Wirklich vereinigte Staaten

Schnitzler schreibt: „Ich freute mich, daß ich lebte …“, Kafka schreibt: „Traum an einem nächtlichen Tag.“

Da gibt es Leute, die drehen mit ihren Telefonen Filmchen von ihren Haustieren, die senden sie an eine Radiostation, die eine Sendung produziert, in der ein handysüchtiger Zehnjähriger unablässig Haustier-Videoclips auf sein Smartphone gesendet bekommt. – Das hören sich die Leute an und warten, dass sie selber an die Reihe kommen. Viva Las Vegas!

Die Neuigkeitenrepublik!

In der Zentralbibliothek gebe ich einen Band Gryphius zurück – lege das Buch in ein Lesegerät, das es einsaugt – es rollt auf einem Fließband hinter eine Glaswand – es rollt weg nach links, reiht sich ein in die Stafette der Bücher aus den anderen sechs Lesegeräten – wird nach Kennziffer geordnet auf ein Seitenfließband gesaugt – rollt nach oben auf das Hauptrollband – verschwindet. „Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten / Als schlechte nichtikeitt / als schaten staub und windt. Als eine wiesen blum / die man nicht wiederfindt.“

19. November, noch immer Mücken und Wespen.

Wo ich leben könnte: les états-unis de toi et moi

Versagistan

Das Beste, was du nach dem Ende einer 29 Jahre währenden Freundschaft erwarten kannst, ist nicht Aufrichtigkeit, sondern Abwesenheit. Jedes kolportierte Wort zeugt von Lüge und Missgunst, Vorurteil und Dünkel. Hör nicht hin! Bleib deinem Glauben treu, dass was so lange andauerte wirklich Freundschaft war und nicht einseitig.

Nach meiner Lesung aus „Wie wir verschwinden“ kommt eine sehr alte Dame am Arm ihrer Tochter zu mir und erzählt vom 5. Januar 1960 – als sie morgens im Klassenzimmer saß und ein Mitschüler hereinplatzte und rief: „Camus ist tot!“ (Darmstadt, 12.11.)

Die obere Donau bei Sigmaringen, von unbegreiflichem Dunkelgrün.

Meine Jugend – ein Witz. Die Liebe in den Zeiten der Kohl-Ära.

Am Mittag über Sonnenbühl gefahren, Sonne und Nebel, blassgrün, blassbraun und blassrötlich die Herbstfarben auf der Wacholderheide. Ein großer Dunst.

Der Ort Killer, dessen Ortsschilder alle drei, vier Monate in der Nacht abgeschraubt und weggetragen werden von „Sammlern“.

Von wem er gelernt habe, die Welt zu hinterfragen, wird der Regisseur gefragt, und er antwortet ohne Zögern: „Sicherlich von meinem Vater!“ Von wem also hast du das Welthinterfragen gelernt? Gar nicht? Ist es deshalb, weil keiner da war, eher ein Zweifeln, sogar eine Verleugnung, wie bei Gryphius, der Welt? (17.11.)

„Versagistan“, sagt das Kind und zitiert damit seine Mutter. „Dein Vater, weißt du, der arbeitet in Versagistan.“

Die Manchfaltigkeit

Hinterm Haus liegt ein torloses Fußballfeld, und über den Rasen staken stundenlang zwei Störche in einem unerklärlich langsamen Spiel.

Der Weg, auf dem ich gehe, ist ein „vom Winterdienst nicht betreuter“! Also ein nicht bestreuter? Indem ich hier gehe, hinein in die Stadt, betreue ich den Weg, und er betreut mich. (Greifswald, 6.11.)

„Die Schwalben fliegen und fliegen und fliegen, sie sammeln Beiträge zur Geschichte der Freude.“ Radka Denemarková

Hut ab. Haut ab.

Die Fotografin geht um den Tisch und knipst die Männer und Frauen, jede und jeden einzeln und mehrmals, nur die in die Jahre gekommene Dichterin mit der auffälligen Oberweite ignoriert sie, als wäre die Frau aus Luft. Gefragt, warum, antwortet die Fotografin verächtlich, zornig und hässlich: „Bei ihr platzt mir die Linse!“

Manchmal bin ich mir fast sicher: Das schönste Wort, das ich kenne, ist dieses „manch“, „mancher“, „manche“, und weiß manchmal, es stammt ab von „mannig“ (das englische „many“ ist seine Schwester), ist gesprochene Verkürzung, vielfältiger Dialekt, und von so manch anderem will es mir an manchen Tagen erzählen (aus der Tiefe der Zeit): vom Vielfältigen, Mannigfachen, der Manchfaltigkeit. (9.11.)

„Und die Literatur ist noch unentdeckt und nicht geboren.“ Auch das: Radka Denemarková

Beton, konkret

An der Salzach ein so warmer Novembertag, wie ich keinen erinnere: novemberwarmer Wind, die Vorstadt im Föhn, die Berghänge gelb, grün, golden und braun im milden Pulsen der Luft. Auf flattern die Vögel überm Fluss, und am Ufer sitzen die Frauen und essen aus hellen Tüten das Licht. (Salzburg, 4.11.)

Die Mauerseglerhitze?

Sobald sie mit ihm telefoniert, fällt ihr sein Geld ein und sucht sie nach Lücken, um es ihm aus der Tasche zu ziehen.

„Die schönen Puppen aus Maiskolben mit den hellen Haaren aus Maiskolbenfäden!“, sagt die alte Dame im Radio, die jahrzehntelang Kinder in Favelas von Rio betreute.

Es muss alles, jeder Fleck, jedes taschentuchgroße Stück Rasen, jedes ERDREICH, solange es nur braun oder grün ist, zuasphaltiert werden, damit wir Beton draufsetzen können. Concrete. Während jede Begegnung, ob die der Liebe, der Freundschaft oder einer anderen Zugewandtheit, ein interstellares Ereignis ist.

Gespenster beim Baden

„Ich weiß nicht, wie oft ich schon gestorben bin“, sagt das Kind zu sich selbst, und zu seiner Spielfreundin: „Und du, bist du auch gestorben?“ – „Ich hab aus Versehen meine ganze Welt gelöscht, ausgerechnet meine Lieblingswelt.“ – „Echt?“

Nicht mehr lange, und die Mädchen stehen Schlange.

Schlagzeile: „Eingang zu Unterwelt entdeckt“ – noch besser wäre gewesen: „Ausgang aus Unterwelt entdeckt!“

„Krass, wie vorbei der Sommer ist“, sagt das Mädchen auf der Straße.

Die See so glatt, ein Spiegel. Und der goldene Wald und der grüne Wald bis an den Küstensaum gewachsen. Am Herbststrand Alte und Kinder. Und Gespenster, die im Spiegel baden. (Hohwacht, 31. Oktober)

In dem alten Garten saßen wir vor fünfzehn Jahren als junge Fremde. Heute sind wir alte Freunde und sitzen jeder anderswo. (Rendsburg, 2.11.)

Im Licht unter den Herbstbäumen stehen rotbefrackt die Flötisten und üben. Du gehst vorbei, und du kannst von Glück reden. Denn du kannst aufbrechen, wohin du willst.

Sei der Regen

Du machst die Tür auf, und es ist Herbst. (Du schließt die Augen, und da ist Sommer.)

Der Briefkasten, voll von den Büchern der Freunde.

Nicht die Welt ist undankbar, ich bin es.

Apropos Welt: „Der letzte Mensch auf der Welt wird aussehen wie ein Pfannkuchen“, sagt das Kind.

Apropos Kind: „Am unglücklichsten machen mich die Tränen“, sagt das Kind.

Deutliches Zeichen: In der U-Bahnstation klemmt eine halbe Brotstange unter dem Telefonhörer. (Klosterstern, 28.10.)

„HoGeSa“ – ja da hat aber mal einer eine Abkürzungsidee gehabt! Ihr lachhaften Idioten. „Hooligans gegen Salafisten“. Viva Las Vegas!

„Be the Rain.“ Neil Young

Herbst auf Rhodos (6): Der Feigenbaum

Plastikmeer Überall der Müll des Sommers, auf jeder Böschung eine Plastikpracht. Weggeschmissen, plattgetreten, liegengelassen und vergessen die Verpackung des mal Dagewesenen, nur nie Zurückgekehrten, Flaschen in allen Farben, rostzerfressene Dosen, verwaschen eine Tasche oder zerrissen ein Koffer. Am Straßenrand seit Jahren abgestellte Autos, Wracks, halb ausgeschlachtet, halb verfallen, eingekackt, beschmiert, verölt. Du gehst in die Hocke, als dir auf dem Asphalt etwas Helles ins Auge fällt, und blickst ein Götterpüppchen an, das nur einen halben Kopf und keinen Körper mehr hat, aber auf den Lippen Aphrodites Lächeln. Im vertrockneten Gras liegen in Schichten übereinander die Überreste dessen, was nicht hineinzustopfen war in die Felsspalten und Nischen der Mauern und Wände aus wieder und wieder, wieder und wieder verbauten Steinen. In Bäumen gekappte Leitungen, Kabelgezweig. Am Strand eine Zahnbürstenflut, Schaum aus Verschlüssen und Beuteln, Kappen und Stiften, Senkeln, Knöpfen und verblassten, erblindeten Stofftieraugen. Feige auf Symi Auf der kleinen Insel Symi steht ein Haus in der Oberstadt des Fischerhafens, dessen Dachgebälk, Zimmerwände und Fußböden wurden von einem das Gemäuer nach und nach für sich einnehmenden Baum gesprengt. Die schöne, tief dunkelgrüne Feige wächst auf dem Müll, der zu den Fensterlöchern hineingeworfen wird – wie in einen Schacht, in dem Verfallenmüssen und Leere zusammenfinden und Zeit und Tod vor lauter Leben vergehen.

Herbst auf Rhodos (5)

Ins Tränencafé! (Dort gibt es „Continental Breakdown“.)

Das Geräusch des ins ausgetrocknete Platanenlaub fahrenden Winds, papierenes Rascheln, nein Rasseln, nein Knistern. Rhodos-Stadt Fast ein Feuer, ein Feuer aus Luft. (Akra Ladiko, 19.10.)

In dem rekonstruierten (römischen) Stadion von Rhodos blickt der Junge in die Tiefe des langen Ovals (hinein in die Zeit): „Dort hinten sitzen, und ein Streitwagen mit zwei Gespannen kommt zweihundert Meter weit auf dich zugerast, und erst kurz vor der Kurve bremsen die Pferde ab.“

Komm in den totgesagten Park und sieh dir an, wie wir alles, aber auch alles kaputt bekommen. (Rodini-Park, Rhodos-Stadt, 20.10.)

So lächerlich wie der Pomp der Paläste, so lachhaft die blöde Größe der Burgen. Sollen sie doch mächtig sein (wollen)! Pracht gibt es nur außerhalb von Mauern.

Ein lauter Streit zwischen dem Bootsmann der Fähre – ein schöner Dieselkatamaran, der mit seiner Abgaswolke den halben Hafen verpestet – und einem zahnlosen, schlohweißen Alten unter den Kiosk-Arkaden des Klosters. Während die Sperlinge grün schimmernd hineintauchen in die Baumkronen und wieder hervorstieben, reden die Beiden lauthals aufeinander ein und lachen sich gegenseitig aus, scheinbar ohne den anderen zu beachten. Einmal verstehe ich das Wort „Olympiakos“, betont auf dem „pja“, und kurz darauf lacht bloß noch der Bootsmann und erklärt in die Runde: Darum sei er Grieche. Nur hier streite man und lache zugleich, und sei es über Fußball – falls Olympiakos überhaupt Fußball spiele. Gelächter! (Symi, Panormitis, 21.10.)

Herbst auf Rhodos (4)

Auf der ganzen Insel nur ausgetrocknete Flussbetten – oder sind die Flüsse sogar vertrocknet und verlandet? Mitten in der Kieselmulde des Loutan sah ich ein halb zerfallenes rotes Ruderboot. (17.10.)

Kamiros Erinnerung an Ephesus, vor 19 Jahren: In den Ruinen von Kamiros stehst du auf der Jahrtausende alten Hauptstraße und siehst Agamen und Eidechsen über das in der Sonne blendende Mauerwerk huschen. Da ist ein Muschelrelief in eine nur noch hüfthohe Hauswand gehauen. Du hörst vielleicht ein unsichtbares Windrad. Das Lachen von toten Kindern und wie sie vorbei und um die Ecke toben in einen überdachten Garten. Stell dir in der sengenden Hitze das Weinlaub über den Schattengassen vor. Das Geplätscher des Wassers, das herabsprudelte aus der großen Zisterne oben am Stadtrand, unterhalb des Pallas Athene-Tempels. Und überall und nirgendwo Ziegen.

Die schönen Ziegen auf den wilden Müllkippen im karstigen Bergwald von Profitis Ilias – himmelblau die Fahrerkabine des dort seit Jahrzehnten verrottenden Ford Transit-Pickups.

An eine Hauswand in Rhodos-Stadt gesprüht: 100 years of freedom 1912 – 2012

„XAIRE“ – „Frohgemut!“ – steht als abschließendes Wort, als Gruß und zugleich Aufforderung, auf vielen antiken Grabstelen. Und noch immer sagen sie manchmal: „Chaire!“ Und wir verstehen einander, denn auch ich sage hier oft: „XAIRE!“ – und denke dabei an Cummings‘ 71 Gedichte mit diesem Titel, besonders an den Auftakt von Gedicht 65: „ich dank Dir Gott für meist den wundervollen / tag“.

Bei Schirokko verdunkelt sich das Meer. Das helle Türkis wird zu Aquamarinblau und das Dunkelblau zu Violett.

Bei Schirokko stürzen die weißschwarzen Tauben über den Strand hin, und Tag für Tag deutlicher steht im Meer Anatolien, dessen Binnenlandgebirge wir nun sogar schon sehen. (18.10.)

Herbst auf Rhodos (3)

Aphrodite aidoumene Tausende nagelgroßer, nagelschwarzer, nagelstarrer Fische stehen im flaschengrünen Wasser des antiken Mandraki-Hafens. Durrell beschreibt, wie vor der Küste Niochorions eine Venus-Statue gefunden und aus dem Algenschlick ans Licht gehoben wurde: „An einem Nachmittag hatte sie sich in den Netzen der Fischer verfangen. Sie glaubten, einen reichen Fang zu machen, aber es war nur die schwarze Marmorfigur einer Meeresvenus, die, von Schlingpflanzen umwunden, heraufkam, und einige erschrockene Fische, die wie silberne Münzen um das ruhige, reine Gesicht mit den blicklosen Augen hüpften. – Nun bewohnt sie das Museum der Insel und meditiert, ganz dem Brennpunkt ihres eigenen inneren Lebens zugewandt, ernsthaft über das Wesen der Zeit.“

Das schöne Lindos – in den Fels gehauen das Heck eines antiken Kriegsschiffs. Und die Akropolis ein begehbares Palimpsest, umgeben von einem zeitlosen Basar. Auf einem Dach eine Ziege. Esel, die schmerbäuchige Touristen hinauftragen zu von den italienischen Faschisten rekonstruierten gigantomanischen Treppen. Sie scheinen in den Himmel zu führen, tun aber nur so. Vafanculo, Duce. Ein Eselsbahnhof. Und wenn du über die Mauerreste in die Tiefe blickst, sind überall zwischen den Olivenbäumen wilde Müllkippen. (Lindos, 15.10.)

Ich sah in Kalathos einen Olivenbaum durch einen roten Toyota hindurchwachsen.

Wie nennen die Rhodier den Schirokko?

Ob Anthony Quinn je gebadet hat in der Anthony-Quinn-Bay? Vielleicht zusammen mit Gregory Peck, als sie hier „Die Kanonen von Navarone“ drehten. Wann hat ihm die Militärjunta die Bucht geschenkt? Und hat er das Geschenk angenommen?

Wunsch, Hornisse zu sein.

Die englische Redewendung „It is just what it is“ – schön, auch weil darin ein Richtmaß schwingt: Es ist nicht mehr – aber auch nicht weniger! – als das, was es ist. Es ist gerechterweise das, was es ist. Es ist genau das, was es ist! Es ist einfach bloß so, wie es ist. So ist es nun mal!

Herbst auf Rhodos (2)

Hier heißt jeder Haartrockner gleich Elektra.

Im antiken Stadion schläft im Schatten der Bäume auf dem steinernen Tribünenoval eine Katze. In der 2000 Jahre alten Kampfbahn die Stille der applaudierenden Toten. Handtellergroße Echsen drücken sich flach an die Steine, an denen nichts mehr von Vertäfelung erzählt. Und die Katze wacht auf und geht auf Eidechsenjagd.

Wie lang ist es her, dass du zuletzt Lawrence Durrell gelesen hast? Unter Tränen seinerzeit „Das Alexandria-Quartett“ beendet. Von Durrell hast du gelernt (und es bei Camus bestätigt gefunden), dass es ein syntaktisches Licht gibt, luzide Sätze, ein Satzleuchten: „Die fliederfarbene Überflutung durch die Zyklamen hat eingesetzt“, schreibt Durrell im „Kurzen Blumen- und Heiligenkalender von Rhodos“ seines Buches „Leuchtende Orangen“.

Die Akropolis von Lindau?

50 Jahre alt musst du werden, um an einem Abend nach Sonnenuntergang das Meer violett zu sehen – die lilane See. (Rhodos, 14.10.)

Am Platz der jüdischen Märtyrer erinnert eine Stele in sieben Sprachen an den Julitag 1944, den der Deportation von 1602 Kindern, Frauen, Männern und Alten aus Rhodos und Kos in Nazi-KZs hoch oben im Norden: Polen. (Keine der Sprachen ist Deutsch.)

Wenn du über den Wipfeln der Benjaminbäume auf einer Dachterrasse sitzt, erscheint das Laub wie sehr hohes Gras. Denk du nur an Calvino …, während ein Schwarm Sperlinge herangerauscht kommt und, lautlos wie eine Handvoll Kiesel ins Wasser, eintaucht in die grüne Krone.

Herbst auf Rhodos (1)

Überall der übertünchte Verfall.

Der greise Grieche in seinem 40 Jahre alten weinroten Daimler, kriecht durch das Viertel, in dem er jedem Schlagloch einen Namen gegeben hat. Unter einem Riesenfikus parkt er seinen mühsam zusammengehaltenen Schrotthaufen und geht mit Tippelschritten eine Zeitung kaufen. In seiner seit vier Jahrzehnten stillstehenden Bürgermeisterwirklichkeit – wer bin ich da, ich Fremder am Straßenrand? (Rhodos-Stadt, 12.10.)

Schmuckläden mit Marmorfußboden. Zwischen den Geschäften, von genau derselben Größe, dachlose Ruinen, stinkend nach Pisse und Rattengift.

Über die blaue Ägäis kommt langsam eine blaue Autofähre und hält auf den Inselhafen zu – lebendiges Bild aus „Nie mehr Nacht“: Da fährt die „Kitty“!

Ein junger Mann mit langen, langen Gliedern, langem, langem Rumpf und sehr kleinem Kopf. Einer, der nicht lächelt. Ein junger Zentaur.

Im Dunst taucht am Nachmittag ein Gebirge aus dem Meer – die türkische Küste. Dort drüben fängt Asien an.

Drei Straßenhunde: ein großer, zotteliger Grauer, ein flacher, gedrungener Einäugiger und ein kleiner flinker Fleckiger – gemeinsam drehen sie im Park und auf den angrenzenden Plätzen ihre Runde. Reihenfolge immer dieselbe, Wege immer gleich, Trink-, Fress-, Schnüffelordnung die von gestern und allen Tagen. Sie tauschen Blicke. Sie warten aufeinander. Sie verstehen einander so wortlos wie blind. Jeder kennt sie. Sie kennen jeden. Es gab sie immer schon. Sie sind keine Hunde mehr. Sie sind der denkbar größten Freiheit sehr nah. Ihr wundervollen Geschöpfe.

Geräusche der Heimlichkeit

Nachdem das Tier am frühen Morgen einen jungen Zaunkönig gefangen und getötet hat, verkriecht es sich für sechs Stunden niedergeschlagen in einen dunklen stillen Winkel. Dann kommt es heraus, untersucht den Tatort und blickt lange aus dem Fenster, dorthin, wo der Vogel auftauchte und vielleicht wieder auftaucht. Das Tier ist bereit zu vergessen, bereit zur Wiederholung. Das Leben geht weiter, das Töten geht weiter, das Sterben geht weiter.

Sage und Schreibe

Im Zug herrscht der alte Mann seine Frau an, weil die vor Nervosität nicht stillsitzen kann. „Ach, halt die Backen“, sagt sie schließlich, nimmt ihren Koffer und stellt sich die letzte halbe Stunde vor Berlin an die Tür.

„In der Schale des Löwen“, sagt das Kind und zeigt auf die Milch für das Tier.

„… der Lärm frisst mir die Liebe auf … Ah, alle die Geräusche der Heimlichkeit, wo sind sie geblieben?“ Peter Handke

Die Starautorin, die bekannt ist als Rebellin und Rädelsführerin, hat ihren Verlag verlassen, weil der ihr nicht mehr genug zahlen kann für ihre Widerstandskunst. Viva Las Vegas!

Keiner will bleiben, aber genauso wenig will irgendjemand von hier verschwinden.

Gestern am Hamburger Hauptbahnhof: Kurden und „Salafisten“ droschen aufeinander ein. Und eine Machete, gut zum Kopfabschlagen, wurde sichergestellt. Und die Polizei setzte Wasserwerfer ein und drosch ordentlich mit. Ich wäre gern dabeigewesen und hätte mich totgelacht.

Oz

Aus dem Gedicht „Schnee“ von Ales Rasanau aus Weißrussland, übersetzt von Thomas Weiler:

(…)

Schnee, bist du aus der Unendlichkeit?
Aus der Vollkommenheit?
Aus dem Tod?

Alles, was wuchs, blühte und gedieh, alles,
was vergangen, was Erinnerung geworden war,
alles, was nicht wiederkehren kann, kehrte wieder
im weißen Schnee.

Die Umwelt hat eine weitere Umwelt,
die Dämmerung hat eine weitere Dämmerung,
das Schicksal hat ein weiteres Schicksal:

Schnee.

(…)

Der seltsame Chinese (des Schmerzes) mit langem silbernen Haar und langem schwarzen Stoffmantel, der mit winzigen Bewegungen um den Tisch seiner Landsleute herumtanzt, traurig lächelnd – Yang Lian.

Das dickliche Mädchen, das auf seinen Turnschuhtanzschuhen die Treppe hinabtänzelt, hat eine Zwillingsschwester mit Mongolinnengesicht, die in der U-Bahn zu den Fenstern hinausstaunt. (Alsterdorf, 1.10.)

Oz. Hamburg Letzte Woche ist der große alte Graffitisprayer Oz nachts von einer S-Bahn totgefahren worden wie eine Straßenkatze. Überall in der Stadt sind seine Smileys und Kürzel zu sehen, aber auch große Gemälde und Tag-Tableaus in fantastischen Farben – sie stehen nicht nur für sich und beileibe nicht für irgendeinen kruden Vandalismus, sondern bewahren auch Oz‘ Bewegungen durch Hamburg auf, sind ein Koordinaten-, ein Speichersystem und ein künstlerisches Kataster. Eine Anwesenheitskunst, die Freude am Vertrauten, das er sich in der Nacht erobert haben muss.

Wessen Bücher kann ich zwei Monate lang liegen lassen, und lese ich eines dann weiter, ist es so wie vor zwei Minuten unterbrochen? Merkwürdiger Peter Handke.

Vom Reden und vom Erzählen

Wenn du nicht von dir erzählst, was willst du erfahren, hm? Du erfährst doch nur dann von dir (und mir), wenn du erzählst!

„Kann ein Vergleich ,erscheinen‘? Ja doch: Nur so, kommt mir vor, ist er am Platz und es ist zumindest was dran an ihm.“ Peter Handke

Denk an Berlin: Nachts auf einem Dach sitzen, mit lauter jungen Leuten, die rauchen und trinken und klagen, dass sie schon 34 sind … „Hilfe, der Anfang vom Ende!“ – Nein, viel schlimmer: die Mitte der Mitte. (Und da hilft dir keiner.)

Während sie dir die Haare schneidet, erzählt die Friseurin von Key West, wo sie im Urlaub war. Sie erzählt von den Hunderten von Brücken, eine flacher als die vorige. Von dem Wasser zu beiden Seiten der Straße. Von der Farbe des Wassers in Key West erzählt sie, während sie in den Spiegel blickt.

Gefragt, ob er etwas über seine Inspirationsquellen sagen könne, antwortete Leonard Cohen – es war auf seiner „Bird On A Wire“-Welttournee, es ist 40, 42 Jahre her –, nein, dazu könne er absolut nichts sagen. Der Reporter (war er Deutscher?) fragte Cohen daraufhin, worüber er denn gern reden würde. Cohen sagte: Am liebsten würde er überhaupt nicht reden.

Das Brennstoffzellenpostauto

Die tiefschwarze Tätowierung auf dem Unterarm des australischen Dichters entstand, erzählt er, über einen ganzen Tag hinweg. Ein Maori-Hüne aus Neuseeland fragte ihn nach seinem Leben, Alltag, seinen Kindern, Frauen, seinem Scheitern, seinen Verletzungen und Freunden – alles findet sich wieder in den Mustern aus Tieren und Schatten auf dem Arm. (Berlin-Wilmersdorf, 18.9.)

Der Taxifahrer, der mich zum Haus des Rundfunks fährt, erzählt, eigentlich sei er Buchhändler – und legt mir Fontanes „Unwiederbringlich“ ans Herz.

Suppenwetter!

Alles, was du sagst, ist wahr, nur dir nie passiert.

Auf dem gepflasterten, wie spätmittelalterlichen Platz vor dem Salzhaus steht ein mächtiger Brunnen, ohne Figur, nur das Becken. Ein Junge planscht in dem seltsam hellblauen Wasser (wie in einem Traum), und auf die Frage, ob der Brunnen tief sei, springt er vom Rand, taucht und bleibt lange verschwunden (wie in einer Zeit aus Wasser). (Brugg, Aargau, 19.9.)

„Immer“, sagte sie, „immer sagst du immerhin!“ – „Immerhin“, dachte er. „Immerhin sage ich nicht ständig immer.“

Ein Mann steht auf dem Weg und hat den Kopf in einen hohe Hecke gesteckt, er raunt und murmelt, als ich vorbeigehe, er blickt mich an aus einem tropfnassen Gesicht, dann steckt er den Kopf zurück in die Hecke, und ich, voller Neid, gehe weiter, hinunter zum Fluss.

Egal ist bald vorbei.

„Das Brennstoffzellenpostauto?“ – „Ja, genau, und das Kind des Fahrers.“ – „Die Brennstoffzellenpostautofahrertochter?“ – „Sieht so aus.“

Dahintreiben im Eigenen

Im hinteren Teil des Hauses steht die Tür offen, darin zerschneidet der Schlachter ein großes Tier. Der Bus fährt um das Haus herum, und vorne stehen die Frauen im Laden und fressen. (Frankfurt-Seckbach, 12.9.)

Vor einem Laden, in dem sich der Preis der gewünschten Bücher nach dem Umfang bemisst, bleibt das Kind stehen, deutet auf das Geschäft und sagt: „Da! Ein Vater mit Papageigesicht …“

Tatsache, d. h. Oberfläche.

Im Reich des Erbes aus Rauch: im Raucherbereich!

„Immer hat sie Hunger, immer“, sagt ein Junge über ein Mädchen, das neben ihm steht und auf den Fluss blickt. (Fuhlsbüttel, 15. September)

Er möge die Ruhe, schreibt mir der Freund, der in Schweden lebt. Und dass er immer noch nichts verstehe. „So kann man noch einmal anders im Eigenen dahintreiben.“

Nanas Minze

In der Abendsonne treiben unter den Bäumen lauter gelbe Blätter auf dem Wasser – als hätte der alte Sommer die Haut abgeworfen und triebe davon. Es ist das Spätsommergefühl, das sich einstellt und deutlich von dem im Frühherbst unterscheidet – Wehmut (Sommerabschied), Demut (Herbsteinverständnis). Die Zeit zeigt sich. Das schreckliche Wunder Vergänglichkeit. (Fuhlsbüttel, 8.9.)

Der Wind in den Baumkronen erzählt, ja, aber nicht von sich. Dir erzählt er von dir.

Zurückgeschenkte Erinnerung: „Nanas Minze“ – schmeckender Name. So hieß das Kraut, der getrocknete Kräutertee, mit dem wir auf dem Schulhof den Tabak bestreuten, damit unsere Zigaretten rochen und schmeckten wie das unerreichbare Gras, das wir „Marie-Johanna“ nannten.

Das pummelige Mädchen, das traurig aus dem Zugfenster blickt, hat auf dem Busen seinen Namen stehen: Blume 2000.

Vergiss nicht die Schönheit der Absurdität.

Im Grunde eine Liebe wie zum Schreiben und Lesen, meine Liebe zu Hamburg.

Jede Straßensperrung ist ein Fest

Was wir alle am längsten beherrschen und am besten können: das Verbieten – ihr, ihm, ihnen, uns. Daher sind wir alle – du auch! – am schlauesten im Umgehen von Verboten.

Das Kind im Sand baut Berge, Wüsten, Türme, Vulkane, Schluchten, Straßen, Wolkenkratzer. Das Kind im Sand sagt: Ich baue Amerika. (Planten un Blomen, 3.9.)

„Please keep in mind to avoid foul language“ heißt es mit Hinweis auf jugendliche Leserinnen und Leser (die sich darüber schief lachen) von den Political Correctness-Heinis aus der europäischen Sicherheitshauptstadt London.

„Da, eine Blühbirne“, sagt das Kind.

Jede Straßensperrung ist ein Fest, der Leere und der Stille, und jede Sperrung einer Kreuzung eine neue Straßengattung.

„Haben Sie eine Nasenatmungsbehinderung?“

„Jetzt geht’s los!“ – „Let’s get lost!“

Meine Stimme ist nicht meine

Es geschafft haben … was denn? Geschafft? Doch nur sich abzulenken von der Angst.

In der U-Bahn, eine junge Frau, ein junger Mann, sehr unterschiedlich, anfangs fast stumm, finden zueinander, als sie entdecken (zufällig, im Gespräch, die Augen fliegen ihnen auf), dass sie beide je ein Paar Mississippi-Höckerschildkröten zu Hause sitzen haben.

Es gibt Menschen, denen liegt am Herzen, wie es dir (er)geht, und es gibt Menschen, denen liegt am Herzen, welche Auswirkung es auf sie hat, dass es dir so geht, wie es dir geht (was ihnen herzlich gleichgültig ist). (29.8.)

„… mit Permanent-Anfangsfinder!“

„Ihre Stimme ist nicht Ihre“, sagt die junge Ärztin (HNO) und hantiert herum mit ihren verchromten Gerätschaften. „Nach all diesen (falsch gesprochenen) Jahren müssen Sie herausfinden …“ – „… wie ich klinge?“ – „… wie sich Ihr Körper wirklich anhört, ja.“ – „Ja?“ – „Ja!“ – „Nein.“

Die beiden älteren Frauen, die bei jedem Wiedersehen neu die Gründung ihrer Freundschaft, ihres Befreundetseins feiern: das Erröten der einen aufgrund des Lobes der anderen. Und die sich immer weiter und tiefer entwickelnde Geschichte dieses Ur-Errötens, indem sie beide sich und aller Welt bei jeder Gelegenheit davon erzählen.

Aber die Wege

Im Treppenhaus der Radiologie-Praxis steht in einer Ecke ein See aus Erbrochenem.

Das 1. Hamburger Poesie- und Literaturfestival wirbt auf seinen Plakaten mit den Visagen von zehn abgehalfterten Schauspielern. Viva Las Vegas!

„Kein Wunder, dass wir zeitlebens versteinern“, schreibt ein Dichter in einem Kalender – und irrt gewaltig. Angesichts der Welt, ihrer Schönheit, ihres Reichtums, ihrer Widerständigkeit gegen den Tod, angesichts unserer Fantasie, der Liebe, der Kinder, der wundervollen Tiere – ist es ein Wunder (und eine Schande), DASS wir zeitlebens versteinern.

Über die Felder, durch den abendlichen Wald, das Gras, das herbstliche Laub an den Knicks. Disteln, Schnecken, deine Schritte, es scheint alles wie ehedem, vor 25 Jahren, als du täglich hier gingst.

Aber die Wege, die Ränder, die Schatten – erinner dich – stimmen nicht. Einmal mehr gehst du mehr in dir selber spazieren als dort, wohin du zurückzukehren versuchst. Du hast dich verirrt, mein Freund.

Da liegt im letzten Licht der Weg, den du gesucht hast: guter Weg! Ganz zugewachsen, ungefunden von den Golfplatzärschen. Wie oft du hier gingst! Und jetzt wieder. Noch immer am Leben. Lebendig. (Escheburg, 26.8.)

Carduus defloratus

Der Farnkundler, heute Chefsystematiker des Naturkundemuseums in B., ist mit einer Tomatenforscherin verheiratet. Als Junge, erzählt er, fuhr er auf dem Rad mit einer Distel, die größer als er selber gewesen sei, zu einem Professor an die Uni Bielefeld, um die Bahndammdistel bestimmen zu lassen, da sie ihm seinerzeit wie ein Fund, eine Distel vom Mars erschien. Und der Professor ging an ihm vorbei, schloss die Tür auf, deutete auf die stachlige Pflanze, die herabhing aus seiner Faust, und sagte: „Carduus defloratus.“

Ohrengel!

Die Reihe Pflaumenbäume zwischen den S-Bahngleisen – ich blicke in den Rest Sommerlicht, und mir ist nach Weinen zumute. Wie lange schon stehen die hier? Noch immer stehen sie hier!

Das fehlende Licht

Haltbarkeitsdauer einer Angelschnur aus Kunststoff – 600 Jahre.

„Weiße Weine jenseits aller Gleichgeschliffenheit“ verspricht das kleine Ristorante. (Portugiesenviertel, 20.8.)

„Jetzt erzähl, Alter! Hab grad eh nichts Besseres vor“, ruft der junge Stumpfsinnige in sein Handyfesthaltegerät und weiß nicht, wie lang sein Weg noch ist.

Früher mal ein alltägliches Bild, heute fast ein Wunder: Auf seinem Rad fährt ein Junge vorbei und hält am Lenker ein zweites, das ohne Fahrer neben ihm herfährt – sodass ich wie früher denke: Da fährt ein Unsichtbarer! (Und wie oft hast du das selber gemacht in fast 50 Jahren, ein zweites Fahrrad neben dir her balanciert: zwei Mal, drei Mal?)

Der Hustenengel

„Ein starker Körper für ein starkes Leben“, sagt der Pharmazeut mit schwacher Stimme.

„Zu Ende geht / das Geschehnis des Schattens. / Die Antwort der Landschaft / erwartet keine Erwiderung.“ W.G. Sebald

Nach vierwöchigem Husten der erste Traum, in dem ich nichts als huste. Der Hustenengel (mit langen rotgoldenen Haaren und dunkel lachenden Augen) kommt mich besuchen und sagt: „Ich kämme dir die Flimmerhärchen! Leg dich hin und ruh dich aus.“ (10.8.)

Die wichtigste, vielleicht die einzige Aufgabe: Die Angst muss aufhören.

Schrei, Kind

Da sehe ich ihn endlich: schwarzer Geist des Waldes, des Flusses und des Friedhofs, der Geist des S-Bahndamms und der alten Eisenbahnbrücke. Zwei Wochen lang schrie er in der Nacht und folgten ihm seine Kinder durchs Dunkel hinüber zu den Alsterauen. Uhu! Uhu! So groß, so schön, so schwarz, so still. (Vergiss die Welt ohne ihn.) Fliegt durch den Abend wie aus dem Leben hinüber ins Tote. Und fliegt wieder zurück. (1.8.)

Nach Richard Ford ist es „die Hingabe an die Sprache“, die eng verbunden ist mit „dem Stoff der Zuneigung, der die Leute dicht genug beisammenhält, um zu überleben“.

Es gibt ein Kind, das aus den ganzen „… sagt das Kind“-Einträgen rund um meine und andere Kinder herum entstanden ist – ein Kind, das es nicht gibt und nie geben kann, das aber zugleich immer bei mir ist und wahrscheinlich sogar ich selbst. (6.8.)

Du schaltest das Radio ein, und das erste Wort, das fällt, lautet „Terrormiliz“.

Ehe, Ende heillosen Eigensinns.

Das Schreikind auf dem Parkplatz, unter den Bäumen, es schreit die ganze Welt in Grund und Boden. Auch wenn es mir furchtbar auf die Nerven fällt – ich kann das Kind verstehen. Schrei, Kind! Schrei für mich mit.

Lies das nicht nur, mach es dir auch klar: „die Hingabe an die Sprache“, eng verbunden ist sie mit „dem Stoff der Zuneigung, der die Leute dicht genug beisammenhält, um zu überleben“!

Thymian und Majoran

Im Schatten der Ereignisse musst du segeln.

„Auf diese Art und Wiese“, sagt das Kind.

Nach Thoreaus Gedichten gefragt, sagte Emerson: „Thymian und Majoran sind noch kein Honig.“

„Komm! Und füg dich nicht.“

Die Vereinigte Staatssicherheit von Amerika

Schon viel

Den Kirschbaum untersucht.
Den weißen Holunder am Weg:
fünf Stengel, fünf Blütenblätter,
fünf Staubgefäße.
Schöne Genauigkeit, Schwester –
ich leg den Arm um dich.
Einmal am Tag
wirklich sehen.
Im Ungefähren
ist das schon viel.

(Rainer Malkowski)

Jachen Flünk

Der Junge aus Duisburg-Meiderich, dessen Gesicht und nackten Brustkorb und dessen Arme und Lächeln ich noch so deutlich vor mir sehe, als wäre er gestern und nicht vor 39 Jahren hier gewesen: „Markus von Düsburch“.

„De Landt Kercke“, die Landkirche, die für sich, ohne dass ein Ort sie umgab, auf den Feldern stand und dem späteren Ort, Landkirchen, den Namen gab, sie hatte drei Jahrhunderte lang keinen Glockenturm – wozu auch? Stumm stand sie da, unübersehbar, Sonntag für Sonntag, und unter der Woche Mahnung und Drohung. Es gibt in St. Petri sechs Logen, verzierte, mit Namen versehene und überdachte Hochsitzhäuschen zweimannhoch über den Bankreihen im Kirchenschiff, die von den betuchten Fehmaraner Familien nur von außen zu betreten waren. Es gab bis vor 150 Jahren eine hölzerne Galerie, die außen um das Kirchengemäuer lief und über Treppen den Zugang zu den heute zugemauerten Logeneingängen erlaubte. Seither stehen die Logen leer – die Zugangsstruktur weggebrochen, stehen die exklusiven Quasi-Gebetsbehälter leer. (Landkirchen, 23.7.)

Der Fehmaraner Winddämon „Möhln-Unspuck“ – der die Mühlen anspuckt.

„Jachen Flünk“ nannten die Fehmaraner die große Segelwindmühle von Lemkenhafen, „Jagende Flügel“. Wenn dort der Müller gestorben war, rief der Hauptgeselle nachts beim Mahlen in den Hauptmahlgang, den Husrump, hinein, sodass sich die anderen Gesellen und Lehrjungen die Mütze vom Kopf zogen: „Un ik will man Bescheed seggn, dat din Meister in de Ewigkeit weiht is!“ – und lass dir von mir ruhig gesagt sein, dass dein Meister in die Ewigkeit hineingeweht ist. (Lemkenhafen, 24.7.)

Sonderbar, dass Spitznamen, anders als Kosenamen, unabhängig sind von der Wortlänge. Ich kannte mal Einen, der wurde „Bruttoregistertonnen“ genannt; und ein anderer hieß für uns „Australopithecus afarensis“.

Von Bojendorf am nordwestlichsten Zipfel der Insel heißt es auf Fehmarn, dort hätten früher die Jungen des Orts jeden Abend die Sonne eingefangen und sie über Nacht in eine Scheune gesperrt.

Raps

Die weißgetünchte Steinscheunenwand ist in der Abendsonne gerade groß genug, um den Schatten des Nussbaums darstellen zu können.

Staberhuk, das Leuchtturmwärterhaus, in dem Kirchner drei Sommer lang vor hundert Jahren lebte und malte – gemeinsam mit seiner Freundin Untermieter der zehnköpfigen Leuchtturmwärterfamilie. Seinerzeit stand das Haus unmittelbar am Turm, ehe es abgetragen und 50 Meter weiter wieder aufgebaut wurde – ist es demnach dasselbe, 1914 und 2014? Schwalben sitzen an den Fenstersimsen, wie Fische an einem Walauge. (22.7.)

Die Veränderung, Ausweitung oder In-eins-Setzung der Perspektive, die Kirchner beim Malen vornahm, um Badende, Klippen und Turm eben noch glaubhaft gemeinsam ins Bild setzen zu können. „Die Dünen sind früher viel niedriger gewesen“, sagt das Kind.

Auf dem Bahnsteig des Fährbahnhofs erzählt mir ein alter Mann vom vermutlich russischen Abschuss einer malaysischen Passagiermaschine und dass dabei alle 300 Menschen an Bord umgekommen sind, erzählt mir davon sachlich, in Einzelheiten, mit eigener Einschätzung, ganz so, als wäre er eine lebendige Zeitung – so überrascht ist er, dass ich anscheinend nicht weiß, wie es seit drei Tagen um die Welt steht. (Puttgarden, 20.7.)

„Engagement“, sagt das Kind, „ins-Zeug-Legerei.“

Der Goldglanz auf den Stoppelfeldern am Abend, eine Kindheits-, eine Sommerkinderinnerung.

Wanderimker ziehen im Frühling über die Insel und stellen ihre Stöcke in die blühenden Rapsfelder. Trunken von der Überfülle an Gelb, sammeln die Bienen wochenlang nur mehr Rapsnektar, reinen Rapshonig.

Hier ist das Land so flach, heißt es auf Fehmarn, hier kann man am Mittwoch schon den Sonnabend sehen.

„Ab sofort“, sagt das Kind, „Dämonenkönig!“

Glück der Welt

Die Fehmaraner Wolken, die Sternbilder, die Stille.

Mit dieser Stille bist du allein – und begegnest darin dir selber wieder als Kind, der Junge, der hier zum ersten Mal das Glück der Welt angestaunt hat.

Die schlafende Frau, gelehnt an den Stein in der Sonne, den Kopf in der Armbeuge – schläft gar nicht, telefoniert. (Flügger Strand, 20.7.)

Drei Tage braucht der Mähdrescher, um das große Rapsfeld abzusäbeln und in schwarzes Puder zu verwandeln. Alle Wellen, die die Stürme der letzten Wochen dort hineinmodelliert haben, sind danach nur noch Stoppeln bis zum Horizont. Nachts bleiben die Maschinen und die Puderanhänger der Traktoren auf den Feldern stehen. (Sulsdorf, 22.7.)

20 Seemeilen weit ist der Petersdorfer Kirchturm zu sehen.

Denn hier ging Jimi … Die schmalen, kurvenreichen Wege durch die Felder, den Weizen, das Schilf, hin zur Küste, an den Steinstrand, lieblich, sanft, wahrlich „sweet“, und wie seltsam die Vorstellung, dass auch Hendrix hier war. And the wind cries Jimi.

Gespensternachwuchs

Im Freibad die beiden Kinder, die sich unterhalten, ohne miteinander zu reden, indem sie sich zuturnen. Der Junge schlägt Räder, das Mädchen macht Flic-Flacs, nur füreinander und sich selber. In sicherem Abstand staunend, mit vorsichtigem Stolz. Erst als sie erschöpft sind, kommen sie ins Gespräch. Und turnen dann gemeinsam durch den Sommernachmittag. (Farmsen, 12.7.)

„Sensation“, sagt das Kind, „kommt das von Sense?“

Immer wieder gibt es Kinder, die stehen auf einmal neben dir wie in Sekundenbruchteilen aus dem Erdboden gewachsen. Junge Geister … Gespensternachwuchs. Oder ist das eine kindliche Eigenart, Kinderart?

„Es gibt auch Stechmöwen“, sagt das Kind.

Entwischen

Erinnerung anhand (wie sonst?) einer arabischen Münze, die einer Zwei-Euro-Münze zum Verwechseln ähnelt („Weg damit“, heißt es im Laden): Der seinerzeit beste Freund und ich, wir brachten uns im Sommer vor 34 Jahren beutelweise Five-Pence-Münzen aus England mit, weil jede davon genauso schwer und groß war wie eine Mark. Was aber haben wir damit gemacht? Wir rauchten nicht und tranken nicht. Wir müssen versessen aufs Füttern von Automaten gewesen sein.

„Du solltest nicht auf mich bauen“, sagt er zu ihr. „Ich rutsche weg. Ich versinke. Schlage Haken. Entwische. Lande, fliege, schwirre ab in einem. Bin da. Bin dort. Bin weg. Bin immer bei dir und nie.“ — „Immernie? Das bricht mir das Herz“, sagt sie und lacht. Und er: „Ich brech dir dein Herz, und ich brech mir mein Herz. Ich sollte nicht auf mich bauen.“

„Strahlenparade“, sagt sie und meint damit das Lächeln-comme-il-faut allem und jedem gegenüber. Doch wer sie vor sich hat und wer ihr Lächeln sieht und sein Verschwinden, weiß, es stimmt, schon immer war es so, ja: Strahlenparade!

Jeden Abend Gewitter. Die abendlichen, die Abendgewitter. (9.7.)

Entwischen – in den Sommer. Entwischen – an die Luft. Entwischen. Hinein ins Licht!