Schuhsuppe

„4 Tage reichen. Es war unvergesslich.“ Wandspruch

Eine alte Frau an der Supermarktkasse lässt eine Schale Blaubeeren fallen. Die Beeren springen auf und nieder und rollen in alle Richtungen davon, während Frau und Kassiererin dem zerspringenden blauen Schauspiel regungslos zusehen. „Ihr macht mich hilflos“, sagt die Alte zu den Beeren.

Ja, manchmal kann ich Gedanken lesen, manchmal sogar meine eigenen.

Die Seidenakazie – streich durch die Blätterfächer über dir im hellgrünen Licht, und du streichelst ein Tier, das im Wind steht und Baum zu sein hat. Die Fächer der Akazie erzählen von ihrem Geschlecht, dem Haus Akazie und dessen Geschichte und Geschichten. (Aboretum Ellerhoop, 5.7.)

„Da stehen Sie ganz allein vor der Suppe“, sagt die wie aus dem Nichts materialisiert plötzlich auftauchende Schuhverkäuferin zu mir, weil ich Schuhe kaufen will und vor dem Schuhregal stehe. – „Sie meinen, vor der Schuhsuppe?“ – „Ja!“, lacht sie. „Auslöffeln! Die Schuhsuppe!“

Klappentext

Frankfurt, Münchener Straße. Alles unter einem Dach: Buchhandlung, Verlag, Bestattungen, Versicherungen, Veranstaltungen, Reisen. Mein Geschäft! (27.6.)

Besonders sonderbares, seltsam wundersames Buch, Michael Donhausers „Variationen in Prosa Variationen im März“. Noch nirgends sonst habe ich einen Klappentext gelesen, der beinahe augenblicklich selber Prosagedicht wird und so zur klingenden Einladung und Begrüßung: „Variierend, das heißt auch schillernd oder in sich von sich abweichend und abweichend so von allem Eigenen wie Anderen, denn was weicht, ist nicht oder entweicht der Fassbarkeit als Dieses oder Fremdes und bleibt, bleibt in sich außer sich, da es zu sich nicht findet außer in der Bewegung, der wechselnden wie von Blättern, als wären Blätter es, die blieben, selbst sinkend, und alles Variieren so ein Verlieren, doch zögernd zwischen einem Noch und einem Nicht und einem Dann und einem Schon, dass hörte, was da hört, als ein Schimmern in Silben ein Sagen ohnegleichen.“

„Innehalten, das zugleich ein atemanhaltendes Hinausschauen war.“ Peter Handke

Mit dem gleichen Blick, der gleichen Miene, mit der er aus dem Fenster sah, las er Zeitung, las er in der Zeitung nach.

„Filmstar werden! In Ihrer Buchhandlung vor Ort.“

Verbeugung vor einer Tasse

„… und da bin ich in das Buch eingestiegen“ – an der Buchhaltestelle? Und wohin fuhr das Buch denn? Was hast du gesehen, wenn du mal rausgeguckt hast aus dem Buch? War es teuer, mit dem Buch unterwegs zu sein? Warst du allein in dem Buch, oder waren da andere wie du, oder sogar viele? Und wann bist du ausgestiegen?

Auf dem Waschbeckenrand, die blassrote Seifenschale mit Henkel, auf einmal sehe ich, das ist meine alte Taxifahrerkaffeetasse, fünf Jahre lang, vor zwanzig zuletzt, trank ich daraus meine immer abgestandene, immer lauere und kühlere Nachtschichtkaffeeplörre. Jeden Kilometer hat sie mitgemacht, 250 Lüneburger Wochenendnächte. Hier steht sie jetzt, Seifenschale aus Plastik, praktisch, weil unzerbrechlich, leicht zu säubern (weiß ich). Ich spüre sie an den Lippen, in der Hand, an den Fingerkuppen. Und sehe es noch leicht schwappen auf ihrem Grund, in einer dunklen Straße vor einem dunklen Zaun.

Im Zug erzählt eine Frau, die starkes Nasenbluten hat, ihrer Sitznachbarin, dass es ihr so ergehe, seit sie ein Mädchen war. „Es stürzt mir aus dem Kopf, unerfindlich, warum, nicht aufzuhalten.“ Sie habe sich daran gewöhnt. Es sei ein Teil von ihr. „Das rote Innenleben, das alle sehen können.“ Sie ist blass. Ihre Augen glänzen. (Hannover, 25.6.)

„Es war eine wilde Trauer; ein Widerstand, wo jeder Widerstand zwecklos war, und umso unbedingter.“ Peter Handke

Endstation Robinson

Die beiden symmetrischen, sichtbar synchron entstandenen kreisrunden blauen Flecken auf den Oberarmen der jungen Frau in der Métro kenne ich genau: Die hatte ich jahrelang selber. Einer hält dich dort fest und drückt mit seinen Daumenkuppen zu, so kräftig er oder sie kann, rechts und links gleichzeitig. Damit du nicht wegkommst.

Im Labyrinth der Métrostationen ein Andrang, der einen um den Verstand bringt, wenn man nicht jede zweite Sekunde zu Boden blickt. Schreiende Werbung überall, in der die Bilder verbraucht werden. Kauf mich! Kauf mich! Überall, überall. Erbarmen! Zwei ältere Damen halfen dem Kind und mir, den Weg zu finden, eine erbarmte sich an der Bastille, eine andere an der Gare du Nord. Kilometerlange Schlangen vor allem, sobald es mit dem schmalsten Namen werben kann. Vier Stunden Wartezeit mittags vor den Katakomben. Der Eiffelturm eingekesselt. Das Lächeln der Mona Lisa so wie dein eigenes, das aber ohne Bestand ist: hinter Panzerglas und zwanzig Reihen Touristen, die sich nicht Leonardos Gemälde angucken, sondern Fotos machen, um ja keine Anwesenheit mit Sinn zu füllen. Montmartre, eine einzige Marter. Alls wäre das ganze Viertel abgetragen, Stein für Stein nach China verfrachtet und dort wieder aufgebaut worden. Foto, Foto, Foto. Bildermüll, Bildermüll. Müll in jedem Winkel. Gestank im Supermarkt. Unfassbar Fassade – wir verfallen bombastisch. Endstation Robinson. Und der allgemeine Wucher hält den Rest draußen: Sollen sie doch verkommen in Montreuil. (Paris, Marais, 22.6.)

Schund und Schande

Prachtvoller Tag (Tag voller Pracht): Sah am Kreisel oben im Dorf ein jugendliches Liebespaar, rot, steif, unschuldig, unbeweglich, wie zwei junge Kraniche. Hörte unentwegt Musik, Musik, Musik. Blickte Tauben nach, die aufstoben aus einer junigrünen Baumkrone. Dachte zurück, vergeblich, aber immerhin, an den Sommer 1981, den einen Kuss in ein bemaltes Gesicht, der alle die Jahre angedauert hat. (17.6.)

„Wer kann der Jugend schon ins Herz blicken außer der Jugend selbst.“ Patti Smith

Scheiß auf die Politik. Scheiß auf den ganzen widerlichen Lügenschund. Drauf geschissen.

„Lange haben mich die Uhren krank gemacht. Tun es jetzt nicht mehr.“ Lars Gustafsson

Wolken, die der Wind antreibt, darunter umherkreuzende Schwalben, und rauschende Baumwipfel – was, im Ernst!, gibt es Schöneres? Juni. Nichts als Ärger, Sorgen, Schmerzen, Tränen. Es ist eine Schande. (19.6.)

Die Schatten der Erdbeerpflücker

Nie im Leben bin ich erster Klasse gereist, weder im Zug noch in der Luft oder auf einem Schiff. Ich sah auch nie den Sinn darin! Verlache alle, die ihre Existenz aufgewertet sehen im Statusdünkel – verachte dann leider auch bisweilen die sich für Bessere halten: Ausnahmeerscheinungen. In der Wiener Albertina stand ich einmal in der Warteschlange der Egon Schiele-Ausstellung, als sich eine Frau im Nerz (leblos) und ein aufgeblasenes Sackgesicht an allen vorbeidrängten. Eine Wienerin hinter mir zischte kalt (es war Sommer): „Mit da Peitschen nach hinten schlagen sollt‘ man sie.“ Ich möchte immer unter den Leuten sein, in ihrer Buntheit, der mein Inneres so entspricht. Nur möglichst ungestört möchte ich sein, ein Beobachter, ein unsichtbarer bunter Hund. (Wien, 11.6.)

Eine brüllende Hitze. Fliegen, unbeweglich schimmernd, unbeweglich sterbend auf der Fensterbank. Die langsamen Leute. Der Dunstspiegel über der Burggasse.

Der Dichter K. M. erzählt von seinem Ferienhaus bei Bellinzona. Abends ging er in den Ort und fand das einzige Lokal wegen Regenwetter geschlossen. Im Garten saß der triefnasse Koch. Er bereitete dem Dichter einen Teller Pasta zu, brachte ihm kühlen Wein, ging dann heim. Und K. M. saß im Garten des Lokals in einer Laube und las dort meinen „Traklpark“. Eine innige Begegnung sei das gewesen.

Als Hochstapler fühle er sich immer öfter, sagt der befreundete Dichter nach der dritten Lesung, zu der eine Handvoll Zuhörer kommen, als Hochstapler in desolater Gemütsverfassung, müde, alt, mit einem Körper voller böser Schmerzen. (Innsbruck, 13.6.)

Die Schönheit der Obstgärten: das dunkle Grün und das helle, die Bäume und das Gras, im freien Spiel.

Auf einem Acker Krähen, genauso viele, genauso gemach und genauso erpicht wie auf dem Nachbarfeld die Erdbeerpflücker, nur ganz schwarz – die Schatten der Erdbeerpflücker. (München, 14.6.)

Die Wildgans

Das zweite Jahr „Gras“ ist vorüber. Ich denke, ein drittes werde ich noch folgen lassen, ehe ich dann genug habe – wovon? Wofür? Wogegen? Und wie hört das Gras zu wachsen auf? (4.6.)

Werbung: zur Hälfte Abklatsch, flache Unterhaltung, zur Hälfte groteske Infantilisierung, wenn nicht zielgerichtete Verdummung. Was denn hättest du von Werbung je gelernt, außer das, worauf du reinfällst? „Dein Schluck Freiheit! So schmeckt die Freiheit!“

Von ihrem Preisgeld für den Anton Wildgans-Preis hat sie sich einen großen schönen, schneeweißen Motorroller gekauft: die Wildgans.

Schild: „Schadnagerköder“ – aus der Schadnagerköderfabrik? „He, sind Sie hier der Schadnagerköderfabrikbesitzer?“

„Die Vergangenheit ist ein fremdes Land: Dort machen sie alles anders.“ L. P. Hartley

Je näher du den Kindern bist, desto ferner bist du den Gedichten. Und kannst ihnen zugleich nicht mal beim Schreiben so nah sein. (9.6.)

In Solothurn

Das Schönste hier in der Kantonshauptstadt ist die Aare, die mitten durch die Häuser fließt, schnell und still, und dabei von grasgrüner Farbe ist. Im Sommer, erzählen die Leute, schwimmt man darin, lässt sich flussab tragen, bis dort, wo an den Ufern rot-weiß geringelte Geländer angebracht sind, davon muss man eines zu fassen bekommen, dahin muss man mit kräftigen Zügen kraueln, um noch aussteigen zu können, sonst trägt die Aare dich weiter und immer weiter, bis du verschwindest. Und tauchst du, sagen die Leute, dann hörst du unter Wasser das Kieselbett rauschen, kollern und knirschen. (Solothurn, 31.5.)

Die Glocken läuten, in den endlosen Himmel hinein geht das Licht. Die Sterne unsichtbar, immer da. In der Ferne sehe ich hellblau die Berge stehen. Meine Kindheit ist immer bei mir.

Wie voll die Stadt auch ist von Leuten, die den ganzen Tag lang über Dichtung diskutieren und einander vorlesen – vor ihrem Geschäft in der Sonne, die Blumenverkäuferin dort mit der Gießkanne in Händen lässt uns alle im Regen stehen.

Spinat

Als wäre es ein Mantra, fällt in jedem, aber auch jedem Gespräch zweier älterer Herren, die etwas auf sich halten, nach kurzer Zeit der Begriff „Aufsichtsrat“. Es ist ein Mantra. Und auch mit Aufsicht hat es viel zu tun. Nur mit Gespräch nichts. (Lübeck, 24.5.)

Der vorübergehende us-amerikanische Präsident Barack Obama bekräftigt den weltweiten Führungsanspruch der Vereinigten Staaten. Ich bekräftige die Unvermittelbarkeit nicht zu vereinigender Einzelinteressen. Der derzeitige us-amerikanische Dissident Edward Snowdon bekräftigt seinen Patriotismus. Ich bekräftige, ein Einmannfreistaat mitten in Europa zu sein. (Basel, 29. Mai 2014)

„Ich bin glücklich“, sagt das Kind am Telefon. – „Ich bin auch glücklich, wenn ich deine Stimme höre.“ – „Ich bin immer glücklich, wenn ich Spinat gegessen habe“, sagt das Kind.

Unterwegs zu den Füchsen

„Lieber ein Ende mit Schnecken als Schnecken ohne Ende“, sagt das Kind.

Die alte Türkin in der S-Bahn zwischen Friedenau und Friedrichstraße, sie telefoniert, indem sie sich das Handy zwischen Schläfe und Kopftuch klemmt. Und lacht.

Oben auf dem Dach ihres Turms messen die Meteorologen die Sonnenlichtdauer eines jeden Tages. Ein schmaler schwarzer Pappstreifen mit Stundenskala ist in ein halbrundes Gehäuse hinter einer Glaskugel gesteckt, die die Sonnenstrahlen bündelt und auf den Streifen lenkt. Als ich auf die Skala blicke, sehe ich dort eine winzige Sonne, gleißend gelb, die sich seit sechs Uhr an diesem Tag durch die Pappe gefressen hat. Ich sehe die Zeit, wie sie vergeht, die Zeit aus Licht, das Leuchten der Zeit.

Wieder in der S-Bahn, Potsdamer Platz, spricht dich aus heiterem Himmel dein Sitznachbar an. Er hat einen grauen Schnauzbart. „Und“, sagt er, „auch unterwegs zu den Füchsen?“

Mit jedem Tag wird das Kind größer, mit jedem Tag hübscher, schöner, d.h. älter. Woran mag das liegen. An jedem Tag?

Es ist ein Weg

Als das Flugzeug hundert Meter durch den Sturm über Indonesien in die Tiefe sackt – als in der Kabine die Frauen schreien – als dein Inneres sich umdreht und dir schwarz vor Augen wird – was hast du da gedacht? „Weiter nichts.“

Im Innenhof das Gelächter der Maurer, die da unten in einer offenen Garage stehen, rauchen und in den Himmel blicken: ein Hagelschauer Mitte Mai. Minuten später scheint wieder warme Sonne, Schwalben kurven durchs Licht. Ich habe das Englisch, das Australisch der vergangenen Wochen im Gemüt, träume, spreche mit mir noch in der Fremdsprache, „Burundjeri“, „Brunswick Street“ und „Yarra River“ denke ich am Donauufer. Es ist ein inneres Wegschmelzen, wie von Schneeresten auf einer Lichtung. (Ingolstadt, 13.5.)

Als ich den Regenschirm aus dem Koffer nahm, kam er mir feucht vor, und als ich ihn zum Trocknen aufspannte, war er voller weitgereister Tropfen: australischer Regen.

Die Angstlust?

Ein Radiogespräch über Stress und Gelassenheit. Eine Anruferin fordert weniger Entspannung, weniger Zerstreuung, weniger Unterhaltung. Erst am Ende des Gesprächs gibt sie sich als Gründerin eines Komitees gegen Steinigungen zu erkennen.

Auch in der so immens schwierigen Klimawandeldebatte von zentraler Bedeutung, die Frage: Wie kann (wieder) Wirklichkeit werden aus dem, was unwirklich scheint? Die Frage nach der Brücke. Du gehst davon aus, dass sie Wirklichkeit wollen, „die Leute“. Aber ist dem so, wirklich? (18.5.)

„Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen ein Ozean“, sagt Newton. Genauso aber stimmt, dass ein Meer ist, was ich ahne. Und: Was ich noch weiß, ist ein Tropfen, ein Meer aber, woran ich mich nicht (mehr, nicht Meer) erinnere. (Potsdam, 21.5.)

Punkt für Punkt, Punkt für Punkt, und so immer weiter, und dabei singen, leise, für dich, für das Bild, das Bild vom Land, summen und Punkt für Punkt auf dein Bild setzen, damit es erst Bild wird, wie die Aborigenes es seit tausend Generationen machen, das versuch, auf deine Weise. Es ist ein Weg.

Elizabeth Street

Es ist schwer, wenn die Abschiede beginnen,
denn alles sagt es, Verschwindenmüssen,
Wiederkehr möglich, doch nie mehr so.
Darum dräng ihn zurück, den nächtlichen
Himmel, in den du hineinfliegen wirst. Geh,
zwischen herbstlichen Wohntürmen, und
in Gedanken nimm die Tram zur Bucht.
Red dir ruhig ein, dass es gut war, besser,
du sagst dir, es ist gut. Behalt keinen Kiesel.
Du vergisst bloß, wo er mal lag, auf dem Dach
eines dunklen Hotels, die Nacht, wie sie roch,
und im Regen die Ufer der Elizabeth Street.
Es wird Zeit. Bye bye pride! Es ist gut.
Nimm sie mit – jetzt ist es soweit –,
das große Licht, die Freundlichkeit.

Stiche

Mach dir ihren Blick auf die Dinge, auf dich, nicht zu eigen. Mach du dir den deinen zu eigen. Und lass ihnen ihren, ist er stimmig, ist er irrig.

Der Literaturbetrieb – Messerstecherei in einer Telefonzelle, heißt es in Australien.

Du kannst über ein Land, in dem du zu Gast bist, nichts Stichhaltiges sagen, gleich, wie groß, wie klein, wie fern, wie nah. Nur von deinem Besuch, dem deiner Sinne (deinem dich-Besinnen), von deiner Sicht kannst du erzählen – dir, mit Glück anderen. (Melbourne, vorletzter Abend, 10.5.)

In Australien dachte ich immer wieder: Woher deine Bekümmerung? Weil du, anders als sie, nicht zu leben verstehst? Weil sie nicht verstehen, wie du lebst? Dass du lebst gar? Es ist seit langen Jahren so, als würdest du verwundert dennoch leben – als wäre das Entscheidende, das Wirkliche abgestorben in dir. Und du (dir) nur noch wirklich als Reisender, um Unwirklichkeit nach Unwirklichkeit festzustellen (und zu manifestieren, du Narr). Das Australische, die Bäume, die Tiere, die Freundlichkeit, der Duft der Welt, sprengt dir die Sicht. Nimm das mit.

Crow

Warum nur noch Asche sein,
sagt die Krähe zu den Kränen,
wenn ihr im Licht steht, warum
ist mein Lied Krächzen. Waa!

Wolkenkratzer, Straßenbahnen,
ich hatte ein Gefieder, so bunt
wie die Wolken Waa! im eisigen
Wind. Hatte Flüsse als Federn,

Krallen, die ritzten Geräusche
der Bäume in den Boden, damit
Waa! ein Weg war zur Wärme der
Sommerstraße. Sie war ein Feuer.

Ein Flammen und rötliches Lodern,
gespenstisch Waa! ein lohendes
Fenster. Ich flog durch es durch,
und es war der Adler, war Waa!

der Gott, der mich schwärzen,
stumm sein ließ und verbrennen.
Lied und Landkarte und Mantel,
in Krähenträumen Waa! sind sie

eins. Ich kam in einen Morgen,
und Wipfel war das große Licht.

Für Tony Birch

Die Berge berühren

Der Geruch Melbournes: ein „Das-erinnert-mich-an-Melbourne-Geruch!“ – süßes Metall, in den Herbst hinuntergesunkene Sommerhitze, die Nähe Südostasiens. Ein Nachtgeruch, ein seltsamer Weihrauch. (6.5.)

Die Erlebnissee!

An einer Wand steht:

All that
Still
Lives,
Lives
Against
This
Society.

Jemand hat den Wandspruch verändert, mit wenigen Strichen und Punkten:

All that
Still.
Lives,
Lives.
Against!
This
Society.

(Melbourne University, 7.5.)

Exif_JPEG_PICTURE Die 104-jährige Lizzie Davis aus dem Volk der Coranderrk wurde gefragt, wie sie Regen voraussagen könne. Lizzie Davis antwortete: „Ich berühre die Berge.“

Eine Melbourner Radiostation: Radio SBS – Seven Billion Stories

Port Douglas

„I’m waiting for an answer that’s not coming, / I’m running in a race that’s not worth running.“

Nachtwindböen im Innenhof, über die Dünen kommen sie und schlagen in die Palmen. Auf jeden Windstreich antwortet ein unsichtbarer Vogel mit laut klagendem und zugleich freudigem Geschrei. (Port Douglas, 4.5.)

Wolken, die stundenlang stillstehen über dem Korallenmeer. Sie tragen die Langsamkeit in ihrer Gestalt, sind weiß und schwarz umrahmt. Gehst du unter ihnen hindurch, so verbergen sie ihr Volumen nicht. Jede ist, was Dylan Thomas vom Radio sagte, „a building in the air“.

Die grüne Meeresschildkröte im Riffwasser, beinahe so groß wie ich, mit den Augen Gottes, ob sie weiß, dass ich sie beobachte?

Am Straßenrand überall dottergelbe Warnschilder vor Känguru- und Kasuarwildwechsel, doch nirgends zwischen den Autohändlern, Hungry-Jack’s-Drive-ins, Surfausrüstern und der Eiscreme-Fabrik nur ein einziger Laufvogel, ein einziges an einem Zuckerrohrfeld entlangspringendes Wallabee. (Cairns, 5.5.)

Immer unvermittelt, wie ein bunter Blitz, stürzt ein seltsamer Vogel vorbei.

So rot wie die Erde: die von der prallen Wucht der Sonne gerötete Haut vieler Australierinnen.

Im Grunde musst du es halten wie die Kinder: losschreien auf der Stelle, wie aus dem Herzen herausschallend, sobald dir etwas nicht passt (das Hemd des Lebens, die Hose des Alltags) oder gegen den Strich geht (anstatt für den Strich, auf den Strich, unter den Strich). Nicht böse, nicht drohend, aber losplärren, klagen, heulen, jammern, auch brüllen, vor allem brüllen: ICH WILL DIE WELT ANDERS!

Räume in Sydney

„Mobile Speed Cameras. Anytime. Anywhere.“

Vom „gap between fact and feeling“ spricht man in den nach Patschouli riechenden Räumen von Greenpeace Australia Pacific, von der „integrity of facts“. Während der Uni-Professor mit dem haarsträubenden Mundgeruch das „Anthropozän“ ausruft.

„Bitte achten Sie auf die Umwelt, bevor Sie diese E-Mail ausdrucken.“ – Ja, also blicke ich zuvor aus dem Fenster?

Sydney, a jigsaw.

Jeder Raum ist auch ein sexueller, ein möglicher Raum, ein unmöglicher. (Sydney, 30.4.)

Headsets

Achtzigjähriges Kind – der Zeichner auf der Bühne, der traurig seine Lieblingsmusik vorstellt: die Beatles und Mozart. Er spricht von der vergangenen Welt, die still war. Von einem frühen Morgen vor seinem Ferienhaus bei Adelaide und wie er dort den Vögeln in den Bäumen zuhörte, einer Sinfonie. Er sei, sagt er und lacht einmal, auf einem Ohr taub – eine Erleichterung. (Newport, Victoria, 24.4.)

„Wir können das Vergangene nicht kontrollieren. Es birgt genauso viele Geheimnisse wie die Zukunft.“ Adam Zagajewski

„Ich liebe das Leben“, sagt ein älterer Pole zu mir, „ich liebe die Luft, liebe das Licht, die See, die Sonne, die Liebe, ich liebe die Frauen und ihre Haut und ihr Lachen und Zürnen. Ich liebe die Kinder und die Tiere, nicht alle, aber viele. Ich liebe im Grunde alles, was es gibt. Und wenn ich tot bin, werde ich es lieben, tot zu sein.“

„A new phase of its identity“ steht auf einem Plakat in der Unterführung der alten Flinders Street Station von Melbourne. Dort spielt ein Junge im T-Shirt in den durch den Tunnel brechenden Aprilherbstböen auf seinem Cello eine Suite von Bach. (28.4.)

„Headsets!“ – „Headsets!“ – wie ein seltsam seinen einzigen Ton von sich gebender Vogel – „Headsets!“ – „Headsets!“ – geht die Flugbegleiterin durch die Sitzreihen der Qantas-Maschine. „Headsets!“ – „Headsets!“

„Every museum does failure.“ – „So let’s install a museum of failure.“ – „Amuse an Ophelia?“

Trost

Programmtitel, wahrhaftig: „Going nowhere“

Nur anhand von Erzählungen, Geschichten von Erlebnissen und Vorstellungen Einzelner, sei es ihr möglich, sich einen Begriff zu machen von etwas so Umfassendem, etwas so Unfassbarem wie dem Klimawandel, sagt im Melbourner Haus der Kunst, dem alten Meat Market, eine junge Wahlaustralierin, eine us-amerikanische Autorin, die an einem Roman über Atlantis schreibt. In Mississippi habe sie vor einiger Zeit eine Taxifahrerin kennengelernt, die ihr erzählte, sie lege alles mögliche Geld beiseite, damit sie mit ihrer Familie nach Florida ziehen könne. Ein Haus am Strand würden sie und ihr Mann für sich und die Kinder dort kaufen wollen, damit sie unter den ersten seien, die von der großen Flut hinaus aufs Meer und nach Atlantis gespült würden.

Es ist zwecklos, träumen zu wollen, wenn du nicht schlafen kannst.

Jeder Trost ist einmalig. Immer wieder auf dieselbe Weise trostreich ist es, Gedichte zu lesen.

Eine Telefonzelle in Abu Dhabi

Flog über Budapest, Bukarest, Ankara, Beirut, Bagdad, Kuwait und Bahrain hinweg bis Abu Dhabi. In der Dunkelheit auf dem Wüstenrollfeld schwamm das Kerosin in der 30 Grad heißen Luft. Fünfzehn Minuten später stand ich zusammengepfercht mit zwanzig Arabern und Australiern in einer Raucherkabine, kaum größer als eine Telefonzelle (die es nicht mehr gibt) oder ein besonders kleines Haltestellenhäuschen (die es wahrscheinlich inzwischen auch nicht mehr gibt).

Das schöne Licht am ersten Morgen über Melbourne: als sollte der ganze Süden der Welt einzig hellblau sein. Ich sah noch keinen Vogel, hörte aber die ganze Nacht lang das Gezwitscher einer Klimaanlage vom Dach des Nachbarwohnturms, ganz so als würde dort ein Wellensittichschwarm ausruhen. Ein laut anschwellendes Windmühlflügelschlagen war plötzlich zu hören, vielleicht ein Traum, dann aber kam eine Feuerwehrsirene durch die Straßenschluchten gerauscht. Anderthalb Tage lang flog ich um die halbe Welt, von Abu Dhabi weiter über Sri Lanka und den Indischen Ozean hinweg, vorbei an Perth und Adelaide. Aufzuwachen in solchem Licht … aus der Unwirklichkeit in deinem Leben einmal so erwachen. Aus dem Frühling flog ich in den Herbst. Unterwegs, wo war da Sommer? (Melbourne, Therry Street, 23. April 2014)

Die kurze Zeit der Unterschiede

Morgen werde ich über Abu Dhabi nach Melbourne fliegen, in den südaustralischen Frühherbst. Ein zu allem bereites Grün auf den Wiesen, im Hamburger Gras. Die Leute im Freien – freie Leute. In der Luft hängt der Holzrauchgeruch der Osterfeuer, und die Farbe der Nacht schwankt zwischen Tiefblau und Lila, beinahe Purpur. „Kein Kind mehr wach. Kein Vogel im Himmel“, schreibt Peter Handke in „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“. „Dafür war dort eine Wolke, eine grauweiße große Haufenwolke, am oberen Rand vielfach gebuckelt, die langsam nach Osten zog, wie auf Wallfahrt; als wallfahrtete sie. Es hätte auch nach Westen sein können, und es hätte auch am Morgen sein können.“ Was das Wetter in der Poesie ist, vollzieht sich ab diesem „Dafür“. Auf, nach Australien, meinetwegen!

Auf, nach Australien, meinetwegen – was für einen Unterschied macht es? Die kurze Zeit der Unterschiede ist vorbei. Auf Unterschiede kommt es nicht mehr an. (20.4.)

Zwei Wörter, die eine Welt öffnen, wenn auch, ja, eine kindliche, wunderbare, wundersame, als das Kind fragt: „Träumen Schnecken?“ Und du lachst. Die einzige Antwort, die du noch hast und die angemessen ist.

Der Gesang in den Hecken

Unten im Garten steht einer der Fensterbauer und telefoniert. Die Sonne scheint, die Vögel singen, durchs Haus hallt das Gehämmer, und er sagt: „Heute Morgen habe ich ihnen mein Blut gegeben, das muss reichen für sie, mehr kriegen sie nicht von mir. Mein Blut, das sagt ja alles von mir, und was es nicht sagt, das geht sie nichts an.“

Berlioz‘ Symphonie phantastique in der Hamburger Laeiszhalle, dirigiert von dem erst blassen, dann leidenschaftlich steuernden, korrigierenden, die Traurigkeit tanzenden Ion Marin: Hundert Musiker auf der Bühne, Harfenisten, Pauker, Fagottbläser, Beckenschläger, der reinste Bienenstock, Bienen ohnehin die Cellisten, Kontrabassisten, Bratschisten und Geiger. Aber das Erstaunlichste an der ganzen ungestüm(-traurig)en Maschinerie ist doch der Eindruck, dass diese Vielfalt einen Einzelnen, sein Fühlen und Denken, sein Grübeln, Sichgehenlassen, neue Kraft Schöpfen und erneutes Versinken im Gram, die Nuancierungen seines Gemüts darstellt – die zeitlose Kraft des Kummers. (15.4.)

Am Morgen, sagt das Kind, habe es nicht mehr schlafen können, denn das Fenster sei ja offen gewesen. „Alle Vögel sind zurückgekommen und haben in den Hecken, die am Haus hochwachsen, miteinander geredet und laut Musik gemacht.“

Die Blumento-Pferde

Vom Bahnhof Glattfelden aus lief ich anderthalb Stunden lang an der Glatt entlang bis hinein ins Dorf des Grünen Heinrich, las Kellers Verse und Sätze auf den Tafeln am Wegrand, hörte dem Bäumerauschen zu, sah im Fluss die Wasserpest, fand alles schön, ging, lief, sank durch die Zeit und zurück in meine. Wo ist der Ausweg aus dem Augenblick? Vielleicht wirklich im Maß – hinzugehen durch lauter schöne Sonne, unterm Grün, in einer geliebten Geschichte, und dann heimzukehren in dein Leben wie von einer Reise in die Fremde. Aber sicher ist das nicht. Und darf es auch nicht sein. (Singen, 11.4.)

„Die Blumento-Pferde“, sagt das Kind ernst, „hast du die schon mal gesehen?“, und wie es da lacht, das Kind, und ich mit, weil ich sie sehe, in diesem Augenblick sehe ich sie vor mir, die Pferde, die Blumento-Pferde.

Das Wunderbare an Lars Gustafsson: dass er das Entscheidende unterzuheben versteht. So schreibt er über den verwirrenden Eindruck von Unwirklichkeit, den eine Lesung sowohl beim Autor wie beim Zuhörer hinterlassen kann: „Natürlich entsteht eine interessante Spannung, wenn wir zum ersten Mal eine authentische Lesung eines Dichters hören, den wir nur von unserer eigenen Interpretation her kennen.“ Das Entscheidende: „Die Lesung besitzt die Autorität des Dichters, aber in unserer eigenen Lesung verbirgt sich eine andere Autorität, die nicht unerheblich ist.“ (Lars Gustafsson und Agneta Blomquist, „Alles was man braucht. Ein Handbuch für das Leben“, deutsch von Verena Reichel)

Manchmal fliegst du weit weg – mitten aus dem Tag.

Applaus für den Nachtwind

„Höchste Zeit, die Sterne neu anzuzünden.“ Appolinaire

„Es ist heiß hier“, schreibt das Kind, „jeden Tag schwitze ich mir einen Ast.“

„Sie sind also der Autor.“ – „Bin ich. Und Sie sind der Leser.“

„Sie sind also der Autor.“ – „Bin ich. Aber nicht der Ihres Lebens.“

„Sie sind also der Autor.“ – „Jedenfalls bin ich einer. Ich bin ein Autor.“

„Sie sind also der Autor.“ – „Nein, der Wind, der schwarze Nachtwind bin ich.“

Vor der Lesung im Theatersaal der Schule klettern Schüler durchs Fenster herein und wieder hinaus in den sonnigen Vormittag. Während der Lesung gebannte Aufmerksamkeit, zweifelndes Staunen, Lauschen. Nach der Lesung Jubel, freies Lachen, der schönste Applaus. (Grimmelshausen-Gymnasium, Offenburg, 9.4.)

Zwischen Untereinöden und Überruh

Vorsicht! Dachlawinen! Zwischen Untereinöden und Überruh, kann auch sein bei Oberholzleute, kurz nach dem Spitalhof: Schnee auf einem Oberallgäuer Talhang. Und wie Zahnstocher stecken in den Hangauffahrten hinauf zu den aufgeräumten Höfen noch immer die Schneestangen. Hier sind wir auf alles Mögliche vorbereitet. (Isny, 6.4.)

Mit welcher Behändigkeit – es ist eine Zärtlichkeit – die großen Krähen den Turm umflattern, um im richtigen Augenblick in die leere Schießscharte zu tauchen, in der sie wohnen, nisten, schlafen, sich wohlfühlen, sich wohl fühlen: Sie schackern weder noch krächzen sie, sondern singen.

In dem gelben Bus durch die von Löwenzahn und Butterblumenschwemme gelben Wiesen das Allgäu zwischen Isny und Röthenbach. Innigkeit wird zu Erinnerung, und umgekehrt. So fuhr ich im Postbus von der Schule in Tölz heim nach Waakirchen vor beinahe vierzig Jahren. Wie seinerzeit mich und uns kennt auch hier der Busfahrer jedes Kind, hat einen besonderen Satz, ein Sesam-öffne-dich für jedes und verteilt beim Aussteigen Süßigkeiten nach Wahl. Ein kleines Mädchen stolpert über den hellblauen Plastikeimer zu Füßen des Fahrers. „Du bist auch so eine Randaliererin, Annamaria!“ (Röthenbach, 7.4.)

Versteinern und Bestaunen

Ist das Gedicht vielleicht wirklich unerheblich? Ja – solange das Dichterische anderweitig, in anderer Weite, Weise und Form fortlebt, zu leben neu anhebt.

Pension Himmel Fremden Zimmer (5.4., Kassel)

Unter dem Tisch liegen zwei dicke Bände Born: Nicolas Born Gedichte, Nicolas Born Briefe 1959 – 1979. Je ein schönes Foto von Born, wie er spazierengeht, auf den Buchumschlägen. Meine Briefe, denke ich, wird niemand sammeln können, irgendwann drückt irgendwer in Kuala Lumpur eine Taste, und sie sind gelöscht. Ich nehme Borns Gedichte zur Hand und schlage das geliebte letzte auf, „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“, und lese mitten in den Kasseler Bergen: „Die Ruhe auf dem Lande ist oft stille Wut“ … „Wenn Sie die beiden Bände haben möchten, nehmen Sie sie mit“, sagt der freundliche Veranstalter, „die kauft hier eh keiner.“ Sie sind signiert, sehe ich, von Borns Tochter Katharina, der Herausgeberin, die sie hier vorstellte, vor fünf Jahren. „So übermütig will ich versteinern und / bestaunt werden“. (Schauenburg, 6.4.)

Some Notes Before Going To Wagga Wagga

„Wir haben unsere freien Tage“, sagt ein junger Mann im Bus zu einem Freund. Er erzählt von seinem ersten Lehrjahr. „Aber manchmal muss man halt auch Sklave sein.“

Den Buchtitel „Abschied“ habe sie ablehnen müssen, erzählt die junge Lektorin. Verlagsleitung und Verlagsvertreter würden den Begriff als wenig verkaufsfördernd einschätzen, und so habe sie Abschied davon genommen.

Hotel Sonne, Hauptstraße. Endlich wohnst du in der Sonne. Die Sonne, wusstest du das nicht schon immer, die Sonne ist ein Hotel.

Jetzt geht es sehr schnell – Australien, Van Diemens Land. Bald, in drei Wochen, fliegst du über Wagga Wagga.

„… damals waren die Bilder stumm in ihn gesunken, die Fühllosigkeit hatte schon unmerklich begonnen. Wie anders, bei aller Ähnlichkeit, war es jetzt. Jedes Bild belebte ihn. So wie er durch die nächtliche Stadt ging, ging er durch seine eigene Verwandlung.“ Reinhard Kaiser-Mühlecker, „Schwarzer Flieder“

Vor lauter Lärmschutzwänden hörte man die Stille nicht.

Die Trennung

„My mother, she is seventy-five, she’s the closest friend I have in my life.“ Mark Kozelek

Der Reiher kam aus dem blauen Spätmärzhimmel, streckte die Beine, spreizte die Schwingen, blickte um sich und flog einen Sinkflugkreis, ehe er auf einem Felsen im Teich vor dem japanischen Pavillon landete. Von so sonntäglichen Spaziergängern wie mir ließ er sich nicht stören. Sein Auge äugte. Er hielt Ausschau, was da schwamm. Stakste durch den Teich, hielt inne, reckte den Hals, hielt inne, schnellte vor, schnappte im Wasser nach dem Fisch und schluckte ihn hinunter. Zurück auf dem Felsen, gereckter Hals, das äugende Auge, das Himmelsblau. Reiher, unter Leuten, als wären wir Reiher und er der einzige Mensch. Und das größte Wunder dann die Zunge. Reiherzunge, schleckte sich den Schnabel, genoss das Schlecken und unsere Blicke. Ah! Ein köstlicher Fisch. Ein zarter kleiner Märzfisch. (Planten un Blomen, 30.3.)

Willkommen im Geisterhotel!

Wie so oft trifft Rilke die Sache auf den Punkt (wenn er auch nicht selten über die Sache, den Punkt nicht hinauskommt), als er über Trakl und dessen Dichtung sagt: „Inzwischen habe ich den ,Sebastian im Traum‘ bekommen und viel darin gelesen: ergriffen, staunend, ahnend und ratlos; denn man begreift bald, daß die Bedingungen dieses Auftönens und Hinklingens unwiederbringlich einzige waren, wie die Umstände, aus denen eben ein Traum kommen mag. Ich denke mir, daß selbst der Nahstehende immer noch wie an Scheiben gepreßt diese Aussichten und Einblicke erfährt, als ein Ausgeschlossener: denn Trakls Erleben geht wie in Spiegelbildern und erfüllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel. (Wer mag er gewesen sein?)“ – Rilke im Februar 1915. Bleib in seinem Bild, und du siehst Trakl allein, abtastend das Glas, hinter der Scheibe, sich mitzuteilen unmöglich. Das ist sie, die Unwirklichkeit, die Entäußerung, von der Trakl immer wieder spricht und die er als einer der ersten und daher für uns alle durchgemacht hat: die Trennung. Das Abgelöstsein von der Welt, die vermeintlich, paradoxerweise, unverändert weiterexistiert. Alle Gleichgültigkeit gründet dort: Es gibt die Welt (noch), und es gibt mich (noch immer), aber eine Verbindung nicht (mehr). Das Wunder Trakl besteht auch darin, mir das vor Augen führen zu können – und zugleich das (letzte) Verbindungsglied gewesen zu sein (was ihn zerriss).

Der Lärm der Zeit und des Gemüts

Das lauteste Konzert meines Lebens: Mogwai in der Großen Freiheit. Schon nach der ersten Minute, die Schlagzeuger, Keyboarder und vier Gitarristen auf der Bühne standen, verstopfte ich mir die Ohren mit Kautschuk. Die Schallwellen des wundervollen Lärms drangen schwermütig durch Mantel, Pullover und Hemd, und die Umhängetasche bebte mir am Leib, als hätte ich darin ein Nagetier, das um sein Leben zitterte. Reglos standen die sechs Schotten im Lichtgeflacker, versuchten ihren Instrumenten Menschliches abzutrotzen und ließen doch nur möglichst melodisch auf meiner Seele einen Jet landen, soul runway. Hardcore will never die, but you will. Von zwanzig Songs, die sie spielten, zwei Gesang, der Rest Landschaft, offene See, Weltraum, Klangbitternis, Lärm der Zeit und des Gemüts. Seit Monaten war ich nicht so ruhig. Als Trakl einmal las, vor hundert Jahren in Innsbruck, muss es etwa so gewesen sein. Mein lieber Freund sagt, wie es ist: Den Rest denkst du dir und spürst du. (St. Pauli, 26.3.)

Eine so erregende wie desillusionierende Beobachtung über das Gedicht äußert überraschend Christoph Hein in seinem Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ über den ungeklärten Tod des fiktiven Untergrundaktivisten Oliver Zurek. Nach dessen Erschießung (oder Selbsttötung) in dem fiktiven Ort Kleinen (–> Bad Kleinen –> Wolfgang Grams) studiert Zureks Vater, ein pensionierter Schuldirektor, die politische Lektüre seines Sohnes: „Seien wir realistisch, verlangen wir das Unmögliche, las er lächelnd. Und dann murmelte er halblaut den Satz: Man muss das Volk vor sich erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. / ,Es ist Lyrik, Rike‘, sagte er zu seiner Frau, als sie in das Zimmer kam, da sie seine Stimme gehört hatte, ,reine Lyrik. Oliver hat im Grunde Gedichtbände gelesen, die sich als wissenschaftliche Literatur getarnt haben. Es liest sich wunderbar. Erbaulich und schön wie die Korintherbriefe. Wundervolle Worte über eine prächtige zukünftige Welt. Und eigentlich ersetzen sie das, was sie einfordern, sie nehmen es vorweg. Wer sich diesen Worten hingibt, ist bereits im Stande der Glückseligkeit. Das sind keine Terroristen, es sind Träumer, nichts weiter. Natürlich, diese Autoren stürzen die Welt um, stellen alles vom Kopf auf die Füße, Expropriation der Expropriateure, die Ersten werden die Letzten sein, die geschundene Kreatur wird gekrönt werden, die Tränen der Welt getrocknet. Das ist die Bergpredigt, nichts anderes, Rike, samt einer Wollmaske mit Augenschlitzen. Freilich, einige von ihnen haben nach einer Kalaschnikov gegriffen, das sind die, die nichts davon verstanden haben, denn in diesen Büchern geht es in Wirklichkeit um Liebe.’“ Sehr schön auch die Reaktion der Ehefrau, der Mutter des Erschossenen, aus der zugleich Gleichmut und Gleichgültigkeit sprechen: „Friederike Zurek hörte ihm zu, nickte und sagte dann: ,In zehn Minuten ist das Essen fertig. Holst du bitte vorher noch die Post aus dem Kasten? Und wasch dir die Hände.’“ (Christoph Hein, „In seiner frühen Kindheit ein Garten“, Frankfurt am Main 2005, S. 137f.)

Eine Hypothese

„Auf deinem T-Shirt steht PERLENMARMELADE. Wieso?“, fragt das Kind.

Wenn er trinkt, Wein, schwillt sein Gesicht an und wird zum Mond. Blaues Tier tritt aus seiner Höhle. Die Augen kommen rund heraus und zeigen dem schmerzlichen Antlitz, was Bewegung heißt. Flehentliche Blicke, gedankenprall. Angst um seine Adern erfüllt mich, Verwunderung über das Rot seiner Ohren, das Zurücktreten der Lippen. Sie scheinen wie aufgegessen vom immer stummeren Mund. (25.3.)

Seit fünfzehn Jahren dieselbe Verängstigung nach der ärztlichen Augenhintergrunduntersuchung. Jedes Licht ein Stern, jeder Schritt neben dir bedrohlich. Wie nah einander die Sinne sind, wie nah, was du siehst, dem, was du hörst, überdeutlich plötzlich. Die weit gestellten Pupillen: schwarze Löcher. Alles saugen sie auf, Angstaugen – Angst, durch die Welt hindurchzufallen.

Generation y – why? Warum nicht w, Generation w? Was soll nach ihnen schon noch kommen (jede Menge). Umkehr. Schubumkehr!

„Der Einbeinige“, sagt das Kind, „er hatte eine Hypothese – ein künstliches Bein.“