Schreiben ist gut

Das schöne Wort „notwendig“, kein Synonym, eher die Adverbialform, die handelnde Fortentwicklung von „nötig“: Nötig ist etwas der Not, dem Mangel Geschuldetes, notwendig das, was die Not, das Fehlende umdeutet, es vielleicht um- und zum Guten wendet. Auswendig weiß ich das nach außen gekehrte Verinnerlichte.

Als der Kaufmann Kamaswami in Hesses „Siddharta“ dessen Schreibkünste prüfen will, schreibt der junge Brahmanensohn für ihn: „Schreiben ist gut, Denken ist besser. Klugheit ist gut, Geduld ist besser.“

Was das Gedicht ausmacht, ist nicht das Gedicht, sondern das Schreiben des Gedichts, das Erlebnis des Schreibens dieses Gedichts. Das Miterleben dieses Erlebnisses macht das Gedicht wahrhaftig auch für den Leser. Klopstock, Hölderlin, Trakl, Bobrowski, Bachmann, Celan, Brinkmann, Kling – ihre besten Gedichte erlebst du mit, erlebst du nach, während sie entstanden, während sie entstehen. Sie sind lebendige Überlieferung.

In München, in Schwabing, in der Seidlvilla am Nikolaiplatz, fiel mir, während ich von meinem Roman erzählte, plötzlich wieder ein, wie ich als Fünfjähriger, als Bub, Lesen lernte am Stachus: Die Leuchtreklamen auf den Häuserdächern konnte ich mit einem Mal entziffern, und ich verstand: Magirus! Mercedes! Süddeutsche! Zeitung! Erwachen in der Fremde. (München, 19.3.)

Und das Übersetzen, dachte ich dann: Kommt es bei dir nicht vielleicht doch von deiner seltsamen Zweisprachigkeit? Daheim hatte ich hochdeutsch zu sprechen, in der Schule und auf der Straße, im Dorf, im Wald, auf den Feldern und in den Gärten und den Gefährten hinter den Tankstellen aber redeten wir breit und leidenschaftlich bayrisch. Schee issas. Schee da Woid, schee des Gros. Ich erinnere mich an einen Lageplan unserer Banden, den ich zeichnete und der den Wald zwischen Waakirchen und Schaftlach kennzeichnete mit dem Namen „Woid“. Das klang genauso wie das englische „void“, die Leere. Ich muss, vorm Münchener Hauptbahnhof stehend, nur ein paar Brocken Bayrisch hören – „Mongdratzer“ –, und ich merke, wie in mir die ältesten Übersetzungsübungen meines uralten Kindergemüts wach werden und wieder lebendig.

Kellner, Reisender, Kind

Sprach länger mit dem älteren Speisewagenkellner einer Zeitarbeitfirma für Reisen mit einer historischen Eisenbahn. Von Berlin fährt er einen Tag lang an die Prignitz, steigt dort in seine König-Ludwig-Uniform, bedient einen Tag lang betuchte Dampflokomotivenzugfreunde und fährt dann heim, um auf den nächsten Einsatz zu warten. „Eisenbahnen“, sagt er, „interessieren mich nicht, aber die Landschaften, durch die ich fahre, sind schön.“

„Would you support my eurotrip?“, fragt ein junger Mann mit Rasta-Locken und Bart jeden auf dem Platz, aber niemand, auch ich nicht, unterstützt ihn bei seiner Reise durch Europa. „Verhindert sie!“, scheinen wir zu denken. Verhindern müssen wir die Gleichgültigkeit, wo wir gehen und stehen.

Als das Kind hinunter zum Flussufer geht, wo auf dem Spielplatz die Turngeräte warten, sagt es: „Ich weiß, wo rechts und links ist, seit ich mir den Arm gebrochen habe. Aber du weißt immer, wo Norden ist, Süden, Westen und Osten – woher?“ Ja, woher? „Vielleicht“, sage ich, „weil ich den ganzen Tag darauf achte.“

Die Stille in dir

John Cage wies während der Begutachtung eines angeblich absolut schalltoten Raums darauf hin, dass er zwei Töne höre. Der Tontechniker fragte Cage, ob es ein tiefer und ein hoher Ton seien, und Cage lauschte und bejahte. „Der tiefe ist das Rauschen Ihres Bluts“, sagte der Techniker, „und der hohe ist das Zirkulieren Ihres Nervensystems. Sie hören die Stille in Ihnen.“

Früher war ich noch irgendwo – lief über ein Feld, einen Waldrand entlang, durch den Wald, saß in einem Café, saß da in der Zeit. Heute bin ich nirgends – immer unterwegs von A nach B, und in meinem Fall ist das buchstäblich so. (Leipzig, 15.3.)

Sommersachen

Im vergangenen Sommer, erzählt mir ein Junge, sei ein Marder an der Costa Brava in den Motorblock des VW-Busses gestiegen, mit dem er durch Spanien, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Niedersachsen heim nach Hamburg fuhr, und der Marder sei dort, im Morgengrauen, in einer verschlafenen Winterhuder Straße, hervorgekrochen und davongelaufen, ohne sich umzublicken. (2.3.)

Im März ein Sommer. Der Sommermärz, ein Märzsommer: „Wenn die Forsythien blühen, kommt der Winter nicht wieder.“

Man muss die Sachen lieben.

Auf den größeren freien Wiesen liegt schon das erste Holz für die Osterfeuer. Als ich heute an so einem Haufen aus Wacholder, Ilex, Birke und Kirsche vorbeiging, dachte ich: Wenn ihr nur noch Asche seid, steige ich in den Flieger nach Melbourne.

Psychogeografie

In einem Zeitungsartikel über David Bowies Berliner Jahre spricht der Autor von „Psychogeografie, also Erinnerung“, und mir fliegt vom spitzen Kopf der Hut. Sehr erstaunlich. Seelenerdkunde? Wäre die Rede von Psychohistorie gewesen, hätte ich weniger gestutzt. Das Gemüt in seiner Geschichte: Gedächtnis. Das Gemüt beim Versuch, sein Gedächtnis zu erkunden: Erinnerung. Auch der Begriff „Psychogeografie“ scheint mir ein Hinweis zu sein für die um sich greifenden Versuche, dem Äußerlichkeitszwang nachzukommen: dein Gemüt als Navigationsgerät, Erinnerungs-Navi für dein „Life on Mars“.

Die Fußsohlengesellschaft.
Die Schienbeingesellschaft.
Die Kniescheibengesellschaft.
Die Schambeingesellschaft.
Die Bauchnabelgesellschaft.
Die Lungenflügelgesellschaft.
Die Herzklappengesellschaft.
Die Ellenbogengesellschaft.
Die Gaumensegelgesellschaft.
Die Augenlidergesellschaft.
Die Haarwurzelgesellschaft.
Die Ohrläppchengesellschaft.
Die Oberarmgesellschaft.
Die Fingerkuppengesellschaft.

Hundert Jahre, ein Tag

Ist nicht jeder so eine alte Pracht – und deshalb so verlassen in seiner Geschichte und heruntergekommen, versunken in sich selbst wie das schöne alte einsame Nancy? Nachts auf der leeren und funkelnd erleuchteten Place Stanislas toben ein blondes Mädchen und ein Junge mit langen schwarzen Haaren durchs Dunkel und sind kleine Fürsten in diesen Augenblicken. Eine Frau erzählt, nachdem ihr Mann sie verlassen habe für eine Jüngere, wolle sie endlich ein Buch über ihre Familie schreiben, seit vier Generationen Konditoren. Ich erkenne vieles wieder hier, auch wenn ich niemanden hier kenne. Aber wo kennst du schon jemanden. Alain-Fournier wird oft durch die Straßen gegangen sein, hindurch unter den Wasserspeiern des Palais du Duc. Hundert Jahre, ein Tag. Ich grüße Dich von Herzen, lieber Freund, liebe Freundin im Jahr 2114: Er war schön, der heutige Tag. Im Café Excelsior schienen alle noch zu sitzen und zu plaudern, die je hier waren. Unsere Unterhaltung ein Raunen – es gibt Räume, in denen sind nicht die Toten die Gespenster, sondern du und ich. (Nancy, 25.2.)

Nordbahnhof, Ostbahnhof

So zugewandt und gegenüber allem offen die Pariser, auch die Deutschen in Paris sind, so vergeblich und zu nichts nutze muss das erscheinen, was du ihnen zeigst, was du dich darzustellen erdreistest. (Trocadéro, 24.2.)

Im Sommer 1982, der Nachtzug, den ich in Köln nahm und der über Mons bis Paris fuhr, endete er wirklich, wie ich im Roman schrieb, weil das mein Glaube war, am Gare de l’Est? Glaubhaft versicherten mir jetzt schon einige, auch seinerzeit endete der Nachtzug aus Köln am Gare du Nord. Gab es dort damals vielleicht Bauarbeiten? Heute in und vor beiden keinen Kilometer voneinander entfernten Bahnhöfen gewesen – erinnerte mich weder an den einen noch den anderen. Die Eiffelturmbesichtigung, ein Café an der Seine, eine Métrotreppe, dann die Satellitenstadthochhäuser von Plaisir – c’est tout. Nordbahnhof, Ostbahnhof, an einem von beiden kam ich vor 32 Jahren frühmorgens in Paris an. Die Erinnerung muss sich gabeln, zwei Möglichkeiten muss sie wachhalten und damit sich selber lebendig. (Montmartre, 26.2.)

Ein Kind

„Heute ist der erste Tag der Tage, die dir zu leben bleiben.“ Jörg Steiner, „Schnee bis in die Niederungen“

Drüben im Nachbarhaus klingt eine Bohrmaschine wie ein kreischendes Kind. Ist es eine Bohrmaschine? Ein Kind wird durch die Wand gedrillt.

Wegweiser und Verheerung

Gib dich nicht (länger) dem Irrglauben hin, Schreiben, Lesen, Erzählen und Erzähltbekommen würden den Leuten nichts (mehr) bedeuten. In den hintersten Winkeln, auf dem plattesten Land, wo das Meer lauert, ob das aus Wasser oder das aus Schnee – sie kommen doch zusammen, hören zu, besinnen sich und fangen selber an zu schildern. Es gibt die Verheerungen des Stumpfsinns, allenthalben, manifest werden sie aber erst durch die Unfähigkeit, die anderen für fähig zu halten: fähig zu allem Möglichen. (Wilster, 18.2.)

Wegweiser, mitten in der Stadt: Landesamt für Landwirtschaft und ländliche Räume. (Flensburg, 19.2.)

Inbild, Sinnbild

„… sich das Leben genommen“ – zum ersten Mal geht dir auf, dass hiermit gar nicht der mutwillige oder freiwillige Abbruch der eigenen Lebendigkeit gemeint ist. Der sich das Leben nimmt, beendet nicht, was war, sondern beschließt den Austritt aus aller bestehenden und künftigen Möglichkeit. Sich das Leben zu nehmen heißt (soll heißen), sich aller Erdenklichkeit zu berauben. Sich umbringen: sich um alles Mögliche bringen. (14.2.)

Autowracks auf freiem Feld: Inbild, Sinnbild für deine Erinnerungen

Sah gestern und sah heute je einem Eichhörnchen zu, in zwei weit voneinander entfernten Baumgärten. Beide Tiere auf der Suche, beide braun, das eine, heute, jedoch mit grauer Brust, grauem Bauch. Das gestrige breitbeinig davonhoppelnd, Kaninchen mit Schweif, das heute flinker, vogelverwandt vielleicht, springend von Busch zu Baum. Ihre Klopf-, ihre Nagegeräusche! Die wachen, zugleich versonnen scheinenden Blicke-in-die-Runde. Das jähe Auftauchen, wie aus dem Nichts materialisiertes Eichhörnchen, dann verblüffend langes Bleiben, jähes Verschwinden, wie Eichhörnchen, plötzlich weg. Das schöne Rotbraun: Bäume, auf die Abendsonne fällt. (17.2.)

Lautsprecher

Müsste ich mich entscheiden zwischen Weiterschreiben und Weiterstaunen, ich würde nicht zögern. Oder doch: Zögern ist ja Staunen, wenn auch nach innen. (7.2.)

„Die Erdfortziehungskraft“ Martin Piekar

„Hast du Lust, dir meine ferngesteuerte Schlange anzusehen?“, fragt ein kleiner Junge aus der dritten Klasse. Ein junger Student an der Technischen Universität ist dabei, als dort ein Roboter von der Größe eines Kindes getestet wird. Der junge Mann erzählt, er habe das nicht zu unterdrückende Bedürfnis verspürt, den Roboter zu begrüßen, als er vor ihm stand, ihm die Hand zu geben oder wenigstens zuzunicken. (10.2.)

„Es ist keine Schande, am Zeitgeist zu scheitern.“ Anna Mitgutsch

Über den morgendlichen Bahnsteig hallt deutlich die Lautsprecheransage: „Einfährt der Intercity nach Australien.“

Aufkleber

„Ich lebe, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir“ steht auf dem Aufkleber, mit dem ein junger Mann seinen Laptop versehen hat. Ist damit der Computer gemeint? Armer Irrer, wenn nicht.

Als junge Frau habe sich ihre Tochter, eine Konzertpianistin, das Leben genommen, erzählt die Dame, und ihre Augen lächeln, als sie fragt: „Sie kennen Schuberts Streichquintett in C-Dur nicht? Oh, da beneide ich Sie, das noch entdecken zu können. Schuberts Streichquintett in C-Dur, wissen Sie, es gibt nur weniges, das schöner ist auf der Welt.“

„Auch die Hellseher tappen im Dunkeln.“ Volker Schlöndorff

Das Gespenst Verehrung

An einem Ort, in einem Raum zu lesen, wo auch Améry, Celan, Bachmann und viele mehr lasen, deren Bücher und Leben mich schon lange begleiten – Ehrfurcht überfällt mich, ein den Brustkorb einschnürendes Glücksgefühl: das noch immer durch und durch berechtigte Zurückschrecken vor dem Gespenst Verehrung. (Frankfurt-Seckbach, Buchhändlerschule, 3.2.)

Die Schillerparfümerie!

Das verbretterte „Karussell am Schlüsselesee“, der Eiskeller, die Orangerie, das nachgebaute, halb verfallene Aquädukt, nachgebaut in seinem Verfall, die Porzellanmanufaktur, die Großvoliere, in der ein einzelner trauriger Storch umherstakst – das riesige Schloss ist nur eine steinerne Puppenstube. (Ludwigsburg, 4.2.)

Eine Übereinandersetzung

Das Palimpsestartige an einer Neuübersetzung wie der von Stevensons „Jekyll and Hyde“: Ich stehe im ständigen Austausch mit Thesing, Rambach, Mummendey, Draber, Breitkreutz und namenlosen anderen Übersetzern, aber auch mit Nabokov, der die Novelle auf eigene Weise deutet. Weit davon entfernt, das Original tatsächlich zu übersetzen, d. h. in Korrespondenz zu treten allein mit Robert Louis Stevensons Text, wird aus der Übertragung eine Übereinandersetzung. Wie Gespenster geistern die früheren, teils 90 Jahre alte Sätze und Ansätze durch die Zeilen. Und seltsam: Schreibst du nicht immer so? Buuuh! Wer schriebe anders? (30.1.)

Ein Sehfehler

Mitunter möchte ich einfach schreien: Hilfe! Hilfe!! Hilfe!!! Aber wer soll da kommen. Du?

Über den Garten fliegen tausende Schneekristalle, funkelndes Blinken und mitten am Tag, ein Sehfehler, dachte ich erst, eine Irisirritation. Aber es war nur der Tanz eines winzigen Firmaments.

Das schönste Geschenk, das sie von ihrem Sohn je erhalten habe, sagt die Mutter, sei eine Salatschleuder aus durchsichtigem Plastik. „Und du“, fragt die Freundin sie, „was ist das Schönste, das du deinem Sohn geschenkt hast (diesem Nichtsnutz)?“ — „Sein Leben?“

Zug, Zug, Zug, Zug, Zug

Nachts stand ein Schimmel vor dem Rathaus des Städtchens und sah mir zu, wie ich am Hotelzimmerfenster rauchte. Kurz vor Tagesanbruch, als ich das nächste Mal hinausblickte, war das Pferd verschwunden. Man hörte ein fernes Klopfen, aber keinen Menschen. Vom Ziffernblatt des Kirchturms lösten sich die Zeiger und krochen das Mauerwerk hinunter, um am Brunnen auf dem Marktplatz zu saufen. (Rietberg, 23.1.)

Ein Gabelflug?

Wie im Mutterleib, die Behaglichkeit, die gedämpfte Stille, das wie von fern ins Ohr dringende Raunen der dich festhalten wollenden Musik, und alles im Grunde Schiffsinneres, denn draußen ist das Meer, die endlos offene See – auch wenn vis-à-vis nur das Theater steht, wo hinter den Fenstern unterm Dach Sekretärinnen Bühnenverträge aufsetzen. (Grandhotel Duisburger Hof, 24.1.)

Nach Mitternacht bei minus zehn Grad allein auf einem Bahnsteig in Uelzen. Aus dem Dunkel der Frostnacht rast ein Güterzug heran, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, Zug, vierzig oder fünfzig korrodierte Waggons voller Kohle oder Schotter jagen vorüber und verschwinden in der Nacht, und kaum tritt wieder Stille ein, Unbewegtheit, starrst du auf das Gleis und ringst eine grenzenlose Traurigkeit nieder.

In der abgebauten Welt

Der junge Friseur, Deutschtürke, raspelt mir Bayerndeutschem 15 Jahre vom Kopf, bis ich in den Spiegel lächle und er mir in mein altes Jungsgesicht. Während sein Cousin im Blaumann auf der Leiter steht und die Salondecke verspachtelt. Ich auch, bitte verspachteln. (Dortmund-Hörde, 22.1.)

In der Dunkelheit am Phoenixsee. Wo das schwarze Wasser funkelt und die Jogger joggen, stand vor 15 Jahren noch das riesige Stahlwerk von Hoesch. Binnen einer Woche zerlegten es die Chinesen in Teile und transportierten es ab. Das Hörder Stahlwerk steht heute in China, aber irgendwie, nicht nur in der Erinnerung, ist sein Schatten, das rote Glühen am Nachthimmel, sind die ewig qualmenden Schlote, das Stampfen, Klingeln, Schlagen, die Züge voller Feuer, wie sie mitten durch die Stadt rollten, immer noch da. Nicht in der abgebauten Welt, aber in der reichen jenseits von allem und zugleich mitten unter uns.

Kahles denken

An der Bahnsteigkante hochgewirbelter Müll, als ein Schnellzug durchfährt – Bild für die Erinnerungen. Nur was fährt durch, und wo?

„Lovers alone wear sunlight.“ E. E. Cummings

In tiefer Nebelnacht aufgewacht, stehst du hoch droben in deinem Hotelturm und siehst unter dir, mit Nachtvogelaugen, den leeren, hell erleuchteten Bochumer Hauptbahnhof liegen. JESUS CHRIST SUPER, riesige hellblaue Leuchtbuchstaben an einer Fassade in der dunklen Ferne, das Einzige, was es zu lesen gibt. (Bochum, 21.1.)

Kleider aus Sonnenlicht hat nur wer liebt.

In Bochum Herbst, in Dortmund Winter. Dazwischen die grauen Felder, Nebel, kahle Bäume. Kahles Denken. Kahles denken?

Die unerfüllte Hast

Was kann es sein, das dem Wolf der Wall Street in seinem Leben fehlt? In Martin Scorseses Film hat der Broker Jordan Belfort so viel Geld, dass er nicht weiß, wie es ausgeben, er nimmt alle erdenklichen Drogen, hat Sex mit wem er will, hat aber ebenso Freunde, eine Familie, Kinder und Eltern, sogar eine Aufgabe, wenn nicht Mission: Geld zu machen und allen in seinem Umfeld dasselbe zu ermöglichen. Was fehlt ihm? Als unglücklich schildert ihn Scorsese nicht – doch Leonardo DiCaprio gelingt es, die unerfüllte Hast, die Rastlosigkeit, das nackte Jagen nach Lust und nach Bestätigung als zermürbenden Mangel darzustellen. Solidarität, Maß, Liebe, Innigkeit, Aufrichtigkeit, Überlieferung, Gottvertrauen, Glaube – wirklich? Mangel erst, Verzichten und Sichbescheiden, lässt Wirklichkeit zu? (18.1.)

Was ich Arno Schmidt immer schon gern gesagt hätte: Die Welt der Kunst & Fantasie is a nightmare, the rest ist das Wahre.

Wie dir dann doch immer wieder die Gedichte zu Hilfe eilen – nicht deine eigenen (die Stubenhocker, die Schlafmützen), sondern die der anderen, die unten am Feuer sitzen, rauchen, reden, lachen und Rachmaninow hören, um dann rauszurennen, wie Katzen, in die neblige Januarnacht und im Garagenhof Fußball spielen, night soccer, angeschickerte, aufs Spielen Versessene, die ein Loch schießen ins Treibhausglas des ganzen Gefasels. Während du oben am Fenster stehst und nicht mal Orion dich rührt. „Und es ist eben dies kein Sarkasmus.“ (Elke Erb)

Der Reiher und der Löwe

Fregattvogel, verirrt aus der warmen Thermik über Rio in den kalten Januar: Mit seinen langen Beinen kreist ein Reiher durch die graue Luft über dem Haus.

Vom Grab des Hamburger Tierparkgründers Carl Hagenbeck haben Unbekannte den lebensgroßen schlafenden Bronzelöwen gestohlen. Inzwischen ist die Plastik bestimmt zersägt und eingeschmolzen. In der spinnerten Vorstellung des Dichters – ach Traumtänzer – kann der Löwe aber auch aufgewacht, von seinem Sockel gesprungen und davongelaufen sein, nachts durch Ohlsdorf streifender, hungrig Joggern auflauernder Bronzelöwe. Und ist so auch Bild für die Poesie selbst, schlafende Bronzedichtung, Figur auf dem Friedhof, lebendig und tot zugleich – Erinnerung. (15.1.)

Hannover

Und dann mit einem Mal (und vielen schönen Makeln) ein vertrautes Gesicht, seit 35 Jahren unvergessen.

Dieses sich mehr und mehr verdichtende Gefühl von Verlorenheit während einer Woche auf Lesereisen – du bist nicht verloren, nirgends. Da sind ja überall freundliche Leute, Geschichten, erstaunliche Dinge. Dennoch kommst du dir Stück für Stück abhanden. Was dem entgegensetzen? Lesen. Liebe Wörter. (Hannover, 9.1.)

„Du weißt, was dich in Leer erwartet?“

Lüneburg

Meine Literatur sei stark philosophisch, sagen mir Studentinnen und ihr Professor. Strenggenommen sei ich ein Konstruktivist: Meine Welt, das Denken und Sprechen meiner Figuren gründe auf Konzepten, sei dichterisches Konstrukt. Ich erwidere, dass mein einziges mir bewusstes Konzept der Zweifel sei. Doch das stimmt so nicht. Das Gespräch ist mein Gebäude, und seine Mauern sind aus Zweifeln.

Beim Anblick des im abendlichen Nieseln daliegenden Bahnhofsvorplatzes vermisse ich etwas – und weiß wieder, als ich den mit jungen Bäumen bepflanzten, mit Fahrradständern und Rollstuhlrampen versehenen Platz überquere, wie es sich anfühlte und wie es klang, wenn ich vor 22 Jahren in einer Januarnacht hier die Taxe startete und der Daimler mit leisem Quietschen über das Kopfsteinpflaster glitt. (Lüneburg, 8.1.)

Lüneburg, die frühen Morgenstunden, the small hours, Nicolas Born, der auf den ersten D-Zug wartet und über die Viertelstunde in der Wartehalle und im gerade geöffneten Bahnhofsrestaurant voll kaltem Rauch ein Gedicht im Kopf skizziert. Born glaubte noch an das Gedicht, dessen Offenheit und Dauern. Als ich 1994 Lüneburg verließ, glaubte auch ich noch, zumindest eine Brücke und wenn nur eine zurück durch die Zeit könnte mein Gedicht sein.

Rostock

Begrüßungstafel am Rostocker Hauptbahnhof: „Wissen Sie eigentlich, wo Sie sind?“ – Nein, weiß ich nicht. Hab ich noch nie gewusst, nirgends. Aber danke für die Frage.

Hoch oben im Turmhelm der St. Petri-Kirche erzählt ein alter Herr, geboren 1935, von der Bombardierung Rostocks. Die Stadt als leuchtende Fackel in der Nacht. Das Schlagen im Erdboden bei kilometerweit entfernten Detonationen. Seine greisen Augen sind einwärtsgekehrt, und trotz seines Barts wirkt er wie ein kleiner Junge.

„Rostocker Verse“, fällt mir oben in dem Turm plötzlich wieder ein, sollte 1988 eine meiner ersten Gedichtsammlungen heißen – warum?

Das Ticken der uralten Weltuhr, der Andrang gedämpfter Geräusche und Klänge von drinnen und draußen, fast ein Geklopf, die Bilder, die Musik, der feuchte Stein- und Zeitgeruch. Walter Kempowski nennt die St. Marienkirche den Uterus, aus dem er komme. (Rostock, 7.1.)

Bad Kleinen

Vormittags stehe ich auf dem Bahnsteig des tristen Kleinstadtbahnhofs, ein Ort, an dem ich nie zuvor war, der aber seit Wolfgang Grams‘ Erschießung meine Fantasie, mein Einbildungs-, Einfühlungsvermögen beschäftigt. Es war ein Frühsommertag, der 27. Juni 1993. An den Gleisen erschossen wurde zunächst der GSG-9-Beamte Michael Newrzella, er war 26, so alt wie ich seinerzeit. Nichts erstaunt mich an den Gleisen, herumstehenden Loks und alten Waggons, dem rissig gewordenen Mauerwerk der Unterführung, den Silos dort hinten, wo das Städtchen anfängt oder aufhört. Natürlich, keine Gedenktafel, Plakette, keine Blumen, kein Kreuz, ich habe nichts gesehen. Maßlos verblüfft aber bin ich von dem Ausblick (kein Foto oder Film, kein Fernsehbericht damals gab ihn wieder): Der Bahnhof von Bad Kleinen steht unmittelbar am Ufer des Schweriner Sees, eine riesige silberne Fläche leuchtet auf und blendet in der Sonne, Röhricht, kahle schwarze Birkensilhouetten, ein guter letzter Anblick.

Lübeck

Immer wieder, nach langer Pause, gut – von großer Güte: Härtling zu lesen. So schreibt er in seiner Zeichnernovelle über den Nazarener Carl Philipp Fohr, bisher sei es Fohr noch nicht gelungen, in ein Bild hineinzugehen. „Das Fräulein suchte eine Zeit lang seine Nähe. Und er übte sich in Unsichtbarkeit.“ Das Süße. Das Zaudern. Die Saumseligkeit und das Zaghafte. Bei Peter Härtling kann man davon noch lesen. Wie gut. Von Güte.

An einem Mittwochmorgen tritt aus deinem Dorothea-Schlözer-Zimmer im Altstadthotel auf eine der Gassen, die hinunterführen zur Trave. Stumm und verlangsamt queren vereinzelte Leute auf dem Weg zur Arbeit die Straße. Kopfsteinpflaster. In Lübeck ist man pünktlich. Der frühe Januar wie ein März. Das Herz eine Handelskammer. Warum gibt es keine Pferdefuhrwerke mehr. Kein Mann ist hiergeblieben. Der Himmel mit niedriger Decke. Die backsteinerne Luft. (Lübeck, 7.1.)

Bremen

„Grün wie die Kirschen“, sagt die Taxifahrerin, als sie bei Rot über die Ampel fährt, um mich hinunter zum Osterdeich zu bringen. Im Dunkel der Nacht scheint das Weserstadion in der Flussmitte zu schwimmen. Etwas weiter nördlich Lichter am anderen Ufer, das Café Sand. Vor zehn Jahren setzte ich dort mit den Kindern über den Strom. Wieder so ein heller Sommertag, 25 Jahre nach den Nachmittagen an der Oldenburger Hunte. Die Kinder spielten unter den Obstbäumen. Und werden für mich immer dort spielen. (Bremen, 6.1.)

„Wer sich allerdings näher mit Hyde befasst, wird feststellen, dass entsetzt und dennoch beherrschend ein Rest Jekyll über ihm schwebt, eine Art Rauchring oder Glorienschein, als wäre dieses schwarze konzentrierte Böse aus dem übrigen Ring des Guten herausgefallen, wobei dieser Ring des Guten jedoch bestehen blieb: Hyde möchte wieder Jekyll werden. Das ist der springende Punkt.“ Vladimir Nabokov über Robert Louis Stevensons Novelle

Oldenburg

In Oldenburg in Oldenburg, wo ich heute las, und zwar aus einem Roman, in dem meinem im Juni 1944 mit 19 Jahren getöteten Großonkel, dem Lieblingsbruder meiner Großmutter, eine wichtige Rolle zukommt, in Oldenburg in Oldenburg, das stand mir heute seit langer Zeit wieder deutlich vor Augen, war ich Ende der Siebzigerjahre einige Male mit meiner Großmutter bei ihrem ältesten Bruder zu Gast. Schon damals sehr alt, bewohnte er ein Haus mit großem Garten, der sich bis hinunter zum Ufer der Hunte erstreckte. Sommererinnerungen. Das goldene Flimmern auf dem Gras, das hellbraune Wasser des durch die Wiesen schießenden Flusses. Ein Ruderboot an einem zum Grundstück gehörenden Steg. Und mein Bruder und ich, dreizehn, vierzehn Jahre alte Hemden, wie wir in die Hunte sprangen, ganz und gar furchtlos vermeintlich, gemeinsam mit anderen Kindern, Jungs und Mädchen, aus Oldenburg in Oldenburg, von denen mir nichts in Erinnerung blieb als ihre Gegenwart und ihr Jubeln. Schwimmen in der Hunte, sagte man heute zu mir, das müsse sehr, sehr lang her sein – verloren wie alle Tage und doch absolut wahr, besinnungslos machend und Furcht einflößend war die Kraft des Flusses, der mich davonzog, sodass ich minutenlang durch die Wiesen schoss und wie im Rausch der Angst standzuhalten versuchte. (Oldenburg, 5.1.2014)

Die Geschichte des lebendigen Menschen

Warum du deinem Gedicht nun kaum noch traust, beschreibt Lars Gustafsson schon Anfang der Siebziger Jahre in seinem Essayroman „Herr Gustafsson persönlich“, aus dem Schwedischen übersetzt von Verena Reichel: „… als könnte die Lyrik nicht mehr selbstverständlich einen Platz in der Welt beanspruchen“, nennt Gustafsson einen Zustand, in dem er sich mit fast physischem Schmerz an alles erinnert, was ihn die eigene Lyrik einmal gekostet hatte, „wie ich langsam, langsam versucht hatte, sie das Sprechen zu lehren, wie ich sie zu lehren versucht hatte, einen Zustand festzuhalten, eine Unruhe, ein Glück, eine Trauer, weil diese festgehaltenen Zustände auf eine erschreckende Weise das letzte waren, was mich mit mir selbst und mich selbst mit der Geschichte verband, mit der Geschichte des lebendigen Menschen, des kommenden Menschen. – Und wie zuletzt, als sie sprechen konnte, niemand zugehört hatte. Und hatte ich ihr etwa selbst zugehört?“

Ein schwarzer Zug donnert vorbei. Spürst du das Feuer?

Wo wir es finden.

Heute ist Helga M. Novak gestorben. (24.12.2013)

„Looking out a window that isn’t there
Looking at the carpet and the chairs“
Bill Callahan

„Ich sehe was, das du nicht siehst, und das sehe ich eigentlich genauso wenig.“

Auf Madeira (5)

Das afrikanische Licht, das jede Nacht über die See bis nach Madeira leuchtet: Durchs Fernglas betrachtet ist es ein achtzig Seemeilen entfernter Häuserblock irgendwo an der Küste, vielleicht Marokko, oder auch Lanzarote. Mitunter löscht die Dünung das Licht. Mitunter stelle ich mir Kinder vor, die da in der linden Seeluft am Strand spielen. Oder ein Hund steht in der Dunkelheit auf dem Sand und wittert die Leere.

Über zweihundert Meter fährt der Klippenlift hinunter zu Mango-, Papaya- und Avocadobäumen, zu Bananen, Strelitzien, Surinamkirschen, auf die die Gischt der Brandung Salzwasser sprüht. „Insel auf der Insel“ nennt sich das von Jesuiten angelegte Fajá dos Padres, ein Obstgarten am Meer. (22.12.)

Mein Wein kommt aus dem Dão; dem Tag.

Auf Madeira (4)

Esskastanien- und Eukalyptusbäume. Mit dem Wind von Norden wehen Wolken heran und spülen die Hänge hinauf, wälzen sich hinüber, ziehen hinaus auf See. Dunkelblau in der Ferne ein schmaler Streifen: Land in Sicht.

Die Alte im Obergeschoss vertreibt den Betrunkenen auf der Straße – in der Linken hat er eine Flasche, in der Rechten eine Sichel – mit zwei Eimern Wasser, unter deren herabrauschenden Ladungen er sich krümmt und fluchend davonmacht. (Fontes, 19.12.)

Im Laub der Árvores do fogo, der Flammenbäume über dem Mercado dos Lavradores, sitzen die Trichterspinnen und warten auf Kundschaft.

Als würden zu jeder Zeit hunderte Türen auf- und wieder zugehen, so knarren und quietschen die sich im Wind aneinander reibenden Stämme der Eukalyptuswälder oberhalb von São Vicente. Und sie gehen ja auf, die Eukalyptustüren, in jedem Augenblick, und im nächsten schließen sie sich wieder. (Encumeada, 21.12.)

Levada: die Bewässerin.