdergewehr

„Das Herz ist der Schlüssel der Welt und des Lebens. Man lebt in diesem hülflosen Zustande, um zu lieben – und anderen verpflichtet zu sein. Durch Unvollkommenheit wird man der Einwirkung anderer fähig – und diese fremde Einwirkung ist der Zweck. In Krankheiten sollen und können uns nur andere helfen. So ist Christus, von diesem Gesichtspunkt aus, allerdings der Schlüssel der Welt.“ Novalis

„Ich warte immer noch auf Ihre Antwort“ heißt eine Spam-Mail, die ich seit Jahren immer wieder erhalte, obwohl (oder weil?) ich nie darauf reagiert habe. Stets von Neuem denke ich nur: Da kannst du (wenn es dich überhaupt gibt) warten bis in 120 Jahren.

„So ist das nun mal im Alter“, sagt in der U-Bahn ein kleines Kind zu seinem Großvater, der es darauf nur stumm anblickt.

Über hundert, wenn nicht 130 Jahre lang lehnte ein Winchester-Repetiergewehr an einem Wacholderbaum im Great Basin-Nationalpark von Nevada. Wacholder, lese ich, wächst langsam. Beinahe reglos aus einer in eine andere Zeit. Und der Winkel in dem Park in Nevada muss sehr einsam gelegen sein. Dennoch war die Welt auch dort dieselbe. Die gesamten - Leben meines Großvaters und seiner Mutter begannen und verstrichen, während das Gewehr bewegungslos an dem Baum lehnte – für unser Auge bewegungslos. Denn langsam ist es in den Boden eingesunken, über ein Jahrhundert hinweg etwa um eine Handbreit. Und es hat sich in sich auch bewegt. Hart ist das Holz eines Gewehrschafts, oft ist er aus Nussholz. Der Nussholzschaft der Wacholderwinchester ist nur noch mürbe, er ist halb zerfallen und zerfressen.
Und wer war er, der das Gewehr an den Baum lehnte seinerzeit? Wieso hat er die Büchse stehen lassen? Da ist vieles möglich, und sicher nur, dass hier ein Gewehr erzählt … schon fühle ich mich gerettet. Es wird noch erzählt. Wir erzählen einander noch! Und die Dinge uns. Von sich. Und wir ihnen? Ja.

Wo du ankommst

North Brother Island Jedes Haus, in das ich zog, fing auf der Stelle an zu verfallen. Ruinen. Ein Leben lang! Von überall, wo ich fest glaubte, angekommen zu sein, trieb es mich weg und weiter, als hätte ich im Innern einen gewaltigen Sturm.
Wie davon einem erzählen, der nicht nur unterwegs sein kann.

Das Adieu, das lange Adieu

„Keine Angst vor der Wahrheit“ lautet der neue Werbeslogan des Nachrichtenmagazins, das mir seit Jahrzehnten Angst einjagt, da diese Leute allen Ernstes zu wissen glauben oder zu wissen vorgeben, was wahr ist und was nicht. Keine Angst vor der Unwahrheit. Keine Angst davor, nicht zu wissen, was die Wahrheit ist!

„… die wechselnden Jahreszeiten, die Flamme des / Herzens in einem Taumel der Liebe, das Rumoren des Vögelchens, welches / in meine Kammer sich verflogen hatte, das Adieu, das lange Adieu / z. B. am Ende, das lange Adieu am Ende unseres Lebens nämlich ,wie / vordem die Birke oder Weide den Blick hielt‘, so Elke Erb“ Friederike Mayröcker

Zwei Eichhörnchen, ein braunes flinkes und ein dunkelgraues vorsichtiges, springen durch die Gartenhecken und in die kahlen Haselwipfel hinauf. Einer wartet auf den anderen, wer schneller ist auf den, der Nachzügler zu sein hat, genauso wie eine Stunde später auf dem S-Bahnsteig eine alte Frau im braunen Mantel auf ihren dunkelgrau eingemummten Mann. (Ohlsdorf, 20.1.)

„Es war noch mitten am Tag, und die Sonne schien, die Sonne des Zeithabens.“ Peter Handke

Nach Novalis ist alle echte Mitteilung „sinnbildsam“. Er fragt: „Sind also nicht Liebkosungen echte Mitteilungen?“ Ich denke an den Vogelflug. Jeder fliegende Vogel ist eine Mitteilung. Bleib unterwegs!

Das Sorry Center

Schön, der Donner, wenn er alle im Zimmer gleichzeitig zusammenzucken lässt und einer dann sagt: „Es donnert!“

Wie Camus richtig bemerkt: Das Wetter ist das, was ein jeder erlebt und was uns alle verbindet. Nur erlebt es jeder unterschiedlich (wie alles andere auch). So mein Bruder, der mir mit einem Mal anvertraut, wie sehr er durch den Schneewald zu rennen liebe, „weil die Schritte dann verstummen“. Wie schwer, von deinen Wetter-, deinen unterschiedlichen und deinen sich unterscheidenden Empfindungen zu erzählen!

Auf die ersten Fingerglieder seiner Rechten hatte mein Anwalt einen Stern, die Mondsichel und noch einmal zwei Sterne tätowiert. Heute ist er gestorben, und ich trauere, ich vermisse Ingo Lill. (13.1.)

„Immer stürzt mir die Zeit zurück“, sagt der Mann neben mir in sein Festhalte- und Gesprächersatzgerät, „und ich finde mich wieder und verliere mich in einer Zeit, als du mich nicht geliebt hast.“ (Im Gnosa, St. Georg, 14.1.)

Letzte Überraschung!

„Da, das Sorry Center!“, sagt das Kind. (Berlin, Potsdamer Platz, 16. Januar)

An die sechseinhalb Millionen Menschen hören in Manila Papst Franziskus sprechen von Gnade und Mitgefühl, „mercy and compassion“.

„Du musst nicht sterben, wenn du spielen kannst.“ Tomas Tranströmer

Selbstporträt als Blässhuhn

Die alte Schlagjeans, ein altes Schlachtschiff.

Durch den vom Himmel stürzenden Regen getrabt, Schwächling! Bah, das ganze apokalyptische schwarze Laub vom Vorjahr, der reinste Blättermorast, ein Schmodder, wie meine Großmutter gesagt hätte, und die einzigen Zuschauer auf den Schlammtribünen längs der Wege sind zwei Blässhühner, armselige Sauriernachfahren und -nachahmer. „Vöschel!“ Blässhuhn Winterlich dürre Biester. Schön aber ist das ganze Wasser überall, Teiche, Seen, Pfützen, alles braun, schwarz, und der Fluss doppelt so breit. Der Himmel ist ein Meer über mir, über Kopf renne ich von Woge zu Wolke.

Als hätte der Sturm eine riesige Baumkrone gesprengt, so fliegt ein Schwarm Stare auf und stürzt über den grauen Januarhimmel weg.

Der ganze Schmerz, der ganze Hass, die ganze Angst, die ganze Gier. Die ganze Zerstörung und Vernichtung im Namen dieses und jenes Gottes. Ich verneige mich vor jedem, der sein Maul hält in einer Unterhaltung über den sogenannten Glauben. Verlass ist nur auf den leeren Himmel: der voller Vögel ist, voller Wolken und Luft zum Atmen. (7. Januar 2015, Paris)

Fuhr in einem geheim gekauften Polizeiwagen mit einer Polizistenuniform in Memphis herum und verteilte lachend Autogrammkarten: Elvis.

„I wonder if I’ll ever wake up
I mean really wake up
wake up and wake you too
first thing I will do“
Bill Callahan

Ich gestehe: Mit dem Blässhuhn kann ich mich voll und ganz identifizieren.

Möglichkeit einer Rettung

Alle wichtigen Dinge entscheide in ihrer Ehe er, sagt der Kunstsammler im gemeinsamen Interview mit seiner Frau, der Kunstsammlerin. „Meine Frau entscheidet lediglich, was wichtig ist und was nicht.“ Gemeinsames Gelächter.

Ein frohes neues Ja! Und ein gesundes, glückliches Nein! (1.1.)

„I’m about to fly” … – bin Schmetterling …

„Nackte Angst, zieh dich an, wir gehen aus.“ Jens Friebe

„Solange man sich jemandem, der einem Sympathie entgegenbringt, mitteilen kann, ist die Möglichkeit einer Rettung immer noch gegeben“, schreibt Tennessee Williams in seinen Memoiren. „Jeden Morgen versuchte ich zu schreiben, doch das erwies sich als ebenso schwierig wie der Versuch, etwas zu sagen.“ – „A Streetcar Named Desire“, „Cat on a Hot Tin Roof“, „Orpheus Descending“, „Sweet Bird of Youth“, „The Case of the Crushed Petunias“, „Suddenly Last Summer“, „Something Unspoken“, „I Rise In Flame, Cried the Phoenix“, „The Eccentricities of a Nightingale“ – wer hätte schönere Titel für seine Bücher oder Stücke erdacht als Tennessee Williams? „Talk to Me Like the Rain“ – nicht, wie in der deutschen Adaption, „Sprich zu mir wie der Regen“, sondern: „Rede mit mir wie der Regen“!

Les enfants qui s’aiment

Das Kind in dem Kalender, der kleine blonde Junge, den ich seit 15 Jahren von Blatt zu Blatt, von selbstgebasteltem Kalender zu Kalender, Jahr für Jahr habe heranwachsen sehen, ohne ihm einmal begegnet zu sein – er studiert jetzt Medizin in Budapest, erzählt mir sein Vater, mein lieber Arzt.

„Eistragfläche“, sagt das Kind und zeigt auf eine überfrorene Pfütze.

Die Familie: die Hungernden.

„… something more than mockery / if only I could fill my heart with love …“ The Cure

Das Wirkliche hat ausgedient, noch ehe es wirklich werden konnte.

Im Freien vor der Fensterscheibe ein Kind, das Gesicht schmerzverkrampft. O wie ich ihm ähnle. Es ihm nachfühle!

Ein Kind geht vorbei und sagt: „Trash and treasure.“

Zwei, die sich verlieben im Heer der Verzweifelten, sind sie noch länger verzweifelt? Waren es so lange. Wie da mit einem Mal Paar sein. Nur zum Heer, zum Heer zählen sie nicht mehr. (28.12.)

In einer Nacht versinken

Sebald: Etwas unausgesprochen Eitles haftet allem an, was es von ihm zu lesen und zu sehen gibt.

Sebalds „Micro poems“ … sind keine Gedichte. Aber sind der Versuch, das Gedicht zu retten. Der misslungen ist. Und misslingen muss.

In einer Nacht versinken, in Gespräch und Gelächter, in Gesichtern und der kühlen Luft, gleichgültig, was der Tag bringen wird (nicht viel) – das ist die gute Schattenseite der Lebensüberhitzung. Bin ich ein Motor? Nee, ich bin Wolfgang Borchert. Die Nacht, „in Hamburg ist sie grau / und hält bei denen, die nicht beten, / im Regen Wacht.“ (St. Pauli, 19.12.)

Löwin! Ich sehe dich lächeln.

Das Umherreisen zu Weihnachten zwischen den einzelnen, vereinzelten Familienscherben – auch bloß der Versuch, das Sterben aufzuhalten.

Der Baumkuchenspitzenvergleich!

Die 15 Kritikpunkte von Papst Franziskus an der Kurie (aber doch nicht nur an der):
– sich für unersetzbar zu halten
– zu hart zu arbeiten
– geistig und im Geiste abzustumpfen
– zu viel zu planen
– wie ein lärmendes Orchester zu sein
– an geistlichem Alzheimer erkrankt zu sein
– sich in Rivalitäten zu verlieren
– an existenzieller Schizophrenie zu leiden
– dem Terror des Geschwätzes zu folgen
– die Vorgesetzten zu verehren
– gleichgültig gegenüber anderen zu sein
– eine Trauermiene aufzusetzen
– immer mehr zu wollen
– geschlossene Zirkel zu bilden
– nach Profit zu streben und damit zu prahlen
(24.12.2014)

Daneben. Drei Zitate

Daneben – das scheint mein bevorzugter Aufenthaltsort zu sein.

„Liebe, wie eine schreiende Blume, Liebe, die jede Stunde stirbt …“ U2

„Resignieren, das heißt nicht, den Humor zu verlieren.“ Christine Nöstlinger

„Die Poesie ist eine mündliche Form der Prägung der Geschichte in Zeitlupe. Die Poesie ist eine Dichtung. Der Lehrer hat uns in der Schule gelehrt, daß Poesie eine Dichtung ist. Die Poesie ist auch eine Abneigung zur Wirklichkeit die schwerer ist als diese. Die Poesie ist eine Übertragung der Obrigkeit zum Schüler. Der Schüler lernt die Poesie, und das ist die Geschichte im Buche. Die Poesie lernt man vom Tiere aus, das sich im Wald befindet. Berühmte Geschichteschreiber sind die Gazellen.“ Ernst Herbeck

Bei den Lebenden und bei den Toten

Kauzaugen1 Der CIA-Folterbericht, von Barack Obama unter Druck publik gemacht – und endend wohlweislich mit Beginn seiner Amtszeit – offenbart Grauen und Gräuel des allein auf Gewalt, längst nicht mehr demokratischen Werten der Verfassung basierenden US-Alleinrechts. Menschenverachtung, Selbstherrlichkeit, dumpfeste Intoleranz, nackte Gier, Verlogenheit und Wissensfanatismus. Ein auf Jahrzehnte nicht wieder gut zu machender Schaden. Was die in Guantánamo, in den eigens dafür eingerichteten Lagern in Polen, Rumänien und anderswo, gleichwo auf der Welt rechtlos festgehaltenen, gefolterten und geschundenen Menschen durchgemacht haben – unermesslich, so abscheulich wie unverzeihlich. Kauzaugen2 Es ist jetzt die letzte Gelegenheit, die Verantwortlichen glaubwürdig dingfest zu machen, jetzt die Bush- und Cheney-Bande und ihre Handlanger endlich vor die Gerichte in Washington oder Den Haag zu bringen. Um Verzeihung bitten sollten nicht sie, sondern wir an ihrer Stelle.

Kauzaugen3 Diese Notizbücher, selbstgeschrieben, selbstgestaltet, selbstbeklebt und -verziert, damit sie selbst erzählen – wie Emily Dickinsons selbstgemachte Gedichtbände, die sie in ihrer Schlafzimmerkommode verwahrte, wo (damit) niemand sie entdeckte. Im Ernst: Sie sind dasselbe. Sie bedeuten das Schreiben (das Überleben).

Kauz Seit zwei Wochen ist es winterlich kalt, und seither ist der Kauz zurück. In der Dunkelheit hört man ihn deutlich vom Friedhof herüber rufen. Woher ist er (zurück-)gekommen, wo warst du, Kauz? Im Westen, im Norden, im Süden, im Osten, bei den Lebenden oder doch schon bei den Toten?

Fotos: Augen von Eulen und Augen von Toten und der Kauz drüben am Friedhof von Owlsdorf

Gendarmenmarkt

Pink Floyds nach zwanzig Jahren erstes Album „The Endless River“ – der endlose Fluss? Oder doch der uferlose, der Fluss ohne Ufer? David Gilmour, der nicht mehr dabei ist, nennt das Album das letzte der Band: „It’s a shame … but this is the end.“

Opel – tot. (5.12.14)

Der rote Kadett

Berlin: Da sitzt du über dem Gendarmenmarkt, frühstückst hinter Glas wie in einem Aquarium, und vorüber in Richtung Unter den Linden fährt langsam ein hellgrüner Doppeldeckerbus mit seinem Obergeschoss genau auf deiner Höhe. Ein vorbeifahrender junger Mann mit fettigem Haar und Parka sieht dir auf den Teller.

Alle Filme von Güte, jeder gute Film lebt vom kindlichen Blick.

PEGIDA – „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“. Der Mob marschiert wieder, begreift noch immer nichts, aber will noch mehr, noch mehr, noch mehr! Habgier und Auslöschung der Anderen, ein und dasselbe. „Prä-intelligente Egomanen grölen im Dunkeln: Adolf! Aldi! Adidas!“ Viva Las Vegas!

Foto: Mein roter Kadett, 1984

Größer und glänzender und weißer

Ende November, ein eisiger Wind kommt aus Russland und Polen zu mir rüber, Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, ich gehe im Morgenfrost auf dem Bahnsteig an drei jungen Typen vorbei, die da rumstehen und rauchen. „You were bigger and brighter and whiter than the snow“, singt Robert Smith von The Cure in irgendeiner Frittenbude, und der eine Junge fragt in dem Moment: „Warum will sie mich nicht mehr sehen, was meint ihr?“ So ein kalter, grauer, sehnsuchtsvoller Morgen. „Wird eben für einen Monat deine miese Visage nicht mehr sehen wollen“, sagt ein anderer, ehe die Drei laut loslachen.

Es ist tatsächlich so, wie Rutger Kopland meinte – ich spüre es jeden Tag –: „Das Verlangen nach einer Zigarette ist das Verlangen selbst“.

Ein wohltuender Ausblick aufs Alter: die Frauenmüdigkeit. Müde der Frauen milde zu altern. Schön wär’s! (Schön war’s.)

Es ist soweit: Wir werden unsere eigenen Puppen. Bei „Saturn“ bieten sie jetzt dreidimensionale Plastikfiguren an, die jeder von sich selbst erstellen kann. 76 Kameras und ein 3-D-Drucker reichen, 300 Euro, und du hältst dich selber in der Hand. „Lass dich drucken!“ Viva Las Vegas!

Er war nicht nur hart im Nehmen, er war auch hart im Geben.

In Keuschheit und Demut

Einmal, erinnere ich mich, ging ich schon sehr früh am Abend in die Musikkneipe, in der ich seinerzeit, vor fast 35 Jahren, mein Leben beschließen wollte und die bezeichnenderweise „In Keuschheit und Demut“ hieß, und um nicht haltlos der an mir nagenden Langeweile ausgesetzt zu sein, nahm ich Hemingways Storys „Männer ohne Frauen“ mit und las darin an einem Tisch, an dem gegenüber zwei ältere, da noch immer junge, heute bestimmt sehr alte Mädchen saßen und, wie mir lange nicht auffallen wollte, mich aufgrund meiner Lektüre schallend auslachten und mit gespielt traurigem Winken, wenn nicht obszönem Tanzen vertrieben. Morawazweifel Ich bin dann am Abend darauf wieder dorthin gegangen, setzte mich, keusch und demütig, wie ich war, an denselben Tisch und las auch wieder, diesmal Hemingways Storys „Der Sieger geht leer aus“, weil mir der Titel zugleich unschuldig, melancholisch, wehrhaft und doppelbödig erschien, und auch die Frauen waren da, aber das Lachen war ihnen vergangen. Und ich? Mir war mindestens ebenso viel vergangen.

Selten durch einen so dichten Nebel gefahren wie vorgestern durch die Suppe bei Hagenow. Eine weiße Weite. Die tiefstehende Sonne eine zerzauste Corona im Dunst. Kräne, Brücken, die ins Nichts zu führen schienen. Überhaupt alles ringsum Schein. (21.11.)

Das Bundesministerium des Erinnerns?

Wie ich die ein halbes Jahrhundert alte Strickjacke ansehe, fällt mir ein, was ich als Junge manchmal dachte, wenn mein Großvater vor mir stand und ich die Leiste seiner Metallknöpfe sah: „Kein Mensch außer ihm hat Markstücke an die Jacke genäht.“

Große Morawa

Wer Handke liest, der weiß: Es gibt ein situatives Lesen, das sich frei von allem, allem theoretischen Eingezwungen-, Zurechtgezwungensein macht – und so auch von Peter Handke, dem Unglücksritter, dem Befreiungsfabulierer, dem Prinzen von Nirgendwo. Hier, mitten in der „Morawischen Nacht“, die ich seit einem Jahr lese: „Jeder ist, wie er ist. Und alle die Schuhbänder, die nicht aufgehen. O Gerumpel der Morgengedanken. Das Singen meiner Mutter hat verhindert, daß ich Sänger wurde. Ich störe, aber ich möchte nicht stören. Den verlegenen Geber liebt Gott noch mehr als den fröhlichen, und den aufgeregten Geber liebt er am meisten. Wie man herumirrt im Universum. Ich liebe zu wenig. Es ist keine Schande, zu atmen. Grün war schon lang nicht mehr. Vor lauter Schauen sehe ich nichts mehr. Eigentlich sollte man öfter sterben. Niemand beherrscht die Welt. Die Sorge, sie ist nicht episch. Wenigstens bin ich allein. Es ist entsetzlich, wie man sich aus den Augen verliert. Alles ist Irrtum. Wörter nehmen, nicht Farben! Nichts ist gesund! Kauf nichts! All die Zeit! Und morgen geht’s weiter …“

Fotos: Westliche und südliche Morawa fließen ineinander: Morawazweifel (1); Die Große Morawa, nicht schiffbar (2)